Nostalgia (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01692-7 (ISBN)
André Kubiczek, 1969 geboren, lebt in Berlin. 2002 erschien sein hochgelobter Roman «Junge Talente», 2003 «Die Guten und die Bösen». 2007 wurde André Kubiczek mit dem Candide-Preis ausgezeichnet. «Skizze eines Sommers» (2016) stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen «Komm in den totgesagten Park und schau» (2018), «Straße der Jugend» (2020) und «Der perfekte Kuss» (2022).
André Kubiczek, 1969 geboren, lebt in Berlin. 2002 erschien sein hochgelobter Roman «Junge Talente», 2003 «Die Guten und die Bösen». 2007 wurde André Kubiczek mit dem Candide-Preis ausgezeichnet. «Skizze eines Sommers» (2016) stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschienen «Komm in den totgesagten Park und schau» (2018), «Straße der Jugend» (2020) und «Der perfekte Kuss» (2022).
Erster Teil
1981
Noch mal raus
Es ist schon dunkel draußen, als er die Wohnung verlässt. Nichts hat er getan, seit er aus der Schule zurück ist, als auf den Augenblick zu warten, in dem er die Tür öffnen kann, um heute ein zweites Mal aus dem Haus zu treten.
Im orangefarbenen Licht der Laternen vor dem Block kann man den Schnee schräg fallen sehen, was bedeutet, dass es nicht nur kalt ist, sondern auch windig.
Bevor er zur Straßenbahn losläuft, bleibt er eine Weile unter der Überdachung stehen, ein Torbogen aus zwei senkrechten Betonplatten und einer waagerechten darüber. So kann sich sein Körper an die widrigen Bedingungen hier draußen gewöhnen, an die Minusgrade und den schneidenden Wind. Das ist genau wie beim Badengehen an einem heißen Sommertag.
Der Schnee von letzter Nacht ist geräumt. In großen Klumpen türmt er sich an Straßen und Wegen. Es sind ganze Reihen von Klumpen, Schneeklumpenreihen. Wie kleine Gebirgszüge sehen die Klumpen aus, wie Hügelketten. Die größten Erhebungen, die nun den Bordsteinrand bevölkern, messen um die sechzig bis achtzig Zentimeter. Die gehen ihm bis zur Hüfte, schätzt er.
‹Bevölkern›?
Das klingt komisch, überlegt er. Ist Schnee überhaupt in der Lage, einen Straßenrand zu bevölkern? Ob ein Wort passt, kann man herausfinden, indem man es sich eine Weile auf der Zunge zergehen lässt. Das hat ihm Papa beigebracht. Man muss es kurz untersuchen.
Woher kommt denn das Verb ‹bevölkern›?
Von ‹Völker›, klar.
‹Völker› wie in ‹Völkerverständigung›, ein Wort aus den Nachrichten, oder wie in ‹Völkerball›, ein Wort aus dem Sportunterricht. Der Sportlehrer hat ihnen das mal erklärt: Völkerball ist wie Krieg auf dem Sportplatz. Aber Völkerball ist besser als Krieg, denn der Kampf ist nur symbolisch. Wer Völkerball spielt, statt einen wirklichen Krieg zu führen mit Waffen, ist ein Freund des Friedens. Deswegen ist Völkerball, wenn man genauer hinguckt, ein Mittel zur Völkerverständigung. Oder so ähnlich.
Er selbst ist ziemlich gut im Völkerball. Seine Wurfkraft ist zwar begrenzt, weil seine Arme kürzer sind als die von Michael oder Jochen, doch ist er schneller als sie. Weil er außerdem klein ist, bietet er der anderen Mannschaft, die das feindliche Volk darstellt, weniger Abwurffläche als die meisten Mitschüler.
‹Völker› ist der Plural des Substantivs ‹Volk›.
Ein Volk ist eine Ansammlung von Menschen.
Am besten hat es Thomas beim Völkerball. Er ist nicht richtig groß und nicht richtig klein. Er ist einigermaßen flink, und sein Wurf ist ausreichend stark, stärker als der Durchschnitt. Darauf kommt es an, denn die, die noch schärfer werfen können als Thomas, sind viel langsamer beim Ausweichen.
