Elyssa, Königin von Karthago (eBook)

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2024 | 1. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61480-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Elyssa, Königin von Karthago -  Irene Vallejo
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Als Elyssa, Gründerin und Königin von Karthago, auf eine Gruppe Schiffbrüchige trifft, erkennt sie im trojanischen Helden Aeneas, der aus seiner Heimat fliehen musste, ihr eigenes Schicksal. Unter der Regie von Eros entflammt eine Liebe zwischen den beiden, und sie träumen davon, Karthago in eine florierende Stadt ohne Gewalt, Niedertracht und Leid zu verwandeln. Doch die Götter haben andere Pläne und stellen Aeneas vor eine schwierige Entscheidung.

Irene Vallejo, geboren 1979 in Saragossa, studierte klassische Philologie an der Universität von Saragossa und Florenz. Dabei entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Antike. ?Papyrus?, ihr erstes Sachbuch, wurde in Spanien ein Bestseller, mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet und in 37 Sprachen übersetzt. Auch in ihren zahlreichen Auftritten als Gastrednerin und wöchentlichen Kolumnen in ?El País? berichtet sie über ihre Passion für die Antike. Sie ist Autorin von zwei Romanen und einigen Kinderbüchern und engagiert sich für soziale Projekte, die Kindern Kunst und Literatur näherbringen. Irene Vallejo lebt mit ihrer Familie in Saragossa.

Ich habe Angst. Ich will weg von hier. Ich will dieses hässliche Mädchen mit den knochigen Armen nicht sein.

Während der letzten Monde bin ich groß geworden. Ich strecke mich in die Länge, wie eine Weinranke strebe ich hinauf. Meine Beine sind viel zu lang, ich bin die Schwester dieser Vögel mit den roten Flügeln, die dem See seine Farbe geben, die Schwester der Flamingos. Wenn der Wind mit meinem Körper spielt und die Tunika anhebt, dann siehst du meine dünnen Beine und die dicken Knie. Immer weiter wachsen meine Knochen, entfernen mich von der Erde, ziehen am Fleisch, ziehen mich in die Länge, so, wie der späte Nachmittag meinen Schatten immer länger werden lässt.

Elyssa hat gesagt, bald kommt das erste Blut und dass ich nicht erschrecken soll. Ich weiß nicht genau, was sie meint. Wie kann sich mit einem Mal eine Wunde öffnen zwischen meinen Beinen, die nicht mehr verheilt? Und wenn ich erst mit meinem eigenen Blut befleckt bin, werde ich dann wissen, dass ich groß bin?

Vor den Fremden aber, die über das Meer gekommen sind, müssen wir keine Angst haben. Im Schutz der Menge beobachte ich den als Wolf gekleideten Mann und höre ihm zu. In der Sprache der Könige spricht er über Verrat und Flucht. Ich sehe seinen Rücken, seine dunkel angelaufenen, geschwollenen Hände in den verknoteten Seilen, die kräftigen Waden, die Narben an den Beinen.

»Der Sturm hat uns mitgerissen, Königin«, sagt der Gefangene. »Schiffbrüchige können sich den Ort ihrer Rettung nicht aussuchen.«

Von ihrem Pferd aus blickt Elyssa auf ihn herab. Sie spricht gerne von dort oben herab mit Männern. Man soll nicht vergessen, wie mächtig sie ist.

»Tapferer Aeneas«, sagt sie jetzt, und dabei wird ihr Lächeln wehmütig, und die Augen verdunkeln sich. »Auch ich habe meine Heimat verloren, den Ort, an dem ich geboren bin. Auch ich wurde verraten. Ich kenne diesen Schmerz und auch den Weg über das Meer und den sehnlichen Wunsch, eine neue Stadt aufzubauen. Dein Schicksal und meines gleichen sich.«

Die beiden sehen sich an.

Ein Stein sirrt durch die Luft und trifft einen der Gefangenen an der Schläfe. Der Aufprall ist hart, der Gefangene reißt an den gefesselten Händen, die er nicht zur Wunde führen kann, ballt sie zu Fäusten. Das Blut läuft ihm die Wange hinab, verzweigt sich, zieht die Fliegen an.

Die Rufe der Menge werden gellender und gewaltvoller.

Elyssa hebt die Hand, um die Menschen zum Schweigen zu bringen. Dann spricht sie in unserer Sprache zu ihnen.

