Vor einem großen Walde (eBook)
464 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3125-6 (ISBN)
Vom intensiven Leben in einer gefährlichen Welt
Georgien, 2010. Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg bleibt Sabas Mutter zurück. Erst Jahre später hat sein Vater genug Geld, um nach ihr zu suchen. Doch in Tbilissi verschwindet der Vater, und auch der ihm folgende ältere Bruder. Nun ist es an Saba in das ihm unbekannte Land aufzubrechen.
Begleitet von den Stimmen seiner georgischen Familie folgt Saba den Hinweisen, die sein Bruder ihm hinterlassen hat. Graffiti, versteckte Notizen, ein Manuskript. Und eine Warnung: Kehre um! Wie im Märchen wird es lebensgefährlich für Saba. Er muss in das von Russland besetzte Südossetien reisen, durch einen großen Wald, der eine Grenze ist: zwischen Ländern, zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Leben und Tod.
Leo Vardiashvili ist in Tbilissi aufgewachsen. Als er zwölf ist, immigriert seine Familie aus dem postsowjetischen Georgien nach England. Er hat in London Literatur studiert und arbeitet heute als Steuerberater in Birmingham.
Wibke Kuhn (geboren 1972) übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Schwedischen und Englischen. Zu ihren Übersetzungen zählen zahlreiche Bestseller, darunter etwa die Romane von Stieg Larsson und Jonas Jonasson.
Ein kraftvolles Leseerlebnis, eine Geschichte mit einem alles überstrahlenden Glauben an verbleibende Inseln von Menschlichkeit.
»Ich lese gerade dieses Buch von Leo Vardiashvili (packt es aus ihrer Stofftasche und hebt es hoch). Er kam mit zwölf Jahren aus Georgien nach London und erzählt eine unglaublich dramatische Geschichte. Es ist etwas wirklich Schreckliches passiert, und trotzdem ist das Buch lustig und klug und leicht und hinreißend. Wenn man Leos Buch liest, fühlt man sich trotz dem Schrecklichen getröstet und lernt etwas über den Bürgerkrieg in Georgien, was ein Zeitungsartikel niemals ausdrücken könnte.« Zadie Smith NZZ am Sonntag 20231126
«Empfehlung!»
»Es ist ein großartiges, ergreifendes und mitreißendes Buch.«
»›Vor einem großen Walde‹ entfaltet einen erheblichen Sog und lässt mit Saba nur so durch die Seiten gleiten.«
»Ein unglaublich gutes Buch – mehr als lesenswert!«
»Ein überwältigender Roman. Voller Witz und tiefster Menschlichkeit. Ich habe geschluckt, gelacht, geweint. Die Reise in sein Geburtsland wird für einen geflohenen Georgier zu einer Odyssee. Wie er seine Familie zu retten versucht, hat mein Herz aufgewühlt, und ich wollte immer weiterlesen.«
»Das Herz der Vergangenheit wird aufgesprengt. Das Gefühl der Zugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit wird authentisch erzählt. Liebevoll und rau und komisch.«
»Ein Roman mit großer Sogwirkung, heiter und tiefgründig.«
»Ein überwältigender Roman. Voller Witz und tiefster Menschlichkeit.« Khaled Hosseini, Autor von »Drachenläufer«
»Romane wie dieser leuchten einem den Weg.« The Guardian
»Ein betörender Roman« The Sunday Times
1.
Wo ist Eka?
»Wo ist Eka?« Das haben wir bestimmt tausendmal gefragt.
Unsere Mutter ist geblieben, damit wir fliehen konnten.
Wissen Sie, der Krieg übertönt im Grunde alles. Tatsächlich werden Sie feststellen, dass eine Salve aus einer Kalaschnikow, die direkt in Ihrer Straße abgeschossen wird, fast alle anderen Sorgen verstummen lässt. Nachts hörten wir Gewehrschüsse, morgens sahen wir Metall in den Ritzen des Gehwegs blitzen, als wären aus den Wolken über Tbilissi Patronenhülsen geregnet. So weit klingt alles ganz machbar.
Doch wenn eine verirrte Panzergranate neben Ihrem Schlafzimmerfenster die Schallmauer durchbricht, weiterdröhnt und den Lebensmittelladen an der Ecke mitsamt der darüber lebenden Familie auslöscht, dann beginnen Sie, Pläne zu schmieden. Unsere Eltern, Irakli und Eka, planten unsere Flucht, vergiss die Scheidung.
Das Land zu verlassen bedeutete fragwürdige Bestechungsgelder, gestohlene Reiseerlaubnisse und gefälschte Bescheinigungen. Das Geld, das unsere Familie zusammenkratzen konnte, reichte kaum für einen Elternteil und uns Kinder. Eka hatte nicht mal einen Pass. Gemeinsam konnten wir also nicht ausreisen.
In der Zwischenzeit kam der Bürgerkrieg so richtig in Fahrt, Einschusslöcher an vertrauten Orten und in geliebten Menschen waren keine Überraschung mehr. Wir mussten gehen. Eka blieb, und wir flohen mit Irakli.
