»Auf den Einzelnen kommt es an« -  Volker Michels

»Auf den Einzelnen kommt es an« (eBook)

Hermann Hesse - ein Lebensbild
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
250 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77906-4 (ISBN)
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Der Widerstand gegen die destruktiven Folgen des zu Hermann Hesses Lebzeiten angesagten Zeitgeistes hat sein Leben und Werk auf unterschiedlichste Weise bestimmt. Auf welche Weise sich die Suche des Dichters nach zukunftsorientierten Alternativen in seiner Biographie und den meist unmittelbar daraus hervorgegangenen Schriften niedergeschlagen hat, zeigt dieses kurzgefasste Lebensbild in seltener Prägnanz.

Die Abwehr, die sein konstruktives Weltbild seit dem Ersten Weltkrieg lebenslang bei den konjunkturhörigen Tonangebern des jeweiligen Zeitgeistes gefunden hat, erklärt sich daraus ebenso wie das Vertrauen, das ihm und seinen Werken heute von Lesern aus aller Welt entgegengebracht wird.



Volker Michels, geboren 1943, trat nach dem Studium der Medizin und Psychologie 1969 als Lektor für deutsche Literatur in die Verlage Suhrkamp und Insel ein, wo er sich u. a. auch als Herausgeber für zahlreiche Autoren der Gegenwart und Vergangenheit eingesetzt hat. Insbesondere widmete er sich den Werken und Briefen von Hermann Hesse, dessen literarischen und bildnerischen Nachlass er in mehr als hundert Themenbänden veröffentlicht und 2005 mit der Edition einer zwanzigbändigen Gesamtausgabe abgeschlossen hat.

 
 
 

Der erste Band der Briefedition umfasst den Zeitraum der Jahre 1881 bis 1904 und dokumentiert Hesses turbulente Jugend, bis es ihm nach allerlei Hindernisläufen endlich glückte, sich als freier Schriftsteller behaupten zu können, zu heiraten und einen eigenen Hausstand zu gründen. Insofern sind diese frühen Briefe nur mit erheblichen Einschränkungen repräsentativ für seine spätere Korrespondenz, zeigen sie doch zunächst einmal die Selbstbehauptungsversuche und den schwierigen Werdegang eines jungen Menschen auf dem Weg zu seiner Berufung.

Wie Vincent van Gogh, Friedrich Nietzsche, Gottfried Benn, Friedrich Dürrenmatt und manche andere hochbegabte Autoren stammt auch Hermann Hesse aus einem evangelischen Pfarrhaus. Seine Eltern und der Großvater (mütterlicherseits), Dr. Hermann Gundert, waren sendungsbewusste Missionare, die ihr vom schwäbischen Pietismus gefärbtes Christentum als Kreuzritter der Basler Mission bis an die Westküste Indiens trugen. Die Mutter des Dichters ist dort geboren und hatte 1865 in Talatscheri in erster Ehe den in London geborenen Missionar Charles Isenberg geheiratet, der vier Jahre darauf in Hyderabad so schwer an Ruhr erkrankte, dass er nach Europa zurückkehren musste, wo er erst 29-jährig einem Lungenleiden erlag. Dieselbe Krankheit machte dem gleichfalls in Indien missionierenden Johannes Hesse, dem künftigen Vater des Dichters, in Mangalur bis zur Erschöpfung zu schaffen, so dass er nach seiner Genesung 1873 als Gehilfe von Dr. Hermann Gundert in den Calwer Missionsverlag versetzt wurde. Dort lernte er Gunderts Tochter, die inzwischen 31-jährige Witwe Marie Isenberg, mit ihren beiden kleinen Söhnen Theo und Karl kennen. Im Jahr darauf kam es zur Heirat in einer Ehe, der zwei Töchter und zwei Söhne entstammen; der ältere davon war Hermann Hesse. Zwei weitere Kinder, Paul (* ‌1878) und Gertrud (*1879), sind einige Monate nach ihrer Geburt bereits gestorben.

