Wenn die Masken fallen (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
542 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9649-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn die Masken fallen -  Nicola Upson
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Zwei können ein Geheimnis bewahren - wenn einer von ihnen tot ist

Inspektor Archie Penrose lädt seine enge Freundin Josephine Tey in sein Elternhaus in Cornwall ein, damit die Krimiautorin nach einer turbulenten Zeit endlich mal wieder durchatmen kann. Josephine freut sich sehr über die Einladung, zumal das Haus auch in unmittelbarer Nähe des berühmten Freilichttheaters von Minack liegt, das eindrucksvoll auf den Klippen über dem Meer thront. Doch ihre Hoffnung auf Ruhe und Entspannung löst sich schnell auf, als ihre Ankunft mit dem mysteriösen Tod eines jungen Mannes im Dorf zusammenfällt. Schon bald werden immer mehr Menschen vermisst oder tot aufgefunden, und Josephine und Archie müssen davon ausgehen, dass sie es mit einem kaltblütigen Mörder zu tun haben, der vor weiteren Verbrechen nicht zurückschreckt.

Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mehrbändigen Krimireihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimiautorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall.

1


Die Sonne brannte auf Harry Pinchings Sarg hinab, und Archie Penrose verlagerte das Gewicht auf seiner Schulter, in dem vergeblichen Versuch, sein Unbehagen ein wenig zu lindern. Nun schien das schwere Eichenholz noch stärker gegen seinen Hals zu drücken, und er nahm bei jedem Atemzug den schwachen Geruch von Holzpolitur wahr, deren süßlicher, heimeliger Duft einen scharfen Kontrast zur Stimmung des Tages bildete. Die Hitze war extrem für diese Jahreszeit, sie allein wäre schon Zumutung genug gewesen. In Kombination mit dem, was seine Sinne sonst auszuhalten hatten, war sie fast unerträglich, und Archie war froh, als die Stalluhr zwölf Uhr läutete, das Signal für das kleine Grüppchen Männer, sich in Richtung des wartenden Leichenwagens in Bewegung zu setzen.

Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, am ersten Tag seines Urlaubs einer Beerdigung beizuwohnen. Die zwei Wochen auf dem Familienanwesen in Cornwall waren als dringend benötigte Pause von seinem beruflichen Umgang mit dem Tod gedacht gewesen. Und noch wichtiger, er hatte sich geschworen, dass er in dieser Zeit einen Neubeginn wagen wollte, was seine langjährige, schwierige und dennoch kostbare Freundschaft zu Josephine Tey anging. Sie kannten sich nun schon seit zwanzig Jahren, von denen achtzehn von Geheimnissen und Schuldgefühlen überschattet gewesen waren. Erst die tragischen Ereignisse des vergangenen Jahres hatten es ihnen ermöglicht, endgültig reinen Tisch zu machen. Seither hatten sie sich noch einige Male in London getroffen, aber hier in Cornwall würden sie Gelegenheit haben, sich länger zu sehen und die neue Leichtigkeit und Ehrlichkeit in ihrer Freundschaft zu genießen. Zugegeben, es war ursprünglich geplant gewesen, dass sie gemeinsam herfuhren, und die Tatsache, dass nun ausgerechnet ein Toter ihre Pläne durchkreuzt hatte, könnte als schlechtes Omen gewertet werden. Aber da der Sommer so ungewöhnlich früh und strahlend hereingebrochen war, und Josephines Zug am Nachmittag eintreffen sollte, war Archie dennoch zuversichtlich: Tod und Trauer würden schon bald hinter ihnen liegen. Ihre gemeinsame tragische Vergangenheit zu vergessen, war unmöglich, das hätte auch keiner von ihnen gewollt. Allerdings würde sie von nun an hoffentlich ihre Bindung stärken, statt eine unbehagliche Atmosphäre zwischen ihnen zu schaffen, der sie ständig auszuweichen versuchten.

Als Leichenwagen, der nur wenige Meter entfernt stand, diente eine offene, schlichte Kutsche, die zu dem jungen Mann passte, dessen Leichnam sie transportieren sollte. Sie wurde – eine Geste des Verzeihens, die Archie bemerkenswert fand – ausgerechnet von dem Pferd gezogen, das ihm den Tod gebracht hatte. Das Gefährt war liebevoll mit den prächtigen Blumen geschmückt, die Cornwall zu dieser Jahreszeit im Überfluss zu bieten hatte, zusammengetragen aus den Gärten von Freunden, die froh waren, ihrer Trauer auf diese Weise Ausdruck verleihen zu können. Die Sargträger bewegten sich langsam auf die Kutsche zu, sorgsam darauf bedacht, im Gleichschritt zu bleiben. Archie war nah genug an seinem Vordermann, um zu erkennen, wie sich dessen Halsmuskeln unter dem Gewicht des Sargs und der Verantwortung anspannten. Nachdem sie ihre Last vorsichtig in den Leichenwagen hinuntergelassen hatten, spiegelten die Gesichter der anderen Träger seine eigene Erleichterung wider. Sie hatten nur kurz mit Harrys Leichnam auf den Schultern dastehen müssen, doch in der Mittagssonne hatte es gereicht, um ihre Beerdigungsanzüge mit Schweiß zu durchtränken. Archies Hemd klebte unangenehm an seinem Rücken, und sein dunkler, gut geschnittener Anzug kam ihm unbequem und einengend vor. Er fühlte sich darin ebenso fremd wie die übrigen Männer, deren Alltag auf dem Gutshof normalerweise weniger förmliche Kleidung erforderte. Es müsste verboten sein, bei derartigen Temperaturen Beerdigungen abzuhalten, dachte er. Wenn er selbst eines Tages unter die Erde gebracht wurde, hoffte er auf Regen oder zumindest auf Wetter, das weniger wie eine Verhöhnung von Trauer und Abschied wirkte.

Der Sarg wurde festgezurrt, und Archie warf einen Blick auf die anderen Träger, fünf Männer unterschiedlichen Alters und Berufs, die ihm alle mehr oder weniger vertraut waren. Er war auf diesem Anwesen aufgewachsen – gut sechshundert Hektar herrlichstes Wald- und Ackerland an der Südküste –, kehrte seit dem Tod seiner Eltern jedoch nur noch selten hierher zurück. Sein Onkel William Motley hatte Loe Estate kurz vor dem Krieg geerbt, und Archie bewunderte es, mit wie viel Einfallsreichtum und Schwung er Haus und Ländereien seither bewirtschaftete. Ein solches Leben wäre nichts für ihn gewesen, er bevorzugte es genau wie seine Cousinen Lettice und Ronnie, die erfolgreich Bühnenbilder und Kostüme für renommierte Theater entwarfen, London sein Zuhause zu nennen. Seinen Urlaub hier auf dem Land zu verbringen, war eine Sache – bei öffentlichen Anlässen wie diesem die Familie vertreten zu müssen, eine ganz andere. Die Bewohner des Anwesens waren höflich und schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, aber auf einem landwirtschaftlichen Betrieb hatte keiner Verwendung für einen Detective Inspector von Scotland Yard, und es fiel ihm schwer, diese Rolle abzulegen und nur noch Privatmann zu sein. Archie Penrose fühlte sich sonst selten fehl am Platz. Es ärgerte ihn außerordentlich, dass es ihm ausgerechnet unter den Männern und Frauen so ging, die er seit seiner Kindheit kannte.

Er vermied offizielle Aufgaben daher, so gut er konnte, doch heute hatte er keine Wahl. Es war seit jeher Tradition auf Loe Estate, dass ein Vertreter jeder auf dem Anwesen lebenden Familie den Sarg trug, wenn ein Gemeindemitglied das Zeitliche segnete. Während diese Vertreter nun ihre Positionen neben der Kutsche einnahmen und sich bereit machten, den Toten zu der kleinen Kirche auf den Klippen zu geleiten, dachte Archie, dass es keinen passenderen Ausdruck des Respekts hätte geben können: Die Anwesenden standen für das ländliche Leben in dieser Ecke von Cornwall, hier hatte sich in den vergangenen dreihundert Jahren kaum etwas verändert. Für einige Stunden waren sie nicht nur Individuen und Freunde, sondern sie symbolisierten auch die hiesige Landschaft und Lebensweise, und jeder von ihnen konnte auf seine Weise Zeugnis ablegen von dem Beitrag, den der Tote für ihre Gemeinde geleistet hatte. Archie war plötzlich tief bewegt davon, an dieser Zeremonie teilzuhaben, auch wenn er sein Anrecht darauf bisweilen infrage stellte.

Sie waren jetzt bereit, sich in Bewegung zu setzen, und der Bestatter – Jago Snipe, ein stattlicher, gefällig aussehender Mittfünfziger, dessen einziger für die Branche typischer Charakterzug seine beruhigende Bestimmtheit im Umgang mit dem Tod war – ging zu den zwei jungen Frauen hinüber, die neben der Tür des Gutshauses warteten, ein wenig entfernt vom Geschehen, als hegten sie Widerwillen. Archie erkannte in ihnen Harrys Schwestern – seine Zwillingsschwester Morwenna und ein deutlich jüngeres Mädchen, Loveday, das inzwischen dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein musste. Die beiden wirkten verloren und schienen nicht recht zu wissen, was sie tun sollten, Morwenna noch weniger als ihre jüngere Schwester. Beide waren offensichtlich dankbar, als Jago ihnen tröstend die Arme um die Schultern legte und sie hinüber zum Leichenwagen begleitete. Archie beobachtete, wie Harrys einzige Angehörige dem Blumenschmuck der Kutsche ihre persönlichen Abschiedsgaben hinzufügten: Morwenna hielt seine besten Reitstiefel in der Hand und legte sie vorsichtig oben auf den Sarg, und Lovedays Beitrag war ein Hufeisen – kein echtes, sondern ein aus Holz geschnitztes, das mit Laub und Blumen wunderschön geschmückt war. Keins dieser Geschenke schien angemessen zu sein für einen Mann, der bei einem Reitunfall gestorben war, aber Harry hatte eben sein ganzes kurzes Leben mit Pferden verbracht, und es überraschte Archie nicht, dass seine Hinterbliebenen fanden, dies seien die Gegenstände, die er gern ins Jenseits mitgenommen hätte. Loveday war kleiner als ihre Schwester und hatte Probleme, den Sargdeckel zu erreichen. Archie, der in der Nähe stand, machte automatisch einen Schritt nach vorn, um ihr zu helfen. Während er das Mädchen hochhob, fing er Morwennas Blick auf und war erschrocken darüber, wie bleich und müde sie aussah, selbst für eine Trauernde. Ihm wurde bewusst, wie lang der Albtraum gewesen war, den sie hatte erleiden müssen: Loe Pool, der See, in dem Harry ertrunken war, hatte seine Leiche nur widerwillig herausgerückt, und es waren Wochen vergangen zwischen seinem Tod und seiner Beerdigung. Die gnadenlose Mischung aus Hoffnung und Angst, die sie in dieser Zeit begleitet hatte, musste sie völlig ausgelaugt haben, zumal die unausweichliche Folge von Harrys Tod war, dass sie nun zum Familienoberhaupt wurde und für eine Schwester verantwortlich war, die allgemein als »schwierig« galt. Kein Wunder, dass Morwenna Pinching nur noch wenig Ähnlichkeit mit der jungen temperamentvollen Frau hatte, an die er sich so lebhaft erinnerte.

Die Trauergemeinde bewegte sich langsam vom Haupthaus des Anwesens weg, durchschritt dichte Rhododendronhecken und steuerte in Richtung des Weges, der zu der kleinen Kirche auf den Klippen führte. Nachdem sie um die Kurve der Auffahrt gebogen waren, erhaschten die Trauernden den ersten Blick auf den See, der sie alle hergeführt hatte, ein zwei Meilen langes Gewässer, das vom Meer durch eine schmale Sandbank getrennt war. An einem Tag wie diesem, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und kaum ein Lüftchen wehte, wirkte er ruhig und harmlos, aber jeder, der lang genug hier lebte, um seine Geschichte zu kennen, wusste, dass man ihm mit Respekt begegnen musste. Im Gegensatz zu vielen anderen Legenden, die sich...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2024
Reihe/Serie Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Übersetzer Verena Kilchling
Sprache deutsch
Original-Titel Angel with two faces
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 20. Jahrhundert • Archie Penrose • Britisches Golden Age • Cozy Crime • Ermittlerin • Historischer Kriminalroman • Historische Spannung • Josephine Tey • Krimi 20. Jahrhundert • Krimis von Frauen • Krimi Zwischenkriegszeit • Minack Freilichttheater • Minack Theatre • Provinz-Krimi • Regiokrimi • Regionalkrimi Cornwall • weibliche Ermittlerin • Wohlfühlkrimi • Zwischenkriegszeit
ISBN-10 3-0369-9649-4 / 3036996494
ISBN-13 978-3-0369-9649-3 / 9783036996493
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