Segnungen -  Caroline Albertine Minor

Segnungen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61470-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
20,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Helena will ein letztes Mal ihren Vater besuchen und findet in Netes Hotel mehr als nur eine neue Aufgabe. Gedske droht durch den Verlust ihrer Tochter auseinanderzufallen und entdeckt auf einer Reise eine ungeahnte Kraft. Therese befreit gegenüber einer Pfarrerin ihre Liebe zu Aron, und Caroline erkämpft sich nach dem Unfall ihres Manns die zu sich selbst ... In diesen Erzählungen überfällt die Klarheit die Figuren mitunter oder reißt Gewissheiten ein, aber sie öffnet stets neue Wege.

Caroline Albertine Minor, geboren 1988 in Kopenhagen, ist Absolventin der Dänischen Akademie für Kreatives Schreiben (Forfatterskolen). Ihr Erzählungsband ?Segnungen? war für den Preis des Nordischen Rates nominiert. In Amerika wurde eine der Geschichten mit dem renommierten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher erscheinen in mehreren Sprachen. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.

Caroline Albertine Minor, geboren 1988 in Kopenhagen, ist Absolventin der Dänischen Akademie für Kreatives Schreiben (Forfatterskolen). Ihre Kurzgeschichtensammlung ›Velsignelser‹ war für den Preis des Nordischen Rates nominiert. In Amerika wurde eine der Geschichten mit dem renommierten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. ›Der Panzer des Hummers‹ wurde sowohl von der Presse als auch vom Buchhandel wärmstens aufgenommen und wird in mehrere Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.

Lange verstand ich nicht, was sie sagte. Ihre Stimme klang wie aus weiter Ferne, als würde sie mir über ein windiges Feld etwas zurufen. Es brauste und toste an ihrem Ende der Leitung.

Entschuldigung, sagte ich und knipste die Lichterkette an, wer ist denn da?

Hier ist Nete, antwortete sie. Helena, bist du’s?

Ich hatte Nete bisher nur einmal getroffen, an meinem achtzehnten Geburtstag vor fast zehn Jahren. Damals hatte sie einen Hosenanzug getragen, und die beiden waren früh gegangen, weil Nete ihre Allergietabletten vergessen hatte.

Ja, sagte ich.

Dein Vater ist im Krankenhaus.

Ich setzte mich auf, meine Hände waren weich vom Schlaf. Sie sagte noch etwas, das in einer Welle aus Lärm unterging.

Ich kann dich kaum hören, sagte ich, darf ich mit ihm sprechen?

Er ist nicht hier.

Dann wurde es um sie herum still. War sie hineingegangen? Ja. Das Geräusch einer Tür, die geschlossen wurde, Schlüssel, die auf eine harte Fläche geworfen wurden, Schritte, noch eine Tür.

Er ist nicht hier, wiederholte sie, und jetzt, wo ich mich nicht mehr anstrengen musste, um sie zu verstehen, fiel mir auf, wie erschöpft sie klang.

Er liegt im Krankenhaus in Limoux. Hallo, bist du noch da?

Ja.

Glaubst du, du könntest kommen?

Nach Frankreich?, fragte ich dämlich.

Nach Belvianes, ja. Glaubst du, das könntest du machen?

Mein Vater war mein ganzes Leben fern gewesen wie ein Planet, und weder ich noch meine Mutter hatten etwas unternommen, um ihn von seiner Umlaufbahn abzubringen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, ging er ins Ausland, und nicht viel später heiratete er Nete. Seither verbrachte er die meiste Zeit des Jahres in einem Haus in der Nähe von Carcassonne in Südfrankreich. Das Haus hatte einen großen Garten und lag einige Kilometer außerhalb des Dorfes Belvianes-et-Cavirac mit seinen Märkten und schattigen Plätzen. Ich stellte mir vor, dass er in einem Straßencafé auf einem dieser schattigen Plätze seine Postkarten an mich schrieb. Abgesehen von den üblichen Phrasen stand darauf nicht viel, aber ich freute mich über sie. Jeden Sommer verbrachte mein Vater ein paar Wochen in Dänemark, die für praktische Angelegenheiten vorgesehen waren, und ich holte ihn nie vom Flughafen ab, weil ich mir sicher war, dass es ihn nicht freuen würde. Ein- oder zweimal während seines Aufenthalts trafen wir uns im selben Restaurant zum Mittagessen. Anschließend hatte ich das Gefühl, mit einem fremden, aber freundlichen älteren Herrn Smalltalk geführt zu haben.