Das erste überlieferte Briefchen Hermann Hesses stammt aus seinem vierten Lebensjahr. Die Familie war damals gerade aus seinem Geburtsort Calw nach Basel übersiedelt, wohin sein Vater zum Herausgeber des »Basler Missionsmagazins« berufen worden war. In diesem der Mutter diktierten Gruß an seinen »indischen Vetter« berichtet der kleine Hermann über die ersten Eindrücke im Kindergarten der Basler Mission. Schon dieses frühe Dokument ist charakteristisch für seinen Eigensinn. Widersetzt sich doch bereits der Vierjährige der Aufforderung eines Arztes, ihm die Zunge zu zeigen und den gegen seine Erkältung verordneten bitter schmeckenden Tee zu trinken. Über den Knirps berichtet die Mutter im Mai 1892: »Hermann macht den ganzen Tag Verse, oft ganz gelungen, oft kunterbunt; was sich reimt, findet er sofort zusammen.« Der früheste Beleg dafür ist ein gereimtes Briefchen des Zwölfjährigen an seinen Onkel David Gundert, das sich durch einen glücklichen Zufall erhalten hat.

Ungleich besser dokumentiert als die frühe Kindheit, von der außer den Briefen und Tagebuch-Aufzeichnungen der Mutter kaum etwas überliefert ist, sind die Jahre der Lehrzeit, beginnend 1890 mit der Lateinschule in Göppingen. Das ist kein Zufall. Denn diese Papiere hat Hesse aus guten Gründen aufbewahrt. Vollzog sich doch in den nun folgenden mehr als zehn konfliktreichen Jahren seine für alle Beteiligten unbegreifliche Lösung von den Erwartungen und Wertbegriffen der Eltern und Verwandten. Dass die Eltern ihr christlich geprägtes Weltbild auf vorbildliche Weise lebten und mit dem Verzicht auf persönliches Wohlergehen entbehrungsreich praktiziert haben, im missionarischen Dienst an den Mitmenschen, machte die Sache nicht leichter. Denn der junge Hesse sah sehr wohl, dass er mit seinem Eigenwillen und Aufbegehren gegen den Pietismus seine Eltern auf eine Weise verletzte, die sie nicht nachvollziehen konnten. Im Recht fühlten sich beide, die Eltern mit ihren kirchenchristlichen Prägungen, aber auch der aufsässige Sohn, der sich mit demselben Ethos weiter gespannten Sichtweisen öffnen wollte für ein freieres und toleranteres Weltbild, ein tragischer Konflikt, der in seiner ganzen Schärfe anhand der authentischen Lebenszeugnisse nachvollziehbar wird. Deshalb hat Hesse, sobald er sich als Autor durchgesetzt hatte, alle Korrespondenzen aus dem Besitz der Familie aufbewahrt, die diese Emanzipation überliefern. Zu Lebzeiten hat er sie niemand gezeigt, doch der Nachwelt erhalten. In verschnürten Paketen fanden sie sich dicht gebündelt nach seinem Tod in einem Schrank seines Schlaf- und Sterbezimmers. Chronologisch mit der Göppinger Lateinschülerzeit beginnend, illustrieren sie nicht nur anhand seiner eigenen Briefe an die Eltern, sondern auch am Beispiel ihrer Antworten und der Schreiben anderer Familienmitglieder, Pfarrer, Lehrer, Ärzte und Zimmervermieter den Werdegang Hermann Hesses bis zum Jahr 1900. Seine Witwe Ninon hat unter dem an Walter Benjamin erinnernden Titel »Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert« den ersten bis ins Jahr 1895 reichenden Teil dieses Konvolutes noch kurz vor ihrem Tod im Jahr 1966 publiziert. Der zweite, bis in das Jahr 1900 führende Teil wurde fortgesetzt von Dr. Gerhard Kirchhoff und erschien 1978. Diese Bände umfassen nahezu 1 ‌300 Seiten und ergeben ein Emanzipations- und Zeitgemälde, wie es anschaulicher und dramatischer kaum denkbar ist.

