Die dünnen Götter (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
528 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28233-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die dünnen Götter - Aris Fioretos
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Große Literatur, die von allem erzählt, was das Leben ausmacht: von Draufgängertum und Verletzlichkeit, von Sehnsucht und Kompromisslosigkeit und von der Liebe ...
Ache Middler, ein Rockmusiker in seinen Sechzigern, lebt zurückgezogen in Berlin, als ihn der Brief einer sterbenden Frau erreicht. Jahre zuvor haben sie zusammen eine Nacht verbracht. Jetzt bittet sie ihn, ihrer gemeinsamen Tochter seine Geschichte zu erzählen. Ache blickt zurück: auf die Kindheit in Delaware und die trinkende Mutter, auf den Aufstieg im glamourös abgerissenen New York der 1970er, auf die ewigen Geldsorgen - und auf die drei Frauen, die ihn geprägt haben. Über Jahrzehnte verfolgt 'Die dünnen Götter' die Gegensätze eines Lebens: zwischen draufgängerischer Maskulinität und Verletzlichkeit, zwischen Unabhängigkeit und Liebe. Ein Roman, der im Rausch des Undergrounds pulsiert, elektrisierend und lässig melancholisch zugleich.

Aris Fioretos, 1960 in Göteborg geboren, ist schwedischer Schriftsteller griechisch-österreichischer Herkunft. Bei Hanser erschienen Das Maß eines Fußes (Essays, 2008), Der letzte Grieche (Roman, 2011), Die halbe Sonne (Prosa, 2013), Mary (Roman, 2016), Wasser, Gänsehaut (Essay über den Roman, 2017) und Nelly B.s Herz (Roman, 2020). 2010 hat Fioretos die erste kommentierte Werkausgabe von Nelly Sachs sowie eine Bildbiographie über die Autorin veröffentlicht. Für seine Übersetzungen - er übertrug u.a. Paul Auster, Vladimir Nabokov und Jan Wagner ins Schwedische - wie für sein eigenes Werk hat er zahlreiche Preise erhalten, darunter 2011 den Literaturpreis der SWR Bestenliste, den Kellgren-Preis der Schwedischen Akademie und 2013 den Großen Preis des Samfundet De Nio sowie 2016 für Mary den Romanpreis des Schwedischen Rundfunks und 2017 den Jeanette-Schocken-Preis der Stadt Bremerhaven. 2020 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Er schreibt regelmäßig im Feuilleton der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter. Seit 2010 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt; seit 2022 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Im Frühjahr 2024 hält er die Poetikvorlesungen in Frankfurt am Main. Aris Fioretos lebt in Berlin und Stockholm.

Wir wissen, dass es mit der Mutter begann. Dem Halbblut, das nur Knochen und Kanten war. Theresa Stern, Dichterin. Sie zog die Unterhemden aus, das eine weiß, das andere schwarz, indem sie mit den Händen über Kreuz den unteren Saum griff und sie sich über den Kopf zog. Der Slip folgte der Jeans. Kein BH. Aus irgendeinem Grund blieb ein Strumpf am Fuß zurück.

Dann stampfte sie so ungeduldig auf, dass der Wecker am Bett zu Boden fiel. »Aus, aus, aus«, keuchte sie, die Lippen auf denen von Ache, an seinem Gürtel nestelnd. Ihre Nägel waren kurz, vielleicht abgekaut. Und schwarz lackiert.

Zehn kleine Kohlestücke, hatte er in der Bar gedacht, wo sie tranken und über den Sternenhimmel sprachen, bis keiner der beiden mehr Lust hatte, sich etwas vorzumachen. Auf dem Weg zu der Wohnung, die sie sich von holländischen Freunden lieh — die Nacht war lau und feucht, die Bleibe lag über einem asiatischen Restaurant —, bat sie um eine Marlboro Menthol. Er fragte, wessen Erkennungsmarke sie um den Hals trage. Sie zog an dem Gummi, der ihr Haar gebündelt zusammenhielt. Lachend, die Zigarette zwischen spärliche Zähne geklemmt, schob sie den Arm unter seinen; Erklärungen könnten doch sicher warten?

