Kafka (eBook)
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28034-2 (ISBN)
'Ich habe kein litterarisches Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein', schrieb Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer. Das Schreiben war seine Existenz, die ihm mehr bedeutete als ein vollendetes Werk. Rüdiger Safranski beobachtet Franz Kafka beim Schreiben, um den Geheimnissen seiner Texte näher zu kommen. In dessen Briefen liest er von den Augenblicken des Glücks, die Kafka am Schreibtisch erlebt, und von Momenten, in denen ihm die Welt vollkommen fremd erscheint. Versteht man Kafkas Bücher als Zeugnisse solcher Grenzerfahrungen, entfalten ihre Geheimnisse eine ganz unmittelbare Kraft. Eine solche Lektüre führt ins Zentrum eines Werks, das zu den Höhepunkten der Weltliteratur zählt.
Rüdiger Safranski, geboren 1945, studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. Wissenschaftlicher Assistent, Herausgeber und Redakteur der Berliner Hefte, Dozent in der Erwachsenenbildung, seit 1986 freier Autor. Für sein in zahlreiche Sprachen übersetztes Werk wurde er u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2014), mit dem Ludwig-Börne-Preis (2017) und dem Deutschen Nationalpreis (2018) ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund! Biographie (2019), Klassiker! (2019, mit Michael Krüger und Martin Meyer), Einzeln sein (2021) und Kafka. Um sein Leben schreiben (2024). Rüdiger Safranski lebt in Badenweiler.
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Erstes Kapitel
›Ich bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes‹. Das Tao vom Laurenziberg. Erste Versuche. »Beschreibung eines Kampfes« Schwindelgefühle und Junggesellentum. »Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande«
Am 14. August 1913 schreibt Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer: Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein. Damit will er Felice warnen: Schreiben ist für ihn keine schöne Nebensache, kein Ausgleich für die Belastungen im Berufsgeschäft. Er interessiert sich nicht für Literatur, er ist Literatur, ganz und gar. Felice soll das endlich begreifen, andernfalls hält sie sich an jemandem fest, den es gar nicht gibt. Denn auch für sich selbst existiert er nur in seinem Schreiben, der Rest ist ein Leichnam. Er erzählt ihr als Gleichnis für seine Verbindung mit der Literatur die Geschichte einer Teufelsaustreibung: Ein Kleriker hatte eine so schöne süße Stimme daß sie zu hören die größte Lust gewährte. Als ein Geistlicher diese Lieblichkeit eines Tages auch gehört hatte, sagte er: das ist nicht die Stimme eines Menschen, sondern des Teufels. In Gegenwart aller Bewunderer beschwor er den Dämon, der auch ausfuhr, worauf der Leichnam … zusammensank und stank.
Was er Felice gegenüber nicht so deutlich ausspricht, dafür aber im Tagebuch notiert, ist die schlichte Feststellung, dass er einem Leben jenseits der Literatur keinen Reiz abgewinnen kann, dass ihn alles anödet, was nicht mit dem Schreiben zu tun hat. Alles was sich nicht auf Litteratur bezieht, hasse ich, es langweilt mich Gespräche zu führen … Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem was ich denke die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.
Eine andere Tagebucheintragung lautet: Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufriedenstellen.
Es ist nicht das Traumleben allein, wodurch alles andere nebensächlich wird, sondern es ist die Lust an der Darstellung, die einen solchen Sog auf ihn ausübt. Die Lust des Schreibens also zieht ihn von der sonstigen Wirklichkeit ab, gibt dem Traumleben eine Form und führt es dadurch in das gewöhnliche Leben ein. So kann im Gewöhnlichen das Unheimliche aufscheinen. Dieser ganze Vorgang aber ist in sich selbst sehr fragil. Nun ist aber meine Kraft für jene Darstellung ganz unberechenbar … So schwanke ich also, fliege unaufhörlich zur Spitze des Berges, kann mich aber kaum einen Augenblick oben erhalten.
In diesen Augenblicken des Gelingens ist er ein anderer als sonst: furchtlos, bloßgestellt, mächtig, überraschend, ergriffen. So kennt man ihn nicht. Wie Antäus zum Riesen wird, wenn er den Boden berührt, so strömt Kafka Lebenskraft zu, wenn er schreibt. Er erklärt Felice, dass er nur darum den Mut hatte, um sie zu werben, weil er sich stark fühlte, da ihm gerade das Schreiben gelang. Das Schreiben, und nur das Schreiben, entband bei ihm Kräfte, von denen er sich sonst abgeschnitten fühlte. Und deshalb konnte er aus der gelungenen Verbindung mit dem Schreiben heraus auch entschiedener und kraftvoller auftreten. Dazu passt auch, dass Kafka äußerst lebendig seine eigenen Texte, aber auch die von anderen vortragen konnte und das auch sehr gerne tat. Der sonst eher scheue Mensch kam hier ganz aus sich heraus oder genauer: war vollkommen in dem enthalten, was er vortrug, und brachte es zur vollkommenen Entfaltung. Wer solche Vortragszenen Kafkas erlebt hat, konnte sie nicht mehr vergessen. Schreibend und vortragend war Kafka ein Verwandelter.
Eine Quelle des Schreibens ist eben auch die Lust an der Verwandlung. Ein anderer sein, wenigstens probeweise, mit der Möglichkeit der Rückverwandlung allerdings. Die berühmte Erzählung »Die Verwandlung« aber wird eine unwiderrufliