Die Arbeiter (eBook)
304 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30489-8 (ISBN)
Manchmal lassen die Eltern die heißen Fabrikhallen hinter sich und fahren los. Mit den Kindern ans Meer, immer an die Nordsee und immer nur für ein paar Tage. Der Rest ist Plackerei: Für das Reihenhaus, für die Kinder, für ein bisschen Glück - wenigstens im Rahmen des Sparkassendarlehens. Martin Becker erzählt in 'Die Arbeiter' von einer kleinstädtischen Familie, die es nicht mehr gibt. Von zu früh gestorbenen Eltern und Geschwistern, von einem unverhofften Wiedersehen an der Küste, vom kleinen Wunder, nach dem Verschwinden der Ursprungsfamilie nun selbst Vater zu sein und einen Sohn zu haben. Die altmodischen Nähmaschinen der Mutter, der schwere Schmiedehammer des Vaters, die billig eingerichteten Ferienwohnungen und stets zugequalmten Kleinwagen aus dritter, vierter, fünfter Hand: es ist die Geschichte über eine Herkunft aus einfachen Verhältnissen, fern aller Romantik und Verklärung. Ein Denkmal für die verschwundene Arbeiterfamilie. Eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu, dessen Kinder vom großen Los träumten, aber auch mit den Trostpreisen zufrieden sind. Aktueller denn je.
Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).
Meine Mutter meint: Ach, schön hier. Mein Vater hat schon das Poloshirt ausgezogen und trägt sein Feinrippunterhemd. Ruhrpottsmoking. Ich leg mich hin, ruft er mir zu. Du holst die Koffer aus dem Auto und dann fängst du mir Würmer. Wenn ich aufstehe, geh ich angeln. Ich nicke. Man kann das Meer von hier aus nicht sehen, niemals. Aber man kann es riechen, überall. Schmeckst du das Salz auf den Lippen? Seit Tagen schon. Wir sind an der Nordsee. Nicht direkt, wir sind doch unserem Geld nicht böse, sagt meine Mutter. Wir wohnen in Petersgroden, wie jedes Jahr. Eine Ferienwohnung mit schlichter Ausstattung und vielen Fliegen. Gegenüber hat der Milchbauer seinen Stall, hundert Kühe treibt er jeden Tag von der Weide über die Landstraße zu den Melkmaschinen.
Das mit den Regenwürmern hat mir mein Vater so erklärt: Früher haben sie die mit Strom gejagt, das war einfacher, aber dann sind ein paar Blödmänner dabei draufgegangen. Nimm eine alte Pulle, tu Wasser rein und Spülmittel, nicht zu viel, nicht zu wenig, das verteilst du, dann juckt den Viechern der Pelz und sie kommen gucken, was da los ist.
Mein Vater liegt auf dem Bett, seine Oberarme kräftig und muskulös, die flache Hand ruht auf der Stirn. Er ist gleich eingeschlafen und schnarcht, kaputt von der Fahrt, kaputt von den Wochen davor. In der Fabrik haben sie was an der Produktionsstrecke umgestellt, er muss neuerdings wieder Nachtschichten machen. Meine Mutter gießt ein Glas Cola ein, sitzt am Küchentisch, steckt sich ihre erste Nordseezigarette an, schaut zu mir und sagt wieder: Schön ist das hier, woll. Fang bloß nicht an zu heulen, denke ich. Bald wird sie morgens wieder aufstehen und japsen, das ist immer so im Urlaub. Das Atmen fällt ihr schwer. Das ist das Reizklima, stöhnt sie, dabei, denke ich, sollte es hier doch gerade besser werden und nicht schlechter. Weil selbst ihr starkes Kortisonspray nichts bringt gegen die Kurzatmigkeit, sitzen wir beim Kurarzt im Wartezimmer. Der hängt sie wie jedes Jahr an den Tropf (Kochsalzlösung mit ein paar Vitaminen, aber das sagt der Kurarzt ihr nicht). Danach kriegt sie wieder Luft.
