Da waren Tage (eBook)

Roman

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491847-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Da waren Tage -  Luna Ali
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Luna Ali »Da waren Tage« - Das literarische Debüt bei S. Fischer Aras nimmt die syrische Revolution zunächst aus der Entfernung wahr, geboren in Aleppo, aufgewachsen in Deutschland, ist er 2011 im ersten Semester seines Jurastudiums. Doch mit der Entgrenzung der Gewalt in Syrien wird der Konflikt mehr und mehr zum Teil seines Alltags. Im Hörsaal und in der Ausländerbehörde, beim Praktikum in Jordanien oder als Gast einer politischen Talkshow erlebt er den Jahrestag der Revolution jedes Jahr aufs Neue als Wechselspiel zwischen Realität und Imagination. In ihrem eindrucksvollen Debütroman erzählt Luna Ali, wie sich die Ereignisse in Syrien in das Leben, das Handeln und die Sprache ihres Protagonisten einschreibt. Und so stellt »Da waren Tage« drängende Fragen über die Bedeutung politischen Handelns und kollektiven Begehrens in unserer Gegenwart.

Luna Ali, geboren 1993 in Syrien, studierte Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut und Anthropologie an der Universität Leipzig. Sie arbeitete als Autorin u. a. an Produktionen an den Schauspielhäusern Düsseldorf, Dortmund, Hannover sowie in Berlin. 2023 erhielt sie das Arbeitsstipendium für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung. Sie lebt mit ihren fünf Mitbewohner*innen in Berlin.

Luna Ali, geboren 1993 in Syrien, studierte Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis in Hildesheim, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut und Anthropologie an der Universität Leipzig. Sie arbeitete als Autorin u. a. an Produktionen an den Schauspielhäusern Düsseldorf, Dortmund, Hannover sowie in Berlin. 2023 erhielt sie das Arbeitsstipendium für deutschsprachige Literatur der Berliner Senatsverwaltung. Sie lebt mit ihren fünf Mitbewohner*innen in Berlin.

[...] zeigt hier ihr erzählerisches Können vielstimmig und subtil […] ein[en] Roman [...], der über sich selbst und über die syrische Revolution und deren Tragödie hinausweist.

[..] schafft Luna Ali einen ganz eigenen Sog und Zugänglichkeit, eine ganz eigene Versprachlichung.

[...] ein fulminantes Plädoyer für die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen. Stilistisch [...] ein äußerst vielfältiges Unterfangen. [...] eine anspruchsvolle, tiefgehende Leseerfahrung [...].

[....] vielschichtig und sprachlich außergewöhnlich [...].

Luna Alis Roman ist poetisch und formal innovativ.

2012 – Subjektivität würde voraussetzen, dass es ein Subjekt gibt


Umzingelt war das Haus. In die Augen schaute er seinem Vater, ein Schatten war da, Trauer vielleicht, er nickte seinem Vater zu, wie die Tür eingetreten wurde, hörten sie. Laute Stimmen, die Stimme seines Onkels, worüber sie sprachen, er verstand es nicht, verriet er sie oder versuchte er, Zeit zu gewinnen. An der Wand lehnte sein Vater, mit dem Rücken, er sah schwach aus, einen gestreiften Schlafanzug trug er. Um sich blickte Aras, klein war das Zimmer, ein kleines Zimmer, nach oben blickte er, kein Dach, die Sterne, über die Wand klettern, vielleicht könnten sie doch fliehen. Sein Herz, ein lautes Klopfen, sie waren da. Warum klopften sie? Auf einen Stuhl deutete Aras, den Kopf schüttelte sein Vater, sein Blick auf dem Stuhl. Ihn zurücklassen, musste er. Das Wissen darum warf Aras zurück, in einen Tunnel. Das Klopfen, gerade noch in ihm, wurde lauter, eine Sirene, eine Sirene hörte er, öffnete die Augen.

Aras trat aus einer Tiefe heraus, das Zimmer um ihn herum nahm Umrisse an. Die Umrisse, der alte Schrank von Rhea, die weiße Kommode mit seiner Kleidung, ein großes Fenster, die blauen Gardinen zugezogen, den Kopf drehte er zur Seite, der Nachttisch. Nach seinem iPhone griff er und schaltete den ersten Wecker aus, atmete durch, gegen seine Brust schlug immer noch sein Herz, den Kopf schüttelte Aras. Das Haus war ihm unbekannt. Wovor versteckten sie sich? An die Decke starrte er, weiß. Auf der frisch bezogenen Bettdecke lagen seine Hände, die Bettwäsche, sie war noch etwas steif, die Hitze spürte er aufsteigen, schob ein Bein zur Abkühlung unter der Bettdecke hervor. Es war acht Uhr morgens, in einer Stunde müsste er zum Hauptbahnhof fahren, um in einer Herberge, in einem Dorf zu sein, wo er bei einem Einführungsseminar teilnehmen würde, musste, denn um sein Studium zu finanzieren, hatte er sich für ein Stipendium beworben.