Und so wurden wir mutterlos, Sandro und ich. Ich war acht, und Sandro war zwei Jahre älter. In so einem Alter war der Altersunterschied ein ganzes Meer an Erfahrung. Trotzdem hatte Sandro keinen Schimmer, was es bedeutete, mutterlos zu sein, und ich erst recht nicht.
Als wir an den kapitalistischen Ufern des Vereinten Königreichs landeten, ertönten keine Fanfaren, und es gab auch keine Empfangszeremonie. Sie steckten uns ohne großes Federlesens in ein Flüchtlingsheim in Croydon. In dieser kalten Lagerhalle mit den Stockbetten, Gemeinschaftstoiletten und Essenmarken spukten nervöse Gesichter durch die Korridore.
Irgendwann schaltete tief in den Eingeweiden des Innenministeriums das Getriebe, ein Bildschirm erwachte flackernd zum Leben, wir bekamen unseren Flüchtlingsstatus bewilligt, und in unserer Akte wurde »Tottenham, N17« vermerkt.
In diesen frühen Tagen stolperten wir durch eine Stadt, die wir nicht kannten. Das Tottenham von 1992 war nicht das London, das wir uns vorgestellt hatten. Keine Zylinder, kein Smog, kein Holmes, kein Watson, keine Ladys, keine Gentlemen und kein Nachmittagstee. Zumindest nicht für uns. Wir lebten in einem anderen London. In unserem London fluchten und spuckten die Leute, tranken, stritten sich und lachten in gereizten Ausbrüchen. Sie sprachen auf seltsame Art, die wir nicht zu fassen bekamen. Sie gingen gebeugt unter dem Gewicht des Mäuler-die-gestopft-werden-Müssens, Rechnungen-die-gezahlt-werden-Müssens und Wie-viele-Tage-noch-bis-zum-Zahltag.
Unser Papa bewegte sich unter ihnen. Unser Irakli – ein Mann auf dem offenen Meer ohne Kompass. Auf der Suche nach einer Frau, die er zweimal verloren hatte. Das erste Mal bei einer Scheidung, über die niemand sprach und die uns geheimnisumwittert erschien. Und ein zweites Mal in einem Krieg, der sie in einem Atemzug wiedervereinte und trennte.
»Wo ist Eka?«
»Bald, Jungs. Wir bekommen sie schon zurück«, sagte Irakli immer wieder. Ein Versprechen, noch keine Lüge.
Er arbeitete sich krumm und lahm, um Eka aus dem Land rauszukaufen. Er pflückte Obst, strich Wände, stapelte Regale in Lagerhäusern, schwitzte und schuftete in namenlosen, fensterlosen Fabriken in ganz Nord-London.
Diese Arbeit laugte ihn schleichend, aber gründlich aus. Wir sahen zu, wie er sich aufrieb. Einmal schlief er bei Tisch ein, den Löffel fast am Mund. Wir lachten uns halb tot. Manchmal lacht man über etwas, nur um ihm seine Macht zu nehmen.
Es ist schwierig, Tausende zusammenzusparen, wenn man nur einzelne Pfund und Pennys weglegen kann. Noch schwieriger ist es, das Zusammengekratzte in ein brennendes Land zu schicken. Georgien fraß sich selbst bei lebendigem Leibe auf – es gab keine nennenswerten Banken, keine funktionierende Post. Und wer geflohen war, wollte nicht wieder hinfahren.
Doch irgendwie trieb Irakli einen Mann auf, der bereit war, gegen Bezahlung nach Georgien zu fliegen. Es war ein großer, dünner Mann mit ernsten Augen. Er sah aufrichtig aus und sagte die richtigen Sachen. Er hielt seine Zigarette genau richtig. Er aß unser Essen und trank unsere Getränke. Er nahm die für Eka gesparten Pfunde und Pennys und ging davon, nachdem er uns lächelnd die Hände geschüttelt hatte. Für eine Weile hörten wir auf, nach Eka zu fragen.
Ich kann mich nicht mehr an den Namen des aufrichtigen Mannes erinnern, ich weiß nur, dass er in meinen Träumen tausend Tode durch meine Hände gestorben ist. Eka hat das Geld nie bekommen, und wir haben den aufrichtigen Mann nie wiedergesehen. Irakli betrank sich, und wir hörten in unserem Kinderzimmer, wie er den Wohnzimmertisch zerschlug. Am nächsten Morgen war der Tisch wieder zusammengeklebt und Irakli in der Arbeit.
Seine Bemühungen, uns eine Mutter zu kaufen, wurden immer hektischer. Angespannte Telefonate, manchmal auf Georgisch, manchmal in gebrochenem Englisch, gedämpft von einer geschlossenen Tür, wurden oft jäh von Iraklis zornig dröhnender Stimme beendet.
Wir fanden sonderbare Hinweise im ganzen Haus. Das aus dem Anschluss gerissene Telefonkabel, ungewohnte Dellen im Putz, unters Sofa gestopfte Fetzen zerrissener roter Briefe von den Banken und feine Splitter von zertrümmertem, eilig zusammengefegtem Geschirr.
