Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten (eBook)

Roman | Eine neue literarische Stimme über die sozialen Umstände, die Mütter zu unglücklichen Menschen machen
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2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3113-3 (ISBN)

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Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten -  Slata Roschal
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Ein kleines Hotelzimmer, das ein Fenster zur Welt wird Eine Frau, die hat, was nach gängigen Kategorien eine geglückte Biographie ausmacht, sitzt in einem Hotelzimmer und denkt darüber nach, alles hinter sich zu lassen: ihren Mann, ihre Kinder, ihre Existenz, möglicherweise ihr Leben insgesamt. Zerrissen von einer unbestimmten Unzufriedenheit, getrieben von Überforderung nimmt sie einen Übersetzungsauftrag an, der alles verändert. Historische Briefe von deutschen Auswanderern zerschmettern ihr Hotel-Vakuum und im Austausch mit fremden Toten, mit unerwarteten Wegen stellt sich die Frage nach dem guten Leben überraschend anders. Bereits Slata Roschals Debüt war 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Mit »Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten« beweist sie sich als eine der interessantesten jungen Stimmen in der deutschsprachigen Literatur. 

Slata Roschal, geboren 1992 in Sankt Petersburg, promovierte an der LMU München in der Slawistik. Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern und das Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern. Bereits erschienen sind ihre Lyrikbände Wir verzichten auf das gelobte Land (Reinecke & Voß, 2019) und Wir tauschen Ansichten und Ängste wie weiche warme Tiere aus (Hochroth Verlag, 2021). 153 Formen des Nichtseins, ihr Romandebüt, wurde 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Slata Roschal, geboren 1992 in Sankt Petersburg, schreibt Lyrik und Prosa. Ihr Romandebüt 153 Formen des Nichtseins wurde 2022 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet.

Ich habe Angst zu leben, es rauscht an mir vorbei, alles, was so als real bezeichnet wird, und ich bin kein Teil des Zimmers, kein Teil des Hauses, der Straße, der Stadt, von nichts bin ich ein Teil. Ich stelle mir vor, wie ich einen Brief an dich schreibe, der dich erreichen wird, wenn ich schon wieder zuhause bin, ein, zwei Tage später vielleicht, ich werde ihn hier am Hauptbahnhof in den Briefkasten werfen, und dann wird ein Wettrennen beginnen. Ich werde dich bitten, nicht den Briefkasten zu öffnen, und wenn du zur Arbeit fährst, den Brief selber rausholen, ihn mit einem Messer, einem kurzen, gebogenen Schälmesser aufschneiden, mir einen Tee machen, mich fertig machen auf dem Sofa, auf einer frisch gewaschenen Decke, gespannt aufschlagen, genüsslich schlürfen, aufschauen, fassungslos sein, flüstern, fluchen, mit dem Schälmesser in die Seiten stechen, es wird nicht leicht sein, sie kleinschneiden, auf der Decke, auf dem Sofa Wunden hinterlassen. Kannst du dir vorstellen, dir selbst eine Ohrfeige zu geben, nicht als Geste, sondern wirklich. Ich habe es versucht und es ging nicht. Das Zimmer ist mein Untergrund, in dem ich mich verstecke, mit Muttermalen, Pickeln und Poren, das Frühstück vor die Tür bestelle, gegen Aufpreis, schnell aufschließe, das Tablett mit dem Fuß hereinziehe, abschließe, Wassermelone esse, älter werde, vor mich hin vegetiere, seltsam werde, aber noch lange kein Kunststück. Würden mein Hals, meine geschorenen Beine und Arme doch dem Porträt einer melancholischen Dame entsprechen, zierlich, länglich und fein.

Noch zwei Tage, dann ist das Seminar vorbei, die Zusage ein reiner Zufall, den Zug gekriegt, die U-Bahn in Berlin, war überwältigt von dieser riesigen gläsernen Halle. Mecklenburg ist ein endloser Friedhof, Rapsfelder und Blümchen und alles, aber das war es dann auch, was kann schon Gutes werden in diesem Land, ein paar Talente werden zufällig in Prillwitz oder Neustrelitz geboren und ziehen schnell weg, sobald sie erwachsen genug sind, und wer dableibt, ist so blöd, hier ein Einfamilienhaus zu bauen, oder umgekehrt, der hat kein Geld, um außerhalb zu überleben. Ich habe rechtzeitig und mehrmals gesagt, schon seit der Bewerbung vor Monaten, Ich muss hier weg, verstehst du, wenigstens für ein paar Tage, Anschluss finden, Kollegen kennenlernen, außerdem werde ich zuhause nie mit dem Übersetzen fertig, mit den Briefen.