Wenn ich meine Mutter früher fragte, warum sie nie zusammengezogen waren – oder wenigstens den Versuch unternommen hatten –, zuckte sie nur mit den Schultern und antwortete, es seien andere Zeiten gewesen. Andere Träume. Ich wollte ein Kind, sagte sie, und bekam eine Tochter mit einem guten und verlässlichen Mann – hätte ich da mehr von ihm verlangen sollen? Was hätte ich mir außer dir noch wünschen sollen? Es war nie vorgesehen, dass mehr daraus wird.

Als sie sich kennenlernten, war mein Vater für kurze Zeit mit einer Frau zusammen, die in der Sozialistischen Partei war und neu gewählte Schatzmeisterin des Chilekomitees. Um seine Gleichgültigkeit nicht allzu deutlich zur Schau zu tragen, begleitete er sie hin und wieder zu den Treffen, ohne zu verstehen, worum es ging. Politik interessierte ihn nicht. Ihn interessierte der Körper, der geheimnisvolle Körper. Infektionen und Erbkrankheiten und deren Behandlung. Eines Abends, als er wieder einmal ungeduldig bei einer solchen Versammlung in einer Turnhalle saß, an seine Arbeit dachte und sich nach den desinfizierten Flächen seines Labors sehnte, erblickte er meine Mutter. Sie saß aufrecht in der Reihe vor ihm und der Schatzmeisterin, und obwohl es Mitte August war und viele längst ihre Schuhe abgestreift hatten und sich mit dem Parteiprogramm Luft zufächelten, nahm sie zu keiner Zeit ihre Pelzmütze ab.

Sie war zweiundzwanzig Jahre jünger als er, und noch bevor ich fünf Jahre alt wurde, war mein Vater ein alter Mann. In meiner Kindheit besuchte ich ihn nur in der Klinik. Dann setzte meine Mutter mich in seinem Büro am Institut für Infektionsmedizin ab und holte mich ein paar Stunden später wieder ab.

Als er zu Dänemarks erstem Professor für Tropenmedizin berufen wurde, war meine Mutter großmütig genug, mich an der Zeremonie teilnehmen zu lassen, die sie persönlich für elitär und anachronistisch hielt. Ich saß in einem neuen, chinesisch angehauchten Kleid, das unter den Achseln spannte, in der ersten Reihe und klatschte, wenn die anderen um mich herum klatschten, während ich teils fürchtete, teils auch hoff‌te, man würde mich mit ihm auf die Bühne bitten. Beim anschließenden Festessen saß ich neben einem schwedischen Herzchirurgen, der mich aus seinem Weinglas trinken ließ und fragte, ob ich schon mal einen richtigen Freund gehabt hätte, und der später, viel später, mit den Lippen an meinem Ohr flüsterte, die Aufmerksamkeit meines Vaters könne man nur erlangen, indem man mit einer sehr seltenen Infektion ins Krankenhaus kam; jetzt wusste ich es also.

Nete wartete an der Bushaltestelle auf mich, ich hätte sie nicht erkannt, aber sie stand als Einzige dort. Es regnete, und sie bot mir einen Schirm an. Wir gingen hintereinander die menschenleere Hauptstraße entlang. Vier Monate im Jahr sei das Dorf voller Leben, erklärte sie, bei den Gästen handle es sich überwiegend um französische Großstädter; sie reinigten ihre Lungen mit der klaren Luft der Pyrenäen, ehe sie Anfang September wieder zurückkehrten. Im Winterhalbjahr erhole sich Belvianes dann, genau wie andere Orte dieser Größe, vom hektischen Sommer – das Dorf ziehe sich zurück und kümmere sich um seine festen Einwohner mit ihren Blessuren und Todesfällen und Scheidungen. Sie selbst war vor über fünfundzwanzig Jahren mit ihrem ersten Mann hergekommen. Als sie gehört hatte, dass ein anderer Däne, ein pensionierter Arzt, ein Haus im Dorf gekauft hatte, war sie wütend geworden. Sie habe den Ort für sich allein haben wollen. Nete war jünger als mein Vater, ohne dass ich genau sagen konnte, wie viele Jahre es waren. Jetzt, da sie vor mir ging, erinnerte ich mich lediglich daran, dass sie damals freundlich und sehr gewöhnlich ausgesehen hatte. Ihr Gesicht gab keine Antwort darauf, warum mein Vater ausgerechnet sie gewählt hatte.