Eine Familie, überlegt er, ist auch eine Ansammlung von Menschen. Was ist da jetzt der Unterschied zum Volk?
Volk ist eine große Ansammlung von Menschen, Familie dagegen eine kleine. Familie ist sogar die kleinstmögliche Ansammlung von Menschen, die zusammengehören. Oder ist es das Paar? Doch zwei Menschen allein sind noch keine Ansammlung. Eine Ansammlung ist ja im Prinzip das Gleiche wie eine Gruppe. Wäre auch ein Paar eine Ansammlung beziehungsweise Gruppe, würde man es doch nicht ‹Paar› nennen, sondern ‹Zweiergruppe›. Noch nie aber hat er seine Oma abends beim Fernsehen ausrufen hören: «Was für eine schöne Liebeszweiergruppe!»
Ein Ehepaar mit Kind dagegen ist durchaus eine Gruppe, denn schon ein Paar mit nur einem Kind hat das Recht, den Titel ‹Familie› zu führen.
Wenn Familie die kleinste Ansammlung zusammengehöriger Menschen ist, überlegt er, dann ist Volk die größte. In einer Familie sind alle miteinander verwandt. In einem Volk sind zwar auch einige mit einigen anderen verwandt, aber die entscheidende Gemeinsamkeit besteht doch darin, dass sie alle dieselbe Sprache sprechen. Von Natur aus. Seit sie klein sind. Die Mitglieder eines Volks haben alle dieselbe Sprache mit der Muttermilch eingesogen, weshalb diese Sprache Muttersprache genannt wird. Wahrscheinlich heißt sie eher so, weil sie einem von der Mutter beigebracht wird, denn die Mütter sind seit Menschengedenken fürs Reden mit den Babys zuständig. Die Väter dagegen eher für die Jagd. Ob das heute noch stimmt, kann jeder an den eigenen Eltern überprüfen.
In seinem Fall stimmt das noch. Also dass die Mutter mehr mit einem redet als der Vater, obwohl der natürlich nicht zur Jagd geht, wenn er morgens das Haus verlässt, sondern in die Akademie. Statt eines Speers führt er einen Aktenkoffer mit sich.
Dass das alles so gekommen ist, liegt an der Evolution, gegen die man sich nicht wehren kann. Die Evolution arbeitet im Verborgenen, und erst Millionen Jahre später, wenn man selbst längst tot ist, kann man sehen, was sie angerichtet hat. Dann gibt es plötzlich keine Dinosaurier mehr, und einigen Fischen sind Füße gewachsen, mit denen sie fortan an Land herumlaufen. Noch später lernen sie, aufrecht zu gehen, und sie lernen zu angeln, und eines Tages haben sie auch keine Scheu mehr, ihres ehemalig Gleichen zu verspeisen. Die Evolution ist das, was für Oma und Opa Gott ist. Man muss nicht daran glauben, aber sie wirkt trotzdem.
Als die Kinder noch Urmenschen waren, mussten sie viel mehr im Haushalt helfen als die Kinder heute, die hauptsächlich gut in der Schule sein sollen. Doch selbst wenn man gut in der Schule ist, garantiert das nicht automatisch Freizeit zum Lohn.
Er zum Beispiel muss trotzdem alle zwei Wochen in die Reinigung rüber nach Waldstadt I, und in die Kaufhalle muss er sogar alle zwei, drei Tage. Er muss jede Woche die Treppe wischen. Am Wochenende muss er in den Garten zum Unkrautjäten. Wenn die Jahreszeit ungünstig ist, muss er dort Johannis- und Stachelbeeren ernten, die auch reif noch so sauer sind, dass sie zur Strafe hängen bleiben sollten.
Weil sein Bruder zu doof ist, solche Sachen zu erledigen, bleibt auch dessen Anteil an der ganzen Arbeit an ihm kleben, denn alle sind ja froh, dass sein Bruder überhaupt noch lebt. Außerdem ist er die Woche über gar nicht mehr da, sondern in Glindow. Man muss das abwägen: Ein toter Bruder würde einem genauso wenig die Hälfte der Hausarbeit abnehmen, wie es der lebendige tut, der das nicht kann. Dann lieber so, wie es gerade ist.
Hoffentlich bleibt eine Weile alles so, wie es gerade ist.