Sie setzen ein mit Briefen des zwölfjährigen Hesse aus der Göppinger Lateinschule, einer Art Crashkurs, der die aus ganz Württemberg ausgewählten Buben auf das Stuttgarter Landexamen vorbereiten sollte. Die 36 besten wurden auf Staatskosten in eines der theologischen Seminare von Maulbronn, Blaubeuren, Schöntal oder Urach geschickt, um dort als Stipendiaten auf das Tübinger Stift vorbereitet zu werden, mit dem Anrecht, danach als beamtete Pfarrer oder Lehrer lebenslang versorgt zu sein. Dass es auch mit Hermann darauf hinauslaufen sollte, begann dem unternehmungslustigen Zögling erst allmählich zu dämmern, und so lassen seine vergnügten Maulbronner Berichte einstweilen noch nichts ahnen von den künftigen Revolten. Denn im Göppinger Rektor Otto Bauer hatten die Kinder einen ungewöhnlich originellen Einpauker, der sich auf deren Spieltrieb und Abwechslungsbedürfnis verstand. So wundert es nicht, dass auch Hesse im Juli 1891 das Landexamen bestand, als 28. unter 79 Kandidaten.

Wie lange vor ihm der Physiker Johannes Kepler, der Dichter Friedrich Hölderlin und auch sein Großvater Hermann Gundert kam der inzwischen 14-Jährige sodann als Stipendiat in das evangelisch-theologische Seminar von Maulbronn und scheint sich dort, seinen Berichten zufolge, recht wohlgefühlt zu haben. Jedenfalls deutet kaum etwas darauf hin, was sieben Monate später seine plötzliche Flucht aus dem Seminar motivieren würde. Solch unvermittelte Kehrtwenden sind auch im späteren Leben charakteristisch für Hesse. Zunächst versucht er sich gutgläubig mit den vorgegebenen Verhältnissen zu arrangieren, bis ihm auf einmal bewusst wird, dass er sich damit auf Weichenstellungen einlässt, die sich für ihn auf die Dauer nicht als tragfähig erweisen können. So begann er im theologischen Umfeld des inzwischen säkularisierten Zisterzienserklosters zu ahnen, dass er sich auf dem falschen Gleis befand. Denn ein Kirchenbeamter wollte er auf keinen Fall werden. Sein innerer Kompass wies in eine ganz andere Richtung und verlangte eine Kurskorrektur. »Die Sache war die«, erinnert er sich 30 Jahre später in seinem »Kurzgefassten Lebenslauf«, »von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, dass ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wollte.« Nur gab es dafür keinen von den Erwachsenen tolerierten Weg, keine Ausbildung, keinen Unterricht. »Es war erlaubt und galt sogar für eine Ehre ein Dichter zu sein, das heißt als Dichter erfolgreich und bekannt zu sein, meistens war man dann leider schon tot. Ein Dichter zu werden aber, das war unmöglich, es werden zu wollen, war eine Lächerlichkeit und Schande, wie ich sehr bald erfuhr … und vermutlich waren die Lehrer gerade dazu angestellt und ausgebildet, um das Heranwachsen von famosen und freien Menschen nach Möglichkeit zu verhindern.« Fast alle Eskapaden und Umwege, die der junge Hesse von nun an seinen Angehörigen zumutete, erklären sich daraus, die ja überzeugt waren, alles nur zu seinem Besten auszurichten.

Zwei Tage nachdem Hesse aus Maulbronn entlaufen und wieder eingefangen war, schreibt ihm sein frommer Vater: »Es hat uns wehgetan, dass Du voreilig schon meinst, Du werdest ja...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Briefe • Erinnerungen • Glasperlenspiel • Hermann-Hesse-Stiftung • Hesse-Herausgeber • Hesse-Kenner • Kulturgeschichte • Literaturgeschichte • Narziß und Goldmund • Nobelpreis • Schriftsteller • Selbsterkenntis • Siddharta • Spiritualität • ST 5432 • ST5432 • Steppenwolf • suhrkamp taschenbuch 5432 • Werk-Biographie • Zeitgeist
ISBN-10 3-518-77906-0 / 3518779060
ISBN-13 978-3-518-77906-4 / 9783518779064
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