Meine Geschwister sind schon groß und in die eigenen Ferien gefahren, auch für Lisbeth haben meine Eltern einen Verein gefunden, der eine Rollstuhlreise nach Schottland anbietet. Ich bin das jüngste Kind, alle nennen mich den Kurzen. Wir packen das Auto am Abend davor. Meine Mutter stopft viel zu viele Klamotten für zwei Wochen in die Koffer, auch Herbstkleidung, als würden wir auf einen fremden Kontinent reisen, man weiß doch nie, wie das Wetter da oben ist. Mein Vater zelebriert sein jährliches Ritual, verschwindet im Schlafzimmer und kommt mit einer kleinen Banktasche aus Leder zurück: Dort hat er das ganze Jahr über große Münzen und kleine Scheine gesammelt. Wir setzen uns um den Küchentisch herum und zählen fiebrig, Donnerwetter, ist das wieder viel. Dreihundertfünfzig Mark für Fischbrötchen und Eis und Spielsachen für den Strand und Souvenirs und kleine Geschenke, mit denen mein Vater meine Mutter überrascht. Mein Vater trinkt vor der Fahrt nichts, das war früher anders, da ist er auch mit Restalkohol losgefahren. Jetzt ist er älter und braucht Konzentration für die Strecke. Meine Mutter kocht Eier und belegt die Brote mit Wurst und Käse, darin hat sie Routine, das macht sie auch für meinen Vater vor der Schicht. Dann sind alle Koffer im Auto, zum Schluss kommt das Wichtigste, ein ganzer Pappkarton mit Zigarettenstangen. Es hat gerade noch so geklappt, ein Kollege meines Vaters hat ihm die Zigaretten ohne Steuerbanderole aus Polen mitgebracht. Wusstest du, sagt mein Vater, der mehr redet als üblich, dass die Zigaretten nach dem Krieg eine eigene Währung waren? Wäre das heute noch so, hätten wir jetzt richtig viel Moos.
In der Nacht schlafe ich kaum. Ich lecke mir das Salz von den Lippen. Im Halbschlaf wird aus dem Gluckern der schlecht entlüfteten Heizkörper das Rauschen des Meers. Dann sitzen wir im Auto. Meine Mutter steckt sich eine Zigarette an und reicht sie meinem Vater. Die Radiosender ändern sich stündlich. Wie auf der Reise in ein fernes Land. An einem Rastplatz bei Ascheberg essen wir unsere Eier und die Brote. Meine Mutter rückt auf der Bank ganz nah an meinen Vater und lehnt sich an. Sie trinken Kaffee aus der Thermoskanne und teilen sich eine Zigarette. Dann fahren wir weiter. Auf den Feldern tauchen die ersten schwarzgefleckten Kühe auf. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Die Autobahn ist leer, wir sind um fünf Uhr morgens losgefahren, und man braucht nur dreieinhalb Stunden. Heute haben wir das Glück im Rücken, murmelt mein Vater. Was, frage ich, weil ich denke, ich hätte mich verhört. Glück, schreit er ungehalten. Und ich wundere mich. Denn viel öfters sagt er: Das Pech klebt uns wie Scheiße an den Fingern. Das mit dem Glück hingegen höre ich nur ein einziges Mal. Das ist so bemerkenswert, dass ich den Satz nach seinem Tod sogar dem Pfarrer diktiere für seine Grabrede. Heute haben wir das Glück im Rücken.
Während mein Vater die ersten Stunden an der Nordsee verschläft und ich für ihn Regenwürmer sammele, besucht meine Mutter unsere Vermieter. Diesmal bringt sie Sauerländer Honig und eine Flasche Wacholderschnaps mit. Fenna und ihr Mann Finn wohnen nebenan. Finn ist hager und wortkarg und arbeitet als Schiffsingenieur in Wilhelmshaven. Fenna ist kräftig, backt den ganzen Tag Brot und Kuchen, flennt bei jeder Gelegenheit und sagt nicht, warum. Mit Finn und Fenna verstehen sich meine Eltern. Das ist selten. Denn meine Mutter eckt überall an, dauernd kämpft sie um ihr, wie sie sagt, gutes Recht. Das ist doch ein starkes Stück, meckert sie und pflaumt die Leute an. Am Grabbeltisch, auf dem Amt, im Linienbus. Immer kommt sie zu kurz, immer regt sie sich über die Welt auf, die sich gegen sie, die sich gegen uns, verschworen hat. Als hätten wir es nicht schon schwer genug. Sie meint es nur gut, für Freundschaften allerdings ist das schlecht. Mein Vater wird vor anderen Leuten nicht laut. Aber mit denen hat er auch nichts zu tun. Er ist in keinem Verein. Nicht bei den Taubenzüchtern, nicht im Männerchor, nicht im Kegelclub und erst recht nicht beim Altherrenfußball. Er ist ein Eigenbrötler, und das ist noch untertrieben. Er muss schon ordentlich trinken, bis er gesellig wird. Und da er zum Saufen nicht in die Kneipe geht, bleibt er immer bei uns.
