Die lichten Sommer (eBook)

Roman. »So zart und sinnlich und zugleich so aufgeklärt hat hierzulande noch niemand von Vertreibung erzählt.« Daniela Dröscher
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2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Kjona Verlag
978-3-910372-20-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die lichten Sommer -  Simone Kucher
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Elisabeth - genannt Liz - wird Anfang der Fünfzigerjahre in einem kleinen Dorf in Süddeutschland geboren. Wie alle Frauen hier arbeitet auch sie schon als Jugendliche tagsüber in der Batteriefabrik. Wie niemand sonst ist sie das Kind von Geflüchteten, die nach Kriegsende als Deutsche aus der ehemaligen Tschechoslowakei vertrieben wurden. Während ihre Mutter Nevenka sich immer mehr in ihre Erinnerungen an die alte Heimat zurückzieht - an die widerspentig schöne Natur von damals, das eiskalte Wasser der Thaya und an eine schicksalhafte, zärtliche Freundschaft -, richtet Liz ihren Blick nach vorn. Aber wie schafft eine junge Frau den Aufstieg, wenn sie vollkommen auf sich allein gestellt ist. Noch dazu mit einer Last aus der Vergangenheit im Gepäck, von der ihre Mutter ihr nie gewagt hat zu erzählen.

Simone Kucher ist Theater- und Hörspielautorin. Für die Recherche zu dem WDR-Hörspiel »Von einem zum anderen Tag« ist sie 2016 erstmals in das südmährische Dorf ?eletice, den Kindheitsort ihrer Großmutter, gereist. Sie lebt in Berlin. »Die lichten Sommer« ist ihr erster Roman.

1


Den Weg von der Fabrik nach Hause geht Liz zu Fuß. Gerade hat sie an der Kreuzung das letzte der Mädchen mit einem fröhlichen »Bis morgen!« verabschiedet. Morgen früh wird es dort wieder auf sie warten, und an der nächsten Biegung das nächste Mädchen und dann das nächste. Seit drei Jahren laufen sie nun so jeden Tag zusammen durch die frische Morgenluft, eingehakt, noch müde schwatzend, bis sie das moderne dreistöckige Gebäude der Batteriefabrik erreichen, sie sich voneinander lösen und eine nach der anderen durchs schmale Gittertor schlüpft mit einem Gruß für den nickenden Portier auf den Lippen.
Innerhalb von Minuten wird die Batteriefabrik die jungen Frauen verschluckt haben, um sie acht Stunden später bei grellem Tageslicht wie eine prall gefüllte Bonbontüte mit den pinken Miniröcken, den zartgelben, grünen, violetten Blusen und den geflochtenen Sandaletten mit Korkabsätzen wieder auszuspucken, mit lautem Sirenengeheul.
»Bis morgen!« Diesen letzten Abschnitt bis zum Elternhaus geht Liz allein. Sie liebt dieses kurze Stück auf der einsamen Landstraße, mit offenem Blick über die Wiesen und Felder, in die hügelige Landschaft hinein. Die Geräusche der Maschinen, die Sirene, die Stimmen der Mädchen sind längst verklungen. Manchmal fängt Liz an zu summen, und wenn der Weg sich das längste Stück geradlinig vor ihr streckt, kann es sein, dass sie lauthals singt. Und sie sich vorstellt, dass sie alles sein könnte, und überall, denn so eine Art von Landstraße gibt es nun wirklich nicht nur einmal auf der Welt. Ob jetzt in Kentucky oder Hawaii, vielleicht mit anderen Farben und Gewächsen. Aber den Asphalt und die ausgefransten Schlaglöcher, denen sie geschickt ausweicht, so etwas gibt’s überall.
Zwei Schritte nach links, zwei kleine nach rechts, man könnte meinen, sie tanzt. Am liebsten würde sie die Arme ausbreiten und sich drehen, so leicht fühlt sie sich. Den Umschlag hält sie dabei immer noch unter dem Sommermantel versteckt. Damit nur keines der Mädchen sah, dass sie dort etwas hat.
Sie will noch gar nicht dran denken, was sie dazu sagen, wenn sie entdecken, dass Liz für etwas anderes bestimmt sein soll als das eintönige Einräumen der Regale und die Aushilfsarbeiten in der Fabrik.