»Euer Papa ist eben ein Tollpatsch« war alles, was er sagte. »Ein furchtbarer, furchtbarer Tollpatsch.«
Wir verstanden es damals noch nicht, aber heute schon. Irakli versuchte alles, um Ekas Freiheit zu erkaufen. Und es gelang ihm nicht.
»Wo ist Eka?« Wir wollten nicht fragen, aber wir konnten nicht anders.
»Ich arbeite dran, Jungs.«
Ungefähr ein Jahr nach unserer Ankunft in London wurden wir eingeschult, und das kostete Geld. In dem Winter ging unsere alte Waschmaschine kaputt, und das kostete Geld. Irakli fiel ein Betonziegel auf den Fuß, und er konnte schlanke zwei Monate nicht arbeiten. Das kostete viel Geld. Ein paar Pfund schafften es zu Eka, aber nie genug. Die Dinge in Georgien kosteten nämlich auch Geld. Und so ging es immer weiter.
In den nächsten sechs Jahren verloren wir Eka Stück für Stück. Wir verloren sie an Gasrechnungen und Lebensmitteleinkäufe, an Bustickets und Federmäppchen, an Bücher und Schuluniformen.
Iraklis Versprechen gerannen langsam zu einer Lüge, bis wir eines sonnigen Januarmorgens den Anruf bekamen: Eka ist tot. Wir atmeten schuldbewusst einen kleinen Seufzer der Erleichterung. Jetzt brauchten wir nicht mehr zu fragen. Irakli konnte aufhören, uns Lügen zu versprechen.
Während wir uns langsam durch den klammen, schneelosen englischen Winter schleppten, drehte jemand bei unserem Vater den Lautstärkeknopf herunter. Manchmal trieb er ins Zimmer, schaute sich um und ging wieder hinaus, ohne etwas zu sagen. Er schaute fern mit abwesenden Augen, eine Tasse kalt gewordenen Kaffee in der Hand. Unser Geschirr blieb heil.
In diesem Winter alterte unser Papa vor unseren Augen um ein Jahrzehnt. Seine Haare wurden schockartig grau. Wir sahen ihn nie weinen, aber er rannte oft aus dem Zimmer, weil er plötzlich dringend etwas zu erledigen hatte.
»Bist du schon mal vom Blitz getroffen worden, mein Freund?«, fragte er jeden, den er damals traf.
Verrückter Osteuropäer, dachte derjenige dann beim fiebrigen Funkeln in den Augen unseres Vaters und dem Akzent, den keiner zuordnen konnte.
»Die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz getroffen zu werden, ist größer als die, einen Georgier außerhalb von Georgien anzutreffen.«
Vielleicht lachte derjenige dann aus Höflichkeit.
»Hab ich selbst ausgerechnet.« Er tippte sich an die Schläfe. »Du hast großes Glück, mein Freund.« Und dann glänzten seine Augen. »Aber auch sehr großes Pech.« Er wartete darauf, dass man ihn fragte, warum. »Weil die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen, viel größer ist. Du hättest Millionär werden können, mein Freund. Stattdessen hast du mich getroffen.«
Dann lachte er, laut und aus ganzem Herzen. Sein Gegenüber auch. »Komm, ich schenk dir ein Glas ein, zur Wiedergutmachung.«
Nach dem Anruf mit der Nachricht von Ekas Tod war es schwierig, die richtigen Worte zu finden, und noch schwieriger, sie laut auszusprechen. Also schlossen wir einen unausgesprochenen Pakt, unsere Mutter nie wieder zu erwähnen.
Dieser Pakt leistete uns elf lange Jahre gute Dienste. Doch im letzten Jahr begann Irakli, diese Absprache zu brechen. Dann sprach er über Orte, an denen er mit Eka gewesen war, die Parks und Cafés, in denen sie gesessen hatten, die Spuren und Wege, die sie durch Tbilissi gezogen hatten. Tag für Tag verlor er mehr Interesse an der Zukunft, während sich seine Augen mit der Vergangenheit füllten.
Er schaute sich oft Flüge nach Tbilissi an, buchte aber nie einen. Ein paarmal kaufte er ein Ticket, benutzte es dann aber nicht. Er packte...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2024 |
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Übersetzer | Wibke Kuhn |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Besatzung • Brilka • Brotkrumen • Erzähler • Exil • Familie • Flucht • Freundschaft • Gefahr • Gegenwart • Geheimnis • Georgien • Georgisch • Geschichte • Grenze • Hänsel und Gretel • Haratischwili • Kiew • Krieg • Leben • Liebe • Literatur • neuerscheinung 2024 • Osteuropa • Politik • Roman • Russland • Sohn • Suche • Südkaukasus • Südossetien • Tbilissi • Tiflis • Tochter • Umsturz • Vater • Verrat • Vertreibung • Wald • Widerstand • Wiedersehen |
ISBN-10 | 3-8437-3125-X / 384373125X |
ISBN-13 | 978-3-8437-3125-6 / 9783843731256 |
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