Wäre er schlechter in der Schule, müsste er vielleicht weniger im Haushalt helfen und dürfte stattdessen in seinem Zimmer bleiben, um zu lernen. Andererseits müsste er sich ständig das Gemecker anhören wegen der vielen Zweien, die er nach Hause bringt. Das kann keiner wollen.
Weil Mama Deutsch erst gelernt hat, als sie schon erwachsen war, gehört sie nicht zum Volk, das hier ansässig ist. Andere Sprachen als die Muttersprache heißen Fremdsprachen, und für wen Deutsch eine Fremdsprache ist, der ist demzufolge ein Fremder auf dem Territorium, wo die Muttersprache gesprochen wird.
Das ist logisch, denn wäre es nicht logisch, hätte er es gar nicht kapieren können. Trotzdem ist es eigentlich Mist. Papa sagt nämlich, dass Mama Deutsch spricht ohne Akzent, was bedeutet, man kann ihr gar nicht anhören, dass Deutsch nicht die Muttersprache ist, die ihr einst vom Schicksal zugeteilt wurde. Denn das ist Laotisch. Doch das nützt ihr nichts, denn Mama sieht nicht aus wie jemand, der ohne Akzent Deutsch spricht. Bevor die Leute Mama reden hören, können sie Mama sehen, denn das Licht ist bekanntlich schneller als der Schall.
Die Mutter von Michael aus seiner Klasse ist Russin, das heißt Bürgerin der Sowjetunion. Sie spricht Deutsch mit viel Akzent. Doch zumindest von Weitem sieht sie aus, als würde sie Deutsch ohne Akzent sprechen. Irgendwie ist das ungerecht.
Mama gehört nicht richtig zum Volk der DDR-Bürger, obwohl sie einen entsprechenden Personalausweis besitzt. Doch was nützt ihr der? Sie kann doch nicht jedes Mal ihren Ausweis vorzeigen, wenn einer komisch guckt in der Kaufhalle oder in der Straßenbahn. Weil Mama nicht aussieht wie original von hier, sieht er leider auch nicht so aus. Das nennt sich Vererbung. Er besitzt noch nicht mal einen Personalausweis, den er vorzeigen könnte, wenn ihn die Leute anstarren. Erst in zwei Jahren kriegt er einen.
Weil Michaels Mutter von Weitem aussieht, als stamme sie original aus der DDR, sieht auch Michael so aus.
Statt sich an die Kälte zu gewöhnen wie gehofft, friert er immer mehr. Er zittert ja regelrecht! Bewegung würde vielleicht helfen, und ohnehin wird es langsam Zeit, dass er losgeht, denkt er und steigt die Betonstufen runter, die auf den kurzen Weg führen, der ihren Hauseingang mit dem Bürgersteig verbindet.
Der einzelne Mensch, das Paar, die Familie, das Volk: So ist die Reihenfolge in der Nahrungskette.
Quatsch, das ist das falsche Wort. Wäre ‹Hackordnung› richtiger?
Schon wenn man abends vor dem Einschlafen ganz normale Wörter halblaut vor sich hin sagt, fangen sie nach dem zwanzigsten Mal an, komisch zu klingen: Bett, Mond, Gardine. Nach dem circa dreißigsten Mal verlieren sie ihre Bedeutung und sind nicht mehr als Grunzlaute. Dann fühlt man sich in seinem Kinderzimmer in der warmen Neubauwohnung wie ein Neandertaler, und dann schläft man...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtzigerjahre • Anspruchsvolle Literatur • Asian Germans • Asiatische Deutsche • Asien • Autofiktion • Biografie • Biographie • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • DDR • Deutsche Literatur • Deutsche Romane • Fremdheit • Gegenwartsliteratur • Geschichte • Gesellschaft • Herkunft • Historische Bücher • Identität • Laos • Liebe • Liebesgeschichte • Longlist Deutscher Buchpreis 2024 • Migration • Migrationsgeschichte • Mutter-Sohn-Beziehung • Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 • Ostdeutschland • Potsdam • romane neuerscheinungen 2024 • Sechzigerjahre • Siebzigerjahre • Sozialismus • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01692-5 / 3644016925 |
ISBN-13 | 978-3-644-01692-7 / 9783644016927 |
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