Nun kommt die letzte Biegung und Liz kann schon das Haus ihrer Eltern sehen, das hier oben am Rand des Dorfes steht. Immer noch ein bisschen verlottert und schief. Ein Haus, das lange leer stand und in das sie nach dem Abbau der Baracken vor fünf Jahren eingezogen sind. Aber immerhin zweitstöckig mit viel Platz. Die Landstraße führt geradewegs an dem Haus der Eltern vorbei. Liz kann die Wiese sehen, die rechts vom Haus ins Dorf hinabfällt, mit dem kleinen Trampelpfad. Ein Traktor fährt mit ohrenbetäubendem Krach dort unten an dem Dorfbrunnen, der Kirche, der Bäckerei, dem Schlachter vorbei in einen Hof, hinterlässt Dreckklumpen auf der asphaltierten Straße. Hinter dem Dorf erstrecken sich Wiesen und Felder und der immer braungefärbte Fluss: im Frühling reißend und tief, mit schwimmenden Rattennestern an den Rändern, im Sommer flach und träge mit Moskitoschwärmen und grün-violetten Libellen.
Gut kann sich Liz noch an die Baracken dort unten am Fluss erinnern, wo sie geboren wurde und lebte, bis sie zwölf war, weil sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater zu den Flüchtlingsströmen aus dem Osten gehörten. Wie aus dem Nichts waren sie nach Kriegsende plötzlich hier aufgetaucht und hatten das Dorf in helle Aufregung versetzt, es plötzlich gesprächig und streitlustig gemacht:
Bei mir? Nie und nimmer zu mir. Ja, wenn’s denn aber sein muss. Wer sagt denn, das irgendwas muss! Und weil dann alle Zimmer in den Häusern der Dorfbewohner mit irgendwelchem Gerümpel und Personen vollgestopft waren und also wirklich beim besten Willen kein Platz mehr da war für so ein paar verlauste Flüchtlinge, wurden schnell ein paar Baracken gezimmert, unten am Fluss.
Und als sich die Flüchtlingsfamilien nach doch knapp zwanzig Jahren endgültig in die angrenzenden Dörfer und übers Land verteilt hatten, wurden eines lichten Tages die Baracken mit einer Planierraupe dem Erdboden gleichgemacht. Und wer sagt’s denn: Das Gras wuchs die Jahre danach ganz herrlich auf den Brachen und selbst die angrenzenden Maisfelder wuchsen genauso üppig wie zuvor.
Liz hat das Haus erreicht, schließt die Tür auf und nimmt jeweils zwei Stufen auf einmal bis zur Wohnung im ersten Stock. Sie hört ein leises Schnarchen und läuft auf Zehenspitzen in die Küche, legt den Mantel über den Stuhl und den leichten Umschlag mit dem einzelnen Papier vorsichtig obendrauf.
Nevenka sitzt aufrecht mit geschlossenen Augen auf der Küchenbank, den Mund leicht geöffnet, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Liz nimmt ihrer Mutter das Buch aus den Händen, klappt es leise zu und legt es weg. So etwas würde ihr selbst nie einfallen, sich einfach so mitten am Tag mit einem Buch irgendwohin zu setzen. Und auch nicht am Abend. Es gibt immer etwas zu tun, und wenn es nichts mehr zu tun gibt, fallen ihr die Augen zu.
Auf dem Küchentisch liegen die weißen Taschentücher zu einer Wolke getürmt.
Liz wäscht die Hände, schnappt sich die Schere und beginnt, eins nach dem anderen die Tücher voneinander zu lösen, sie zu falten, und stapelt sie dann auf die rechte Seite des Tisches. Flink arbeiten ihre Hände, selbst wenn sie mit den Gedanken noch in der Fabrik ist, in der sie, seit sie vierzehn ist, tagsüber arbeitet. Der trocken verbrannte Geruch der Batterien hängt ihr noch in der Nase, der sich langsam mit dem frisch gestärkten Weiß der Taschentücher vermischt.
Sie liebt diese mechanischen Verrichtungen, sie ist geradezu süchtig danach, dass ihre Hände von selbst die Dinge tun, die sie schnell gelernt hat, immerzu weiter schneiden und lösen und falten, und gerade heute ist sie besonders dankbar für diese Aufgabe, die sie der Mutter wie so oft am Nachmittag abnimmt. Geklopft hat ihr Herz ganz wild, als der Abteilungsleiter sie heute endlich in sein Büro rief und ihr den Vertrag in dem großen Umschlag über den Tisch schob.
