Und alle so still (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01338-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und alle so still -  Mareike Fallwickl
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Was wäre, wenn alle Frauen sich verweigern und in einen Care-Streik treten würden?
Ein großer feministischer Gesellschaftsroman über Widerspruchsgeist und Solidarität

An einem Sonntag im Juni gerät die Welt aus dem Takt: Frauen liegen auf der Straße. Reglos, in stillem Protest. Hier kreuzen sich die Wege von Elin, Nuri und Ruth.

Elin ist Anfang zwanzig und lebt mit ihrer Mutter in einem Wellnesshotel. Während des Lockdowns ist sie Influencerin geworden. Seither sieht sie sich mit misogynem Hass im Netz konfrontiert.

Nuri stammt aus prekären Verhältnissen, einen Schulabschluss hat er nicht. Nun versucht er, sich als Fahrradkurier, Bettenschubser und Essenslieferant über Wasser zu halten. Der Spätkapitalismus hat ihn fest im Griff.

Ruth ist Ende fünfzig, nach dem Tod ihres behinderten Sohnes hat sie wieder angefangen, als Pflegekraft im Krankenhaus zu arbeiten. Jeden Tag geht sie über ihre Grenzen, ihr Pflichtgefühl scheint unerschöpflich.

Es ist der Beginn einer Revolte, bei der Frauen nicht mehr das tun, was sie immer getan haben. Plötzlich steht alles infrage, worauf unser System fußt. Ergreifen Elin, Nuri und Ruth die Chance auf Veränderung?

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, lebt mit ihrer Familie im Salzburger Land. 2018 erschien Dunkelgrün fast schwarz. 2019 folgte Das Licht ist hier viel heller. Ihr Bestseller Die Wut, die bleibt war ein großer Erfolg bei Presse und Publikum. Die Bühnenfassung hatte im Sommer 2023 Premiere bei den Salzburger Festspielen. Mareike Fallwickl setzt sich für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen.

Ein großer feministischer Gesellschaftsroman über Widerspruchsgeist und Solidarität. Das Narrativ, dass Frauen einander die ärgsten Feindinnen seien, ist auserzählt. Zeit für neue Geschichten!

Freitag


ELIN


Das Schwimmen öffnet den Tag. Im Wasser sein jeden Morgen. Nur dann geht es, und fließend. Wird die Schwere an den Beckenrand gesaugt, bleibt da kleben. Elin setzt einen Fuß auf die Fliesen, spürt sie glatt und warm. Sie schaut auf die weiß geschrubbten Kacheln, die vier Stufen, die silberne Stange zum Festhalten, berührt sie nicht, schaut auf die bodentiefen Fenster, die beigefarbenen Liegen, die trüb durchsichtigen Plastikstreifen über der schmalen Schwimmverbindung nach draußen. In einer der Fugen ist ein kleiner Fleck, ein runder Tropfen, sie hat ihn dort hinfallen lassen vor ein paar Tagen. Lila Nagellack. Es ist ein Trostfleck, eine Versicherung. Dass es etwas gibt, von dem nur Elin weiß.

Das Schauen ist Teil des Ganzen, das Atmen auch. Die Luft gehört ihr, das Becken, der gesamte Pavillon. Wie makellos kann eine Wasseroberfläche sein. Der Chlorgeruch ist ihr Pawlow, die Muskeln entspannen sich, sie ahnen, was kommt. Nach Mineralien riecht es, nach dem Blubbern der Wassergeister, trägen Küssen, aufgeweichten Fingerkuppen mit Rillen und Hubbeln. Sie quellen nicht, sie schrumpfen, wie alles Schwere, Dunkle. Die Sonne ist um fünf Uhr aufgegangen, eine halbe Stunde später hat Elin sich aus dem Schlaf gestemmt mit dem Wissen, dass einer jetzt leise für sie die Tür aufschließt. Das Deckenlicht einschaltet und die Musik. Die sie noch nicht hören kann. Erst unter Wasser. Dass einer alles vorbereitet, die Tür anlehnt. Geöffnet wird das Bad in drei Stunden. Sie streift den Bademantel ab, lässt ihn fallen. Alles ist über Nacht getrocknet, jeder Abdruck nasser Zehen verblasst, sie darf die Erste sein, die Einzige.