In der dritten Etage schlug Theresa die Tür mit dem Ellbogen zu und zog in derselben Bewegung ihre Hemden aus. Ache bekam die Hose nur bis zu den Oberschenkeln herunter, als sie auch schon die Faust um seine Hemdbrust schloss und ihn an sich zog. Sie fielen auf die Matratze. Sie rücklings, er kam mit Hüfte und Brustkorb auf. Das Laken hob sich mit einem sanften Schock, ehe es landete — wie das Nachdenken, von dem keiner etwas wissen wollte.

Zwei Wesen, ruhelos vor Hunger.

Als Ache erwachte, stotterte irgendwo ein Belüftungsrohr. Er lauschte eine Weile dem unseligen, wenngleich vertrauten Lärm, rauchte mit Theresa neben sich. Sie schnarchte nicht, er hörte aber, dass sie atmete. Ruhige Atemzüge, friedvolle. Manchmal bewegte sich die Erkennungsmarke, die, wie sie ihm erzählt hatte, die ihres Vaters gewesen war. Sie war nach innen gedreht, der Name nicht lesbar. Eigentlich hatte sie bloß »der Alte« gesagt; das mit dem Vater hatte Ache selbst ergänzt. Ihre Augen flackerten unter dünner Haut.

Als er sich angezogen hatte, überlegte er, ob er Theresa wecken sollte. Stattdessen hob er den Wecker vom Boden auf. Die Batterie war herausgefallen; er verglich die Uhrzeit mit seinem neuen Handy und stellte ihn. 8:22. Sie hatten kein Kondom benutzt.

Eine Viertelstunde später schimmerten die Fenster auf der anderen Seite der Gracht unwirklich. Der Müll roch bereits, sein Kopf rauschte vor Müdigkeit. Verkatert ging er die Raadhuisstraat hinab zum Hotel. Nachdem er seine Sonnenbrille aufgezogen hatte, wandte er den Blick nach oben, zum wolkenlosen Himmel. Später erfuhr er, dass sich ein Fleck über den unteren Rand der Sonne bewegt hatte, dunkel wie geronnenes Blut, für das bloße Auge aber nicht zu erkennen. Da dachte er: ein bewegliches Einschussloch.

In der Bar hatte Theresa Gedichte rezitiert, während Ache sich an alte Liedtexte hielt. Als er ihr von seinem Traum erzählte, in der Musik aufzugehen, mit Knochen und allem, hatte sie die Nase gerümpft. Hohe Ansprüche. Sie selbst fand, seien »Kalk, Phosphor etc.« das Los des Menschen, reiche ihr das.

Kalk. Phosphor. Er mochte die Wörter.

Im Jahr darauf kam die Postkarte. Über der Briefmarke stand Hobo; die Druckerschwärze war verschmiert, der Rest unleserlich. Die Vorderseite zeigte einen gewaltigen Nachthimmel mit brennenden Krümeln. Der größte Stern, eigentlich ein Planet, war von einem holprigen blauen Ring umgeben. Copyright: Planetary Society.

Theresa hatte an die Plattenfirma geschrieben. Obwohl Ache seinen Vertrag gebrochen hatte, leiteten sie die Postkarte in einem Umschlag weiter. In Sorge, das Unternehmen beabsichtige, den Vorschuss zurückzufordern — er hatte den größten Teil ausgegeben —, ließ er ihn zwischen Schuhlöffeln und anderem in der Schublade des Flurtisches liegen. So ging er meistens mit Sorgen um: ignorierte die Bedrohung, bis sie vorüberging. Wenn er etwas benötigte, kitzelte der Puls an den Handgelenken. Aber erst als Why ihm eines Vormittags den Umschlag reichte, nachdem sie bei ihm übernachtet hatte, verschwand das Gefühl von Gefahr. Es geschah, bevor sie zusammenzogen. »Kommt mir für eine Mahnung nicht dick genug vor.« So erfuhr er, wie das Kind hieß.

Seine Tochter war am 20. März 2005 geboren worden — im Morgengrauen, drei Tage früher als ausgerechnet. In den Minuten nach ihrem ersten Schrei war sie 48 Zentimeter groß und wog 2860 Gramm. Eine Welt im Miniaturformat, schutzlos, aber intakt. Nach dem Gruß an Ache und Informationen über die Entbindung ergänzte Theresa: »Ich möchte nur, dass du es weißt. Mark, Knorpel, Blut — du bist überall in ihr. Das ist genug.« Unstete Buchstaben, mit Kugelschreiber geschrieben, blaue Tinte in den geschwungenen Bäuchen der gs.

