Die Lebensweisen (eBook)

Bereichernde Begegnungen mit Menschen an ihrem Lebensabend.
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Gerth Medien (Verlag)
978-3-96122-623-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Lebensweisen -  Hanne Häuser
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Dieses Buch enthält 21 Geschichten, die Hanne Häuser in ihrem privaten Pflegehaus für Senioren erlebt hat. Sie bieten einen ehrlichen Blick auf das Zusammenleben mit alten und pflegebedürftigen Menschen - mit all den Herausforderungen, aber auch den Chancen und Freuden, die dies mit sich bringt. Die Autorin möchte Mut machen, die Betreuung und Begleitung betagter Menschen als besondere Aufgabe anzunehmen - sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext. Ideal für alle, die von der Lebenserfahrung älterer Menschen profitieren möchten und gerne von konkreten Alltagserlebnissen mit Gott lesen.

DEMENZ


Ausgewählte Worte mit Bedeutung


Jeder möchte lange leben, aber keiner will alt werden.

(Jonathan Swift)


Irmtraut wollte meistens nichts essen. Wenn überhaupt, dann nur drei oder vier kleingeschnittene Stückchen Brot. Oder vom Mittagessen drei, maximal vier Löffel.

„Das ist genug! Sonst werde ich noch zu dick, so sagte die kleine, dünne 90-Jährige dann nach ein paar winzigen Bissen. Und mit dem Trinken war es ähnlich.

An einem Morgen gab ich ihr das Frühstück. Da sie fast blind war, brauchte sie beim Essen meine Hilfe. Sie schaffte zwei kleine Scheiben Brot – das war sensationell. Dann reichte ich ihr mit dem Löffel den Kaffee an, eine große Tasse, einen Löffel nach dem anderen. Ich sagte vorher:

„Bitte schön, Frau Bäumer, hier habe ich Ihren Kaffee, so wie Sie ihn mögen.“ Sie wehrte sich nicht dagegen und beschwerte sich auch nicht, denn Irmtraut war mit ihrer Demenz ganz in ihrer eigenen Gedankenwelt unterwegs. Auf einmal fragte sie mich:

„Wofür ist das eigentlich?

Ich antwortete:

„Na, für die Nieren, dass sie gut durchgespült werden.

„Tatsächlich?“

„Ja, so ist es. Das ist ja nicht unwichtig.

„Ach, in meinem Alter auch noch?

„Klar, solange man lebt, muss man gut für sich sorgen“, erwiderte ich und musste schmunzeln.

„Ja, Sie haben recht“, meinte sie. Ich löffelte weiter.

„Wissen Sie, wenn ich das hier so nehme, möchte ich gern wissen, was es ist“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf. Sie hatte vergessen, dass es Kaffee war, den ich ihr zu Beginn angeboten hatte.

Ich sagte: „Selbstverständlich! Das steht Ihnen ja auch zu.

Das meine ich auch.

„Einmal im Zug …, sagte sie plötzlich und hielt dann inne. Ich hörte auf, ihr den Kaffee anzureichen. Als sie die Unterbrechung bemerkte, sagte sie:

„Ich will Sie nicht aufhalten.

„Nein, nein, entgegnete ich und lehnte mich entspannt zurück. „Erzählen Sie ruhig.

„Also einmal im Zug, da war eine junge Frau. Na ja, so dreißig oder vierzig Jahre war sie. Sie fragte den Schaffner, an welchem Bahnhof sie aussteigen müsse und wie lange das noch dauere. Da hat der Schaffner zu ihr gesagt: ,Das hat Sie gar nicht zu interessieren.‘“

„Wie ungezogen!“, warf ich entrüstet ein.