Hier ist es, sagte sie. Die frisch gekalkte Fassade lag an der Hauptstraße, auf einem Schild über der Tür stand Hôtel Nostalgie.

Anfangs hatten wir im Winter geschlossen, mein Exmann meinte, es würde sich nicht lohnen, in der Nebensaison zu öffnen, aber jetzt bestimme ich. Und zwischendurch kommt doch immer mal jemand, der ein Zimmer benötigt. Menschen, die Zeit zum Nachdenken brauchen, Künstler, Leute, die einen Neuanfang planen. Sie bleiben länger als die Sommergäste, manchmal sogar Monate. Dann mache ich ihnen einen guten Preis.

Ich lauschte ihrer Stimme und den Tropfen, die auf den gespannten Kunststoff‌ des Schirms fielen, plack – plack – plack.

Ich habe unser bestes Zimmer für dich hergerichtet, sagte sie und schob die Tür auf, die nicht abgeschlossen gewesen war.

Trotz der einsetzenden Dämmerung wirkte das Zimmer hell. Das Bett erinnerte an einen Schlitten, in der Ecke stand ein schwarzlackierter Schaukelstuhl. Nete trat ein und knipste nacheinander die Lampen an.

Jetzt lasse ich dich erst mal in Ruhe ankommen, sagte sie.

 

Ich packte auf der Patchwork-Tagesdecke meine Sachen aus, es sah nicht üppig aus; Klamotten für ein paar Tage, Kosmetikartikel und der Roman eines Freundes, durch den ich mich bislang vergeblich hindurchzuquälen versucht hatte. Soweit ich es beurteilen konnte, war das größte Problem, dass er im Grunde von nichts handelte. Ich betrachtete das Autorenfoto, er fehlte mir. Wenn ich wieder zurück war, würde ich ihn auf ein Bier einladen und etwas Nettes über das Buch sagen, und anschließend würde er nach meinem Vater fragen. Die Leute fragten immer nach meinem Vater. Vielleicht hätte ich ausnahmsweise etwas zu erzählen.

Du solltest fahren, weil du es willst, hatte meine Mutter gesagt, als sie am Abend vor meiner Abreise mit etwas zu essen vorbeigekommen war, und die Erwartungen so niedrig ansetzen, dass du nicht enttäuscht wirst. Dein Vater hat noch nie jemand anderen gebraucht, ich wüsste nicht, warum sich das geändert haben sollte, nur weil er krank geworden ist.

Ich tue es vor allem ihr zuliebe, sagte ich und meinte Nete.

Meine Mutter zuckte die Achseln und begann, die Kürbissuppe aufzuwärmen, die sie in zwei Gefrierbeuteln zu mir transportiert hatte.

Nach meinem Vater hatten die Männer in ihrem Leben nicht viel Raum eingenommen. Ich erinnere mich an Tage, an denen morgens fremde Schuhe im Flur standen, ich wusste noch, dass ich lächelnd einem Per, einem Johannes und einem Baart die Hand gegeben hatte. Sie durf‌ten nie lange bleiben, und falls meine Mutter ihnen nachtrauerte, zeigte sie es mir gegenüber nicht.

Ich stellte meinen Kulturbeutel auf das Bord über dem Waschbecken und räumte meine Sachen vom Bett in die Kiefernholzkommode, wo sie gerade einmal den Boden einer Schublade bedeckten. Durch mein Fenster konnte ich in das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite sehen. In einem der Zimmer wurde die Deckenlampe eingeschaltet und kurz darauf wieder aus. Unter mir ging Nete auf und ab, während sie telefonierte. Ihre Stimme klang ruhig und alltäglich, beinahe munter.

Um acht zog ich mir einen zusätzlichen Pullover über und ging...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Übersetzer Ursel Allenstein
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dänemark • Ehrlichkeit • Erzählungen • Freundinnen • Kurzgeschichten • Liebe • moderne Kurzgeschichte • Mutter und Tochter • Sehnsucht • Sinnsuche • Suizid • Tochter • Töchter • Trauer • Trauerarbeit • Trauerbewältigung • Verlust • Verlustangst
ISBN-10 3-257-61470-5 / 3257614705
ISBN-13 978-3-257-61470-1 / 9783257614701
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 971 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99