Zur anderen Seite drehte er sich, auf seinen zweiten Wecker wartend. Über der Bettdecke bewegte er seine Hand, den Schatten beobachtete er, den seine Hand auf das Weiß der Bettdecke warf, als würde er Tasten spielen, hielt inne, die Handbewegung verzögerte sich, dachte, ein Schatten ist kein Geist, was machte das für einen Unterschied, seine Finger tänzelten, das Licht, es veränderte sich, vielleicht verwies der Schatten auf das Leben und der Geist auf den Tod. Ein Geist geht um, Gespenst, das ergab keinen Sinn. Vielleicht war es doch umgekehrt, der Schatten, der Tod, der Geist, das Leben. Sie hießen nicht umsonst shabi7a, dachte Aras. Sein zweiter Wecker riss ihn aus seinen Gedanken heraus. Rhea lag neben ihm im Bett, er drehte sich zu ihr, ihre Hand streifte über seinen Arm. Sanft, streichelte sie seinen Arm, sagte: »Das heißt, wir müssen?« – »Schätze schon«, antwortete Aras. Einen Kuss gab er ihr, sie standen auf.

Rhea ging in die Küche, sie streckte sich, griff nach zwei Schüsseln aus einem Schrank, Müsli, Joghurt und begann, eine Banane zu schneiden, einen Apfel zu reiben, während Aras den Kaffee zubereitete. Auf Rhea ging Aras zu, nah, er legte seinen Kopf in ihren Nacken. »Komm schon! Vielleicht lernst du ein paar nette Menschen kennen«, waren ihre Worte. »Du bekommst richtig viel Geld von denen. Das sollte sogar für ein Lächeln ausreichen.« Mit seiner Schüssel und dem Kaffee ging Aras ins Wohnzimmer. »Lass uns in der Küche essen«, rief ihm Rhea hinterher. »Im Wohnzimmer, bitte«, antwortete er mit mitleiderregender Stimme. Sie setzten sich auf die Wohnzimmercouch und aßen. Da saßen sie, ihre Arme berührten sich, immer dann, wenn sie einen Löffel zu ihren Mündern führten, sie aßen. Mila lag in ihrem Körbchen, beobachtete die zwei. »Hast du schon gepackt?«, fragte Rhea. »Gestern«, gab Aras zurück. Da war sie noch arbeiten, im Café, wo sich ihr Mathematikstudium anders einsetzen ließ, um zu beeindrucken, das Vorrechnen gab mehr Trinkgeld.

Rhea lernte Aras bei einer Geburtstagsfeier in seinem ehemaligen Ruderverein kennen, an einem See. Sie hatte sich zu ihm an den Steg gesetzt, gemeinsam blickten sie auf die andere Uferseite. Es war kurz vor den Sommerferien gewesen. Aras hatte sie gefragt, ob sie wüsste, dass die Statuen auf der anderen Uferseite aus der Nazizeit seien. Er hatte bereits zu viel Erdbeerlikör getrunken, was öfter geschah, als er siebzehn Jahre alt war, seine Grenze hatte er noch nicht richtig einzuschätzen gelernt. Obwohl der Abend damit endete, dass sich Aras in den See übergab, waren sich beide trotzdem sicher, dass ein Wiedersehen unausweichlich war. Was ein Wiedersehen unausweichlich gemacht hatte, war, dass Rhea auf Aras’ Bemerkung hin genickt und ergänzt hatte, dass der See im Zuge einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme angelegt worden war, sie sei vor ein paar Jahren mit ihren Eltern in einer Ausstellung gewesen, der Künstler habe das Museum mit Schlamm gefüllt. Sie waren jung, in einem Alter, in dem derlei Aussagen einen verworrenen Lauf annehmen konnten, ein Alter, in dem jede neue Erfahrung das Herz rasen machte. Weil Aras auf Rheas Zukunftspläne, nämlich Mathematik zu studieren, nicht mit der üblichen Antwort begegnete, sie könne ihm Nachhilfe geben, sondern damit, dass Mathematik eine Philosophie sei, war die Sache auch für Rhea entschieden. Sie sahen sich wieder, und wieder, und wieder.

Sie selbst ruderte nicht. Sie spielte Fußball, surfte, wanderte, fuhr manchmal tagelang ein Rennrad, bestieg Berge, sie war durch und durch ein aktiver Mensch, und dafür hatte Aras mehr als Bewunderung übrig. Manchmal hoffte er, dass sich ein wenig von dieser Energie auf ihn abfärben könnte, nachts, während er neben ihr lag, dass er eines Morgens aufwachen würde und plötzlich diese Energie hätte. Stattdessen quälte er sich morgens aus dem Bett, immer schien ihm alles, als müsste er, ohne Eigenantrieb. Beiden war schnell klar, dass sie sich gefunden hatten.