»Hier. Wir haben ja schon darüber gesprochen. Es wird Zeit, dass Sie an Ihre Zukunft denken und eine Ausbildung beginnen.« Dem Abteilungsleiter war Liz irgendwann aufgefallen, weil sie die ihr aufgetragenen Aushilfsarbeiten in der Fabrik und ab und zu im Büro schnell und präzise erledigte und noch dazu so aufgeweckt und freundlich. Vertrauensvoll war sein kurzer Blick und bestimmt: »Wir brauchen jemanden wie Sie.«
So jemanden wie mich. Liz spürt, wie ihr die Hitze ins Gesicht zurückschießt. Sieh her, möchte sie am liebsten laut rufen und ihre Mutter wecken, so jemanden wie mich.
Viel zu rasch hat sie die Taschentücher auf dem Tisch gestapelt, sie in die bereitstehenden Kisten geordnet, zugeklappt und in die Ecke gestellt. Das Zuklappen der Kisten war einen Tick zu laut und schon zuckt die Mutter zusammen, greift sich an die Ohren und blickt erschreckt auf.
»Eliska«, lächelt sie, »du bist das.«
Nevenka wischt sich mit dem Handrücken den feinen Faden am Mundwinkel ab, beugt sich nach unten und zählt die Kisten. Sie runzelt die Stirn, konzentriert, dass sie ja keine Kiste doppelt zählt oder vergisst, und trägt die Anzahl in eine Liste ein. Liz geht zum Herd und denkt nur: Pfennigarbeit. Die Taschentücher schneiden, das macht die Mutter jetzt schon ein paar Wochen, davor waren es Kugelschreiber, die sie zusammensteckte, davor Schlümpfe, die es anzumalen galt, mit blauen Gesichtern und Beinen, winzigen roten Mündern, schwarzen Punkten und Strichen als Augen und Mund. Ein Heer fröhlicher Schlumpfgesichter, das dort an den Fensterbänken zum Trocknen stand. Lustig sah das aus und farbenfroh. Aber es durfte auch kein Fenster geöffnet werden. Nicht mal gekippt.
Liz weiß, dass ihre Mutter viel lieber weiter in der Batteriefabrik arbeiten würde, zusammen mit ihr und den anderen Frauen, aber Liz’ Vater hatte es ihr, seit sie die Gastwirtschaft hatten, verboten. »Wer soll denn das Essen kochen?« Aber dass Nevenka mit Heimarbeit und Kocherei nur noch zu Hause sitzt, daran hat er nicht gedacht. Keine Wege mehr, keine gemeinsamen Pausen, keine Luftveränderung. »Ich brauche Luftveränderung!«, schrie Nevenka irgendwann sonntags am Mittagstisch und rannte türknallend aus dem Haus. Liz’ Brüder blickten von ihren Tellern auf. Fritz fiel die Gabel aus der Hand. Micha lief der Mutter hinterher und blieb erschrocken vor der geschlossenen Haustür stehen. »Nun esst«, sagte der Vater, »die fängt sich schon wieder.«
Nevenka richtet sich auf, legt die Liste auf den Tisch und nimmt ihr Buch in die Hand.
»Wie war es heute?«
»Gut«, sagt Liz und steckt einen Finger in den Topf und leckt ihn ab.
»Hübsch ist das mit dem Knoten, deine Haare sind so schön dick.«
Liz dreht sich um. »Findest du? Aber ich hab sie doch immer so.«
»Kinnkurz würden sie dir auch stehen.»
»Hm, ja, vielleicht.« Liz sucht nach einer sauberen Gabel in der Schublade.
»Aber schneid sie ja niemals ganz ab. »
»Wie kommst du da drauf? Warum sollte ich das?« Sie dreht sich zu ihrer Mutter.
»Meine waren auch mal so«, sagt Nevenka. »Nicht so dünn wie jetzt. So lang und dick waren die mal. Zu Zöpfen geflochten. Aber viel lieber hätte ich sie offen getragen, oder vielleicht zu so einem Knoten gebunden, wer weiß?«
»Komm, ich mach’s dir«, sagt Liz vergnügt und geht mit tatkräftigem Lächeln zu Nevenka, greift schon in ihr feines, mit leichter Dauerwelle an den...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Altes Land • Annexion • Außenseiter • Bauer • Bayern • Dorf • Exil • Flucht • Flüchtlinge • Frauen • Fremd • Generationen • Heimat • Herkunft • Hitler • Identität • Krieg • Land • Migration • Milan Kundera • Mutter-Tocher • Pogrom • Prag • Sudetendeutsch • Sudetenland • Trauma • Vergangenheitsbewältigung • Verlust • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-910372-20-1 / 3910372201
ISBN-13 978-3-910372-20-7 / 9783910372207
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