»Tut ihnen nichts. Die Fremden sind keine Seeräuber. Sie sind Überlebende des Trojanischen Krieges und suchen ein Stück Land, das sie ihr Eigen nennen können. Denkt daran, auch viele von uns haben erfahren, was es heißt, verfolgt zu werden. Deshalb möchte ich die Trojaner bei uns willkommen heißen und ihnen Hilfe gewähren und Zeit für die Reparatur ihrer Schiffe. Solange sie bei uns sind, können ihre und unsere Schwerter sich vereinen, sollten wir bei Nacht angegriffen werden.«

Elyssas Worte treffen auf harte Augen, feindselige Gesichter, angespannte Körper. Niemand rührt sich, niemand gibt einen Laut von sich. Wenn jetzt einer den ersten Schritt tut, sich auf‌lehnt, dann revoltiert die ganze Meute. Dann schlagen sie auf die Fremden ein und hängen sie auf, treten auf die Wagen ein, erbeuten die Weinamphoren und fallen trunken unter den sanft in der Luft wiegenden Beinen der Gehängten in Tiefschlaf.

Ich weiß das. Ich habe diese Männer schon entsetzliche Dinge tun sehen. Schon mehrmals haben sie mir das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Ich halte die Luft an. Eingeschlossen in meiner Brust bebt mein Atem.

Ob ein knochiges, hässliches Mädchen sie aufhalten kann?

Ich mache ein paar Schritte nach vorne. Die Menge teilt sich. Mit lautlosen Schritten trete ich vor die Trojaner.

Als ich noch in Tyros lebte, nannten sie mich die Tochter der Magierin. Hier aber sagte Elyssa zu mir: Du wirst die Priesterin des Eschmun sein, das Prophetenmädchen. Doch werden sie mir auch glauben, wenn ich im Namen der Götter zu ihnen spreche? Oder werden sie mich verhöhnen und mit Steinen nach mir werfen?

Ich stehe in der Mitte des Platzes. Ich breite die Arme aus.

»Gastfreundschaft ist heilig«, sage ich, »auch die Götter preisen sie. Diese Männer stehen unter dem Schutz der Götter.«

Ich lege eine Hand auf den Arm des verletzten Gefangenen. Dann drehe ich mich um, damit alle meine dürre Gestalt sehen können und vor allem das schwarze Mal in meinem Gesicht. Mein Gesicht, das entstellt ist, seit ich aus dem Bauch meiner Mutter kam.

Meine Mutter habe am Feuer gesessen und Beschwörungsformeln gemurmelt, sie habe Tiere bei lebendigem Leib zerrissen und unter eigenartigem Gestöhne zu den Toten gesprochen, so erzählt man es sich. Wenn sie all das wirklich glauben, dann werden sie jetzt auch meine dunklen Mächte fürchten.

Wir sehen uns an, Angst gegen Angst. Ich fürchte mich vor ihrer Mordlust, sie fürchten sich vor der schwarzen Blume auf meiner Wange.

Noch einmal berühre ich die Wunde des Gefangenen, das blutverklebte Haar. Ich löse den Strick um seine bläulichen Hände. Ein paar Männer drehen sich um, binden ihre Maultiere los und gehen vom Platz. Weitere folgen ihnen. Die Zeit der Gewalt ist vorüber.

Elyssa steigt von ihrem Pferd. Mit ihrem Schwert löst sie die Fesseln der Gefangenen.

»Folgt mir zum Palast. Meine Sklavinnen werden euch ein Bad bereiten und neue Gewänder geben«, sagt sie, denn die Trojaner sind schmutzig und stinken.

Aeneas übersetzt ihre Worte für seine Männer. Während sie sich austauschen, reiben sie sich die Handgelenke und dehnen die schmerzenden Finger. Fliegen huschen über ihre Haut.

Der Platz hat sich unter halblautem Geraune schroffer Worte geleert. Die Wachen sind auf ihre Posten zurückgekehrt.

Elyssa kommt zur mir und nimmt mich an der Hand. Ihre Finger verschränken sich mit meinen. Ich würde sie so oft gerne umarmen, so, wie ich meine Mutter umarmt und mein Gesicht in den weichen Bergen ihrer Brüste vergraben habe. Aber dafür bin ich jetzt zu groß, deshalb bietet sie mir nur ihre Hand, ihre zarte Handfläche und unsere wie das Geflecht eines Korbes ineinander verschlungenen Finger sind meine Belohnung.