Sechsunddreißig Grad. Eine Umarmung aus Wasser. Kein Unterschied zwischen ihrem Körper und der Flüssigkeit, die ihn umgibt. Jetzt lässt Elin die Luft aus den Lungen, geht langsam bis zur Mitte des runden Pools, lehnt sich zurück. Atmet ein, hebt die Beine, streckt die Arme aus. Und dann der Moment. Wenn das Wasser sie trägt, umfängt, hebt. Den Naturgesetzen zufolge sollte da kein Widerstand sein, sie sollte absinken, stattdessen bekommt sie eine neue Masse, das Wasser ist Elin und Elin ist das Wasser. Sie liegt, flach gestreckt und gerade, alles, alles in der Wärme, bis zum Haaransatz und zum Kinn, nur das Gesicht im Freien, die Nase zum Atmen, die Augen geschlossen. Sie bewegt sich nicht, sie wird bewegt. Die winzigen Blasen prickeln auf ihren Oberschenkeln, als würde es unter Wasser nieseln. Losgelöstheit.

Und eine feine Melodie, die erklingt, sobald die Ohren untertauchen, die ein Geheimnis ist, denen verborgen, die an der Oberfläche bleiben. Elin lässt die Lungen leer, solange es geht, sie ist ein treibender Körper, der nichts enthält, nichts kann und verschwindet. Wie es wäre, sich aufzulösen in dieser Umarmung, es bliebe nur Wohlgefühl. Zersetzt zu werden, eine Schicht nach der anderen, bis zu den Knochen, flockige, weiße Fetzchen. Die Geborgenheit ihr Grab.

Sie weiß, dass das Schweben nur bei Frauen funktioniert, hat es oft genug beobachtet. Wie sie verblüfft den Mund zu einem O formen, wenn sie es merken. Sich blinzelnd umsehen, ihren Partner darauf aufmerksam machen, ein ungläubiges Lachen in der Kehle. Und dann bricht ihnen der Blick. Spiegelt zuerst ein Erschrecken, weil sie nicht, wie tausendfach gelernt und erlebt, im Wasser untergehen, ist dann erfüllt von Erleichterung. Wie die Männer es auch versuchen und Luftblasen spuckend untergehen, weil ihr Körperschwerpunkt ein anderer ist, sie in der Mitte zusammenklappen, versinken. Manche von ihnen grinsen, andere geben den Frauen einen Schubs, damit sie sich den Kopf anschlagen, wieder andere verlassen den Pool. Für die Männer genügt das. Dass alle gesehen haben, wie instabil sie sind. Es gibt Frauen, die ihrem Mann dann schweigend nachgehen. Aber die meisten nicht. Die bleiben bei sich und im Schweben. Machen es wie Elin. Die Arme zur Seite, die Füße gestreckt, als lägen sie auf einer Matte, einem Boden, einem Bett. Und hätten einen Körper, der nicht muss. Nicht gehen, nicht nicken, nicht gefallen und dagegenhalten auch nicht. Schwerefrei ist er, normfrei, schmerzfrei. Und Elin glaubt, sie werden nicht mehr vergessen, dass dieser Zustand existiert. Auch sie würden zurückkehren jeden Morgen, wäre es möglich.

Ihre Mutter geht nicht schwimmen, nicht einmal spätabends, wenn niemand mehr da ist. Wahrscheinlich suggeriert das Im-Wasser-Sein Leichtigkeit und ein Bedürfnis nach Ruhe, und mit beidem will Alma nicht in Verbindung gebracht werden.

Elin stößt sich mit dem Fuß ab, sodass sie unter dem Plastikvorhang hindurch nach draußen gleitet. Es ist nachtfrisch, frühsommerklar, sie spürt die Sonne durch die geschlossenen Lider. Und außerdem Dankbarkeit. Allein zu sein. Unbesehen, unberührt. Thermalwasser ist ein Wunderwerk. Sie weiß, die Menschen im Ort haben es früher in Milchkannen von der Quelle nach Hause getragen. Von pH-Werten, Cortisolsenkung, Medizinpsychologie hatten sie keine Ahnung, aber dass es Gutes bewirkte, war ihnen aufgefallen, und sie badeten darin. Schwefel, Kohlensäure, Radon. Magnesium, Kalzium, Sulfat. Stärke, Schutz, Freiheit.

Elin stellt sich auf den Beckenboden, beide Füße gegen den Grund gedrückt, macht die Augen auf, streicht die nassen Haare zurück. Silbern sind sie gefärbt, weißblond, ohrenlang, die Stirnfransen sehr kurz, ein Rahmen, zackig gerade. Sie sieht das Bild vor sich, das sie abgibt, die Arme oben, die Hände an die Haare gelegt, den Blick in die Ferne gerichtet, Sonnenflecken auf ihren Schultern. Niemand fotografiert. Niemand klickt, likt, kommentiert. Das Smartphone hat sie noch nicht aktiviert. Aus der Leere, Wärme, Schwebe kommend, wird sie danach greifen, jede Daumenbewegung wird sie wieder anfüllen, schwerer machen, ihr wehtun, sie wird nicht alles lesen, aber genug.