»Ich werde heute zum Friseur gehen.« – »Schickst du mir dann ein Bild?« Rhea neigte den Kopf zur Seite, lächelte ihn an: »Vielleicht.« Sein Frühstück aß er, machte sich wieder in das Schlafzimmer auf, griff nach einer dunkelblauen Hose und einem schwarzen Pullover, zog sich um. »Geht das so?«, fragte er, stand vor Rhea im Wohnzimmer, sie nickte. Aras ging ins Badezimmer, nahm die Zahnbürste, Zahnpasta, putzte sich die Zähne, packte anschließend alles ein. Im Flur stand eine Kiste mit Flyern, sie erinnerte Aras daran, Rhea darum zu bitten, sie zu seiner Mutter zu bringen.

Die Flyer hatte er gestern drucken lassen. Neben dem Studium, seiner Freundin, der Familie, seinen Freunden, seiner politischen Arbeit, hatte er für seine Mutter die Demonstration zum Jahrestag der Revolution angemeldet, zu der er nun nicht einmal selbst gehen würde, hatte die letzten Wochen damit verbracht, ihr einen Lautsprecherwagen mit Generator und Soundanlage zu organisieren, den Aufruf übersetzt, an andere politische Gruppen gesendet und die besagten Flyer drucken lassen, es jedoch nicht geschafft, sie zu ihr zu bringen. Abholen konnte sie sie selbst nicht, dafür war die Kiste zu schwer. Er fragte eine Frage, von der beide wussten, dass es keine war: »Wenn du zur Demo heute gehst, kannst du die Kiste mit den Flyern mitnehmen?« Natürlich würde sie das tun, auch wenn Rhea kein politisch aktiver Mensch wie Aras war, so wusste sie, dass es ihn zumindest beruhigen würde, seiner statt hinzugehen. »Ich mache auch Fotos.« Glücklich über ihre Antwort packte er seine restlichen Sachen, Rasierer, Aftershave, Aufladekabel und Laptop ein, streichelte Mila in ihrem Körbchen zum Abschied, küsste Rhea und verschwand durch die Tür.

Der Wind war schwach, strich ihm über die Wangen, sachte. Der Himmel, blau. Die Sonne schien, ein guter Tag für eine Demonstration, dachte sich Aras, atmete durch. Rhea und Aras waren umgezogen, sie hatten die Wohnung einer Freundin übernommen, in einem Stadtteil, der für diese Stadt einen ungewöhnlich hohen Anteil an Altbauten beherbergte. Hier reihte sich die libanesische Imbissbude an die russische Änderungsschneiderei an den türkischen Gemüsehändler, zwischendurch ein spanisches Restaurant, ein Supermarkt, ein Bäcker und neuerdings auch Cafés mit veganem Frühstück.

Das erste Mal, als seine Mutter ihn bat, mit ihr in diesen Stadtteil zu fahren, um im Frauenzentrum nachzufragen, ob sie dort ihre Bilder ausstellen dürfte, regnete es, grau war es. Im Gegensatz zu ihrem Stadtteil, eine halbe Stunde entfernt auf der anderen Seite der Stadt, war die Straße hier voll von Menschen, trotz des Regens. Da war eine Frau gewesen, sie schob einen Kinderwagen mit der einen Hand und mit der anderen hielt sie einen Regenschirm, das zweite Kind hielt sich an ihrem langen schwarzen Kleid fest. Ein alter Mann mit einem Gehstock, in der anderen Hand eine Plastiktüte voll Gemüse. Er trug eine weiße Gebetskappe auf dem Kopf und jene Hosen, die seine Mutter als Bauernhosen bezeichnete, eine graue Leinenstoffhose mit reichlich Stoff zwischen den Beinen. In den fünf Jahren, die er damals bereits in Deutschland gelebt hatte, war dieser Anblick neu für Aras, ein Mann, der aussah wie einer seiner Onkel väterlicherseits.

An der Straßenbahnhaltestelle stand er, die Haltestelle säumte die Mitte einer Brücke, ein Fluss verlief unter ihr, die Gebäude drumherum zum Teil abgedeckt, weil sie renoviert wurden. In eine Imbissbude blickte Aras; ein Mann in einem roten T-Shirt, Hamid, wie Aras wusste, kam aus dem Libanon, Palästinenser. Dankbar war Aras Hamid, denn er hatte ihm nach fünf Jahren in Deutschland die erste Falafelrolle gemacht, und es war die köstlichste Falafelrolle, die er je gegessen hatte. Die Sehnsucht hatte jeden...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aleppo • Alltags-Rassismus • Anspruchsvolle Literatur • Ein Buch von S. Fischer • Familiengeschichte • Geflüchtete • Jura • Migrationsgeschichte • Seenotrettung • Syrien • Syrische Revolution
ISBN-10 3-10-491847-3 / 3104918473
ISBN-13 978-3-10-491847-1 / 9783104918471
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