Ich war sehr mutig. Sie ist stolz auf mich.

Aeneas dankt uns, aber ich höre gar nicht richtig zu. Die langen Sätze in der Sprache der Paläste, die nur immer dasselbe sagen, langweilen mich. Doch dann dringt ein Wort zu mir vor, nach dem ich mich insgeheim sehne, seit wir aus Tyros geflohen sind, das magische, das geflügelte Wort: Sie sprechen von einem Kind!

»Königin Elyssa«, sagt Aeneas jetzt, »ich habe einen Sohn namens Iulus, er hat außer mir keine Familie und niemanden sonst, der ihn beschützt. Ich muss wissen, ob er den Sturm überlebt hat. Daher bitte ich dich um Erlaubnis, in den Wrackteilen meiner Flotte nach ihm zu suchen.«

Elyssa entflechtet den Korb unserer Hände und deutet auf den Palast.

»Komm mit mir«, sagt sie. »Ich biete dir ein Pferd und das Geleit meiner Männer, die mit dem Gelände vertraut sind.«

Ich begleite sie nicht zum Palast. Mit schlenkernden Armen lasse ich den Platz hinter mir.

Ein Kind! Allein der Klang des Wortes lässt mich vor Freude auf‌lachen.

Ich durchquere das Fischerviertel, wo die Netze zwischen den Häusern hängen wie tropfnasse Himmel. Es riecht nach Gewürzen, nach Küche, nach Meer. Ich mische mich unter die Sklaven und Wasserträger, die die Straßen erfüllen.

Ich kenne einen geheimen Ort, an dem die Flut die Reste gekenterter Schiffe ausspuckt. Vielleicht stoße ich ja dort auf die Gefährten von Aeneas, dem Trojaner. Ich muss unbedingt wissen, ob das Kind noch am Leben ist. Ich hasse diese kinderlose Stadt, diese Stadt, wo du keinen einzigen Alten findest, der mit eingefallenem Mund und schlaffem Hals ein altes Wiegenlied singt, diese Stadt, in der es keine Blinden gibt, keine Verkrüppelten, keine Menschen mit Mitgefühl. Ich hasse diese Stadt mit all den kräftigen Siedlern, die zusammen mit Elyssa auf der Flucht vor dem irren König in See gestochen sind. Niemand hier spielt, niemand hier sitzt am Feuer und erzählt alte Legenden.

Ich nehme den Uferweg. Die Palmen wiegen sich im Wind, in der lauen Brise, die feine Staubwölkchen aufwirbelt.

Die Frauen hier haben keine Kinder, sie verharren geduckt in rachsüchtigem Schweigen. Ich weiß noch genau, wie unsere Männer sie als Bettgefährtinnen entführten, erinnere mich noch genau an diese entsetzliche Nacht in Zypern, die Häuser in Flammen, die Väter und Ehemänner erstochen. Heute weben sie die Netze, diese Frauen, fertigen Sandalen, kochen Fisch, liegen in den Betten der Krieger und verfluchen sie im Stillen. Niemand beschützt mehr einen anderen mit der Wärme seines Körpers in der Dunkelheit der Nacht.

Ich streiche über meine Kette mit den Amuletten. Götter, macht, dass der trojanische Junge am Leben ist.

Mit langen Schritten und flatternder Tunika renne ich den Weg entlang. In der Ferne blöken die Schafherden. Ich lasse die Stadt, die Steinbrüche und die rötlichen Hügel hinter mir. Dann werde ich langsamer, ich habe keine Kraft mehr zu laufen. Fast schon gebe ich mich geschlagen, als ich in der Dunkelheit unter den Tannen an der Klippe den Widerschein mehrerer Feuerstellen ausmache. Der frische Geruch nach...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2024
Übersetzer Luis Ruby, Kristin Lohmann
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel El Silbido del Arquero
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 800 v. Chr. • Aeneis • Antike • Dido und Aeneas • Eros • Gründung Roms • Intrigen • Kriegerin • Liebesgeschichte • Moderner Klassiker • Nacherzählung • phönizische Prinzessin • Trojanischer Krieg • Tunesien • Vergil • weibliche Perspektive
ISBN-10 3-257-61480-2 / 3257614802
ISBN-13 978-3-257-61480-0 / 9783257614800
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