Ache schämte sich, weil die Neuigkeit ihn nicht so berührte, wie sie es tun sollte. Er, den man einst den Eiskönig genannt hatte, lebte ein zurückgezogenes Leben; die Erleichterung war größer.

Danach verging die Zeit.

Elf Jahre später bekam Ache wieder Post, diesmal war der Umschlag dick und mit Luftpolsterfolie wattiert. Als er selbst so alt war wie seine Tochter jetzt, hatte sich etwas ereignet, was ihn hatte glauben lassen, er wäre unsichtbar. Hingerissen hatte er im strömenden Regen gestanden. Seine Lunge fühlte sich federleicht an, die Haut durchsichtig. Inzwischen war er sechsmal älter und wusste es besser. Dennoch kam es immer noch vor, dass er sich einbildete, unsichtbar zu sein. Die Umstände hatten ihn gelehrt, es war eine vorteilhafte Art zu leben. Die Sinne blieben empfänglich, aber wer Ache Middler war, spielte keine Rolle. Der Körper wurde zu Zellophan ausgedünnt. Er atmete frei.

Why hatte dieses Bedürfnis zu existieren, ohne zu sein, mit ihm geteilt. Einige Jahre vor der Verfinsterung, wie sie nannten, was geschah, als er ihr krank und betrübt von Amsterdam erzählt hatte, gestand sie, die gleiche Sehnsucht habe sie dazu getrieben, das Pulver zu rauchen, das auf der Alufolie über dem Feuerzeug blubberte. Ache wollte nicht, dass sie wieder anfing, weshalb es besser war, sie glaubte, die neue Sendung enthalte Fanpost. Als er den Umschlag aufgeschlitzt hatte, orange wie Feuer, seufzte er, manche Bewunderer kennten keine Grenzen. Kinderzeichnungen, echt jetzt?

Obwohl die Lunge erneut Probleme bereitete und Ache bei so einfachen Tätigkeiten wie dem Schnüren seiner Schuhe ins Schwitzen geriet, fühlte er sich endlich im Dasein geborgen. Die Wohnung, die Herr Deeb ihnen besorgt hatte, war das Beste, was ihnen passieren konnte. Seither stand er in der Schuld des Maklers, was Why nicht wusste, aber wenn er sein Versprechen hielt, würde sie es auch niemals erfahren müssen. Wenn er die Reise erst einmal gemacht hatte, die Deeb sich als Gegenleistung wünschte, wenn er aus der Hölle zurückgekehrt war — »über alle Meere und Berge hinweg«, wie es bei dem Dichter hieß, den Ache in seiner Jugend gelesen hatte —, würde die Situation sicher sein und seine Notlüge der Vergangenheit angehören. Endlich würde er aufatmen können.

Ache versteckte die Sendung unter den Zeitungen, die er im Arbeitszimmer aufbewahrte, er wusste nicht recht, was er mit einem Umschlag tun sollte, der zu brennen schien. Aus Sorge, Why wolle sich die Zeichnungen womöglich anschauen, überlegte er sogar, sie in den Müllcontainer im Hof zu werfen. Dann las er Theresas Begleitschreiben noch einmal. Sie flehte so eindringlich — »erzähl dem Mädchen zuliebe von dir, für später, wenn sie erwachsen ist« —, dass er nicht zurückrief, als Deeb Anweisungen auf dem Anrufbeantworter hinterließ.

Stattdessen schrieb er zehn, manchmal auch zwölf Stunden am Stück. Morgens ging er mit dem Tee ins Arbeitszimmer. Bevor Why ins Atelier verschwand, arrangierte er das Material für die neue Platte, es sollte ein Konzeptalbum werden; sobald die Tür ins Schloss gefallen war, zog er jedoch an den Computer um, den er übernommen hatte, als sie sich einen neuen gekauft hatte. Die ersten Erinnerungen stellten sich seltsam leicht ein, wie von selbst. Nach ein paar Tagen hatte er schon mehrere Dateien angelegt. Wenn er nicht sicher war, wie er in der einen weitermachen sollte, öffnete er eine andere und...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2024
Übersetzer Paul Berf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel De tunna gudarna
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 70er • Berlin • Geflüchtete • Great American Novel • Kunst • Liebe • Moria • Musik • Nachwende • New York • Patti Smith • Punk • Rock • Siebziger • Television • Underground
ISBN-10 3-446-28233-5 / 3446282335
ISBN-13 978-3-446-28233-9 / 9783446282339
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