Laura wuchs etwas auf der Stirn, kurz vor dem Haaransatz, ich dachte, es wäre eine Beule, von Freitag, von der Krippe, aber es wuchs weiter, nahm seltsame Formen und Farben an. Kannst du schauen, ob es doch ernst ist.

Sie freuten sich schon, Eliah versuchte in seinem Zimmer ein Körbchen zu basteln, aus buntem Karton, war eigentlich für den Vatertag, sogar Laura sagte was von Eiersuche und machte große Augen. Wenn sie nicht schreit, ist sie hübsch. Mutter rief an, erzählte von einer Nebenkostenabrechnung.

Am Samstag, als ihr wieder spazieren wart, holte ich eine Schaummatte aus dem Schrank, früher für Yoga und Dehnungsübungen, wollte ein Video anmachen auf dem Handy, mich bisschen bewegen, legte mich dann auf die Matte, auf den Rücken, lag die ganze Zeit so da, bis ihr wieder zurück wart, es war kalt draußen und ihr wart ziemlich schnell zurück.

Zu jedem Fest einen Ring, manchmal eine Kette, auch Ohrringe, aber immer nur kleine Stecker, große machten mich nervös, du hattest einen Katalog geholt und ich kreiste mit einem roten Filzstift ein, was mir gefiel, später Links per WhatsApp, einmal, weißt du noch, da wollte ich zum Geburtstag einen feinen Ring aus Rotgold mit abwechselnd kleinen Brillanten und grünen Steinchen, du hast das Bild gezoomt, die Steine seien nachträglich gefärbt, miese Qualität also, seitdem suchte ich mir alles ohne Steine aus. Habe eine kleine Sammlung, die Teile sind einzeln nicht so teuer, dass man sie nicht verlieren dürfte, aber schön, in verschiedenen Größen, die Finger schwellen mal an, mal schrumpfen sie wieder, kurz vor der Entbindung, zwei Mal, passte kein einziger Ring, und danach, in ein paar Monaten, fielen sie von den Fingern.

Morgens, wenn ich aufwache, schaue ich auf die schweren blauen Gardinen vor dem Fenster, denke an alles, was kommt, an diesem Tag, am nächsten, an alles, was ich machen muss oder einfach werde, und mir fällt nichts ein, was ich gerne machen würde, nichts, was eine Vorfreude aufkommen ließe, ich schließe wieder die Augen und warte, bis Laura hinter der Wand zu weinen oder Mamama zu rufen beginnt.

Wir leben ja ganz gut eigentlich. Zum Beispiel, weißt du, entsorge ich regelmäßig Kleingeld, die braunen Centmünzen also, einfach aus dem Portmonee, wenn es zu dick und schwer wird, und wenn die Tasche zu schwer ist, zieht es im Nacken und steigt hoch und der Kopf beginnt zu brennen, schütte also die Münzen einfach auf den Boden, sammle sie ein, lege sie in eine Schatulle auf der Kommode im Flur, die kaum mehr zugeht, daran sehe ich, dass es mir gut geht, dass mein Geld sich nicht in Cents misst, ich gab sie sogar Eliah als Spielgeld für seine Kasse. Einmal habe ich, als es die Schatulle noch nicht gab, die Münzen weggeworfen, in den Mülleimer, in der Küche, einfach weggeschmissen, es fühlte sich grandios an. Ich beließ es bei diesem einen Mal.

Hätte ich gewusst, dass es ein Kaiserschnitt, wie groß die zweite Narbe, ich hätte mich geweigert, hätte meine Sachen gepackt und wäre nach Hause geflohen, dann zum Bahnhof, in einen Zug gestiegen, nach Berlin, weiter, immer weiter, irgendwann wäre mein Bauch schon von allein leer und heil, und ich, wie früher, als ob nichts geschehen, wäre weitergefahren, in irgendeine Stadt, in jede, die mir gefällt.