„Ja, aber da war ein Herr, der hat zu dem Schaffner gesagt: ,Das ist eine Unverschämtheit, wie Sie mit der jungen Frau reden! Ich muss mich doch sehr wundern, dass so Leute wie Sie bei der Bahn beschäftigt werden!‘“

Wahrscheinlich war das ein Erlebnis aus Irmtrauts Vergangenheit, das ihr plötzlich ins Gedächtnis gekommen war. Vielleicht war diese Episode aber auch nur frei erfunden. Bei dementen Menschen ist beides möglich. Nachdem Irmtraut zu Ende erzählt hatte, fragte ich:

„Soll ich eine kleine Pause einlegen mit dem Kaffee?

Sie antwortete in ihrer originellen Weise:

„Nein, wir bringen das jetzt zu Ende.“

Filmreif, dachte ich, und musste in mich hineinschmunzeln. Irmtrauts Art, sich auszudrücken, war trotz ihrer Erkrankung noch immer sehr originell.

Wenn sie so dasaß, hatte sie den Kopf immer ein wenig nach vorne gebeugt und meistens die Augen geschlossen.

„Wissen Sie“, fing sie ein anderes Mal an. „Irgendwann geht alles zu Ende. Jedes Leben und jede Geschichte. Da muss man sich erst gar nicht aufregen oder so tun, als wäre das anders.“

„Ja“, antwortete ich ihr, wobei ich wegen ihrer Schwerhörigkeit laut in ihr Ohr reden musste.

„Da kann ich Ihnen nur recht geben. Jedes Leben geht zu Ende und es ist bestimmt gut, wenn wir uns darauf vorbereiten.“

„Aber das tun alle Menschen“, erwiderte sie, hob ihre dünne Hand hoch und zeigte auf mich und rund um den ganzen Tisch, wo allerdings gerade niemand sonst saß.

„Na, da bin ich mir nicht sicher, ob alle Menschen sich auf das Lebensende vorbereiten. Da beobachte ich etwas anderes“, gab ich zu bedenken.

„Tatsächlich?“, fragte sie noch, war aber gleich darauf wieder in ihre eigene Gedankenwelt abgetaucht. Erst als ich sie bat, mit mir ins Bad zu gehen, tauchte sie wieder auf und fragte:

„Sagen Sie mal, muss das denn sein? Kann ich nicht hier sitzen bleiben bis an mein Ende?“

„Oh“, sagte ich, „das ist etwas zu riskant. Solange Sie leben, werden Sie sich bewegen müssen, zur Toilette gehen, herumlaufen, essen, trinken und schlafen. Und natürlich auch hören und reden.“

„Ach, wie gemein!“, entgegnete sie enttäuscht, und es tat mir in diesem Moment richtig leid, dass ich sie tatsächlich nicht „in Ruhe lassen“ konnte. Aber Irmtraut machte weiterhin alles mit, was gerade anstand.

Zufrieden und meistens in sich gekehrt verbrachte sie ihre Tage bei mir. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schienen manchmal miteinander verschmolzen zu sein, wenn sie anfing zu erzählen, was sie allerdings selten tat.

Ihre stille Art gefiel mir. Ebenso ihre sehr unkomplizierte Weise im Umgang miteinander. Manchmal fragte ich mich, was für eine Frau sie in jungen Jahren gewesen sein mochte. Ich ahnte, dass sie forsch und direkt gewesen war. Und sicher hat sie sich nicht alles gefallen lassen, diese kleine, zarte Lady. Leider erfuhr ich nicht allzu viel von ihren Kindern, was ihre Vergangenheit betraf. Von ihr selbst kam zu viel Ungereimtes und Unklares.

Irgendwann informierte mich die Tochter, dass Irmtraut verstorben sei. Ich hätte sie gerne noch weiter betreut.

„Amüsett“ und andere erfundene Worte


Wenn du den Eindruck hast, dass das Leben Theater ist, dann such dir eine Rolle aus, die dir so richtig Spaß macht.

(William Shakespeare)


2009 kam Friedrich, Jahrgang 1932, zum ersten Mal zu mir. Mein privates Pflegehaus gab es damals noch nicht lange. Er war ein Bär von Mann: riesig, stattlich und korpulent. Ich hätte mich mindestens zweimal hinter ihm verstecken können. Bevor ich ihn kennengerlernt hatte, hatte ich mir einen dünnen, mittelgroßen Mann vorgestellt. So kann man sich täuschen … Sein Gang war ein wenig schwerfällig, aber sicher. Auch sonst war er verhältnismäßig mobil, doch er war an Demenz im fortgeschrittenen Stadium erkrankt.