Mit Finn und Fenna ist das anders. Wir sitzen abends zusammen im Garten, und es wird gegrillt. Meine Mutter redet und lacht unentwegt, mein Vater tauscht mit Finn einige Details über die Teile aus, die er schmiedet. Manche davon gibt es auch im Schiffsmotor. Sie duzen sich, auch das gibt es nicht oft, normalerweise läuft bei meinen Eltern alles per Sie. Vielleicht klappt es so gut, weil wir nur ein Mal im Jahr hier sind, vielleicht macht uns die Nordseeluft zu anderen Leuten, vielleicht sind wir hier nicht so klein und verbissen, vielleicht gehören wir in Wahrheit an diesen Ort, wo es nach Kuhmist riecht und es mehr Tiere als Menschen gibt.
Während meine Mutter bei Fenna sitzt und erzählt, was seit unserem letzten Urlaub passiert ist, knie ich auf dem Boden und verteile gewissenhaft das Wasser mit dem Spülmittel auf den Steinen vor dem Haus. Es sickert in die Ritzen. Dann winden sich die ersten Tiere aus dem Boden. Sie wissen nicht, was das für eine ätzende Flut ist, die aus heiterem Himmel über ihr Zuhause hereinbricht. Ich will meinen Vater beeindrucken, ihm ein randvolles Glas mitgeben, als würden die Fische allein durch das Überangebot an Ködern anbeißen. Bald wird mein Vater aufstehen und die Angel aus dem Auto holen, die darf ich nicht anrühren. Er wird das Glas mit den Regenwürmern in der Hand wiegen, die Unterlippe stumm nach vorn schieben und anerkennend nicken. Dann nimmt er das rostige Gästefahrrad aus dem Schuppen, dessen Sattel seinen schweren Körper kaum trägt, klemmt die Utensilien umständlich unter den Gepäckträger und verschwindet für Stunden, bis wieder Ebbe ist. Mich kann er am Meer nicht gebrauchen, ich quatsche ihm zu viel. Er will in Wahrheit nur seine Ruhe, behauptet aber, selbst die Fische könnten mein Gelaber nicht ertragen und würden stiften gehen. Er wird mit leeren Händen zurückkommen, er hat nur ein einziges Mal einen Aal gefangen, so einen Oschi, erzählte er hinterher, aber dann hatte die vorbereitete Reuse ein Loch.
Als mein Vater mit dem Fahrrad außer Sichtweite ist, halte auch ich es nicht mehr aus. Ich gehe in den Garten, wo meine Mutter fröhlich sitzt und raucht, während Fenna in der Küche den Käsekuchen anschneidet, den sie für uns gebacken hat. Ich will nicht bleiben, sondern mich nur kurz verabschieden. Aber meine Mutter macht mir eine Szene, wie üblich. Mit Tränen in den Augen drückt sie mich an sich, als würde ich auf Weltreise gehen, dabei will ich doch nur mit dem Fahrrad ein paar Kilometer zur Nordsee fahren. Pass auf dich auf, fahr schön langsam, geh auf keinen Fall ins Wasser, hörst du, da sind selbst gute Schwimmer schon ersoffen, und schieb das Fahrrad den Deich runter, versprich mir das, hier hast du fünfzig Pfennig, wenn was ist, dann rufst du von der Telefonzelle aus die Fenna an und wir kommen dich holen, hast du das verstanden? Sprich nicht mit fremden Leuten, nimm dein Asthmaspray mit, und mach dir Sonnencreme ins Gesicht, aber ganz flott.
Ich nicke mit gespieltem Ernst, die ständigen Sorgen meiner Mutter gehen mir auf die Nerven. Das ist doch nicht normal, denke ich, so ist doch sonst keine Mama, aber ich mache mit. Jedes Widerwort würde mein Abenteuer nur verzögern, und ich will endlich los. Ich schnappe mir das kleine Kinderfahrrad aus dem Geräteschuppen. Vorbei an den Kuhställen, vorbei an den Kartoffelfeldern, rauf auf den Deich, runter vom Deich, ich begrüße die Schafe wie...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Adoption • Christian Baron • Didier Eribon • eBooks • Edouard Louis • Familiengeschichte • kleine Verhältnisse • Neuerscheinung • Nordsee • Proletariat • Roman • Romane • Ruhrpott |
ISBN-10 | 3-641-30489-X / 364130489X |
ISBN-13 | 978-3-641-30489-8 / 9783641304898 |
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