Fühle mich wie ein morscher Baum, wie ein gefällter Baum, irgendwo im Sumpf, der so gut wie nicht mehr existiert, von dem sich neue Wesen nähren, Pilze, Moose, lassen ihre Wurzeln in ihn treiben, ziehen seine Säfte in ihre eigenen Körper, er hat seinen Sinn darin, einzugehen für neue Leben, und von ihm selbst bleibt irgendwann nichts übrig. Der Strauß mit den weißen Tulpen, ich habe gefragt, Warum denn so einen teuren, das Etikett klebte noch dran, und du hast gesagt, Damit der Frühling schneller da ist, so etwas hattest du noch nie gesagt, es war irgendwie so überraschend und rührend, dass ich den ganzen Tag dran denken musste, wie du es gesagt hast, mit einer beinahe Zärtlichkeit.

Warum sollte ich nicht hier sein, habe zwei Romane übersetzt, drei Lesungen moderiert, einmal promoviert, reicht das etwa nicht aus, um hier zu sein, ich habe es nötiger als alle anderen, die anderen haben Zeit und Status und Work-Life-Balance, keiner schaut so angespannt wie ich, sie wippen mit den Füßen und stehen auf, um Kaffee zu holen, und ich beuge mich über meinen Notizblock, schreibe jedes Wort jedes Vortragenden mit, denke an Eliahs neue grün-graue Jacke mit Fleeceweste, ihr Reißverschluss klemmt, keiner außer mir denkt an Reißverschlüsse, das sehe ich ihnen an, und ich bin ein Dieb, ein Betrüger, trage Blazer und Namensplakette und gehöre keinem Institut mehr an, in zwei Jahren bekam ich kein einziges Stipendium, gebe vor, zu sein, was ich nicht bin.

Zwei identische riesige Plüschhasen, vier gleiche braune und weiße Schokohasen von Arko und zwanzig mittelgroße bunte Eier mit verschiedener Füllung, so versteckt, dass auch Laura etwas findet und rankommt, und sie hat auch alles gefunden, wollte beide Plüschhasen, Eliah wollte alle Schokohasen, Laura wurde hysterisch, ich trug sie ins Bett, Eliah war wütend, sagte, Ich hasse Ostern, ich nahm 2 × Ibuprofen, Eliah schaute das erste Mal Minions, Laura wachte gegen vier auf mit Mamama, habe Spaghetti gekocht, Fliesen gewischt, vorgelesen, mich hinausgeschlichen, in der Küche aufgeräumt, dann warst du da, wir aßen zusammen, lasen vor, schlichen uns hinaus, räumten in der Küche auf.

Ich kannte mal eine, Sabine, du kanntest sie nicht, sie ist letztes Jahr nach Berlin gezogen wegen der Arbeit ihres Mannes, eine, die überzeugt davon war, nur Stillen sei ihres Kindes wert, sie holte sich eine Stillberaterin, kaufte Cremes, trank Kräutertee, lieh Pumpen aus, beugte Milchstau vor, knetete sich unter warmer Dusche, und wenn sie zu erzählen begann, ging es um Brüste, Warzen, Areolen. Wäre ich ihr Mann, hätte ich, glaube ich, so richtig Lust fremdzugehen, die Milchfabrik zuhause zu lassen, auf Körper zu treffen, die nicht zur Aufzucht von anderen Körpern bestimmt wären.

In der Kita hat Eliah auf einen Papierdrachen gezeigt, über seinem Fach an der Wand, er war sehr stolz und zufrieden. Ich habe ihm immer wieder bestätigt, Ja, das ist toll, hast du gut gemacht, aber nicht wirklich überzeugend, könntest du ihn nach dem Drachen fragen und ihn loben. Stelle mir manchmal vor, durch irgendeinen Unfall oder Zufall oder sonst was, frühzeitig, wobei jeder Tod ja frühzeitig, was soll mit den Kindern werden, und manchmal habe ich richtig Angst und kann nicht schlafen, und manchmal spüre ich bei diesem Gedanken nichts, keine Angst oder Unruhe oder so. Am Freitag fuhr ein Mann im Park auf einem Fahrrad an uns vorbei. Er trug eine Art String, an dem ein Schlüsselbund befestigt war, ansonsten war er nackt und barfuß. Eliah bemerkte zum Glück nichts, und Laura stand im...

Erscheint lt. Verlag 1.2.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Allein • Buch • Depression • Deutsch • Frau • Gesellschaft • Intro • jung • Klasse • Klassismus • Kopf • literarisch • Literatur • Monolog • Nominiert • poetisch • politisch • Preis • Roman • Schreiben • Sozial • spektive • sprachig • Stimme • verloren • Welt • Zimmer
ISBN-10 3-8437-3113-6 / 3843731136
ISBN-13 978-3-8437-3113-3 / 9783843731133
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