Später.

Auch draußen auf den Freiflächen stehen Ruheliegen, dazwischen große Pflanzen, weiter drüben befinden sich die anderen Becken. Zwölf sind es insgesamt, es gibt Whirlpools, Sportbahnen und einen Kinderbereich, die Riesenrutsche, seichtes Babywasser. Hunderte Menschen schwimmen hier jeden Tag und tun dabei so, als würden sie die anderen nicht sehen, wollen sich im Gewusel die Illusion von Privatsphäre erhalten, manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass sie einander berühren, ein Bein streift ein anderes im Wasser, schnell schauen sie weg. Und unten, im SPA, kneten die Masseurinnen fremde Haut, tupfen die Kosmetikerinnen Cremes auf gerötete Nasen, umschlingen dellige Oberschenkel mit Folie. Die ganze Therme ein Fest der Körperlichkeit, ein Servierbrett, ein Wimmelbild, Menschen, Menschen. Die Haare haben und kleine Schnitte zwischen den Fingern, verhornte Stellen an den Fersen und schuppige an den Ellbogen. An denen gezupft und gezwickt und geschmiert wird, damit sie ansehnlicher werden, weil sie sich genieren im Schwimmbad, nicht einmal weglächeln lässt sich die Scham.

Elin hat sich hingestellt, um einmal noch zurückfallen zu können. Lose, im Sprudel, im fließenden Zustand. Dann muss sie hinaus. Zwanzig Minuten, heißt es, länger nicht. Weil die Haut aufnimmt, was unsichtbar durch die Moleküle wirbelt. Weil der Kreislauf sonst kracht. Oft hat Elin gedacht, sie widersetzt sich. Bleibt siebenunddreißig Minuten, eine Stunde. Immer aber sagt der Körper, genug. Sagt es sanft und bestimmt. Mit einem minimalen Schwindel, einem leichten Ziehen in den Kniekehlen, trag mich hinaus. Sie schwimmt zurück zur Treppe, zum Bademantel und zum Land, an dem jeder Schritt ein Gewicht hat und jedes Wort auch. Ein stummes Seufzen in ihren Muskeln, die sich nicht bewegen mögen, sie schüttelt die Finger, die an den Spitzen schrumpfen, sammelt die Gefühle ein, die Gedanken, die eigenen, die der anderen, greift nach dem Handlauf, kommt nicht hinaus ohne Stütze. Der Körper taucht auf, wird kalt am Hals und ist wieder

[christian557] Nichts dran an dir, eine mit so kleinen Titten wür-

abgetrennt, hat eine Grenze, ist lang und

[väterchenost] Wer will schon eine Giraffe fick-

schmal, hat manchmal keinen Halt, eine Birke im Sturm, biegt sich zu sehr nach links, nach rechts, immer ist etwas zu wenig und etwas zu viel, alle

[liebernicht] und was ist das für eine scheiß Frisur, dich kann man nur mit einer Tüte auf dem –

haben eine Meinung, 1,2 Millionen Follower, sie wirft den Bademantel über den Körper wie einen Rettungsring, schlüpft in die Schuhe, zieht die Kapuze über den Kopf, bis zu den Augen. Eine Höhle, eine kleine. Das Schwimmen hat den Tag geöffnet, und jetzt.

Jetzt ist er offen.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer presst sie die Backenzähne so fest zusammen, dass es knackt und blitzt, ihre Ohren noch verschlossen vom Untertauchen, das ergibt diese Innerlichkeit, jeder Schritt wummst. Sie ist eine Riesin, streift mit dem Kopf die Decke, die Arme so lang, sie könnte durch die Fenster hinaus das gesamte Gebäude umschlingen, sie ist endlos, laut, sie ist eine Erschütterung, ihre Beine hören nirgendwo auf. Das Wasser in der Dusche nieselt nicht und trägt nicht und heilt nicht, es ist...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anspruchsvolle Literatur • Bücher Frauen • bücher für frauen • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Care-Arbeit • Das Licht ist hier viel heller • Deutsche Literatur • Deutsche Romane • die bleibt • Die Wut • Dunkelgrün fast schwarz • Feminismus • Feminismus Bestseller • Feministische Literatur • Gegenwartsliteratur • Geschenke für Frauen • Gesellschafsroman • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Gesellschaftskritischer Roman • Gesellschaftsroman • Inklusion • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • kleine geschenke für frauen • Moderne Literatur • Moderner Roman • Prekariat • Romane für Frauen • romane neuerscheinungen 2024 • Roman Frauen • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-644-01338-1 / 3644013381
ISBN-13 978-3-644-01338-4 / 9783644013384
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