Als seine Frau ihn brachte, fiel mir auf, dass sie total am Ende ihrer Nervenkraft war. Sie sprach es offen an:

„Ich kann nicht mehr und ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalten werde.“ Ihre sanften Augen glitzerten von Tränen.

Wir hatten vereinbart, dass Friedrich drei Wochen bei mir bleiben sollte. Beim Abschied wünschte ich ihr eine gute Zeit, in der sie sich hoffentlich erholen würde.

In den nächsten Jahren kam Friedrich zwei-, manchmal auch dreimal im Jahr zu mir. Ich lernte Friedrich immer wieder von einer anderen Seite kennen und erlebte auch seinen stetigen Abbau. Er war mitunter sehr herausfordernd, weil er manchmal absolut nicht das tun wollte, was angesagt war.

Der Umgang mit einem Demenzkranken erfordert Ideenreichtum und Gelassenheit. In seine Welt einzutauchen, ist fast nicht möglich. Aber trotzdem kann ich seine Äußerungen und seine Haltung ernst nehmen, aufgreifen und versuchen, darauf zu reagieren und damit umzugehen. Das hilft ungemein im alltäglichen Miteinander.

Ich stelle immer wieder erstaunt fest, dass ich demente Menschen verstehen kann. Vielleicht, weil ich sie mag? Vielleicht, weil sie mir wichtig sind? Vielleicht hat Gott mich aber einfach mit eben dieser Gabe ausgestattet? Ich spüre jedenfalls an ihrer Reaktion, dass sie sich verstanden fühlen. Beinahe immer habe ich den Eindruck, dass ich weiß, was meine dementen Besucher meinen oder was sie gerade brauchen. Mir war das lange nicht bewusst, dass das eine besondere Gabe sein könnte, weil ich es als selbstverständlich ansah. Erst später merkte ich, dass es für die meisten Menschen sehr schwierig ist, sich in die Gedankenwelt von demenziell Erkrankten hineinzuversetzen und hinter ihren oft wirren Aussagen das eigentliche Bedürfnis zu erkennen.

Ganz schwierig wird es, wenn jemand einem dementen Menschen seine Sichtweise ausreden will, weil derjenige überzeugt ist, sie korrigieren zu müssen, da die Realität (für ihn) anders aussieht. Damit erntet man meist Ablehnung oder sogar Blockade und Unwillen.

Friedrich lebte definitiv in seiner eigenen Welt. Meistens war er darin zufrieden. Aber mitunter kollidierte meine Wirklichkeit mit seiner und das sah dann so aus: Einmal wollte Friedrich nach dem Essen partout nicht von der Küchenbank aufstehen. Er war zufrieden so, warum also sollte er sich bewegen? Gut zureden, anstoßen, ablenken – nichts half. Ich ließ ihn also zunächst in Ruhe und wartete ab. Dann klappte es nach ein paar Minuten tatsächlich. Wäre er sitzen geblieben wäre er mit Sicherheit auf der Bank eingeschlafen. Auch der Toilettengang wäre ausgefallen – mit entsprechenden Folgen.

Ein anderes Mal stand er nach dem Essen mitten im Wintergarten, machte seinen Gürtel auf und fing an, seine Hose runterzuziehen … Ich sah genau vor mir, was jetzt kommen würde und stürzte zu ihm hin. Dabei musste ich sehr, sehr diplomatisch vorgehen, um ihn nicht zu reizen und seinen Trotz hervorzurufen.

„Komm mit mir, ich...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2024
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Alltagsgeschichten • Altenpflege • Wahre Geschichten
ISBN-10 3-96122-623-7 / 3961226237
ISBN-13 978-3-96122-623-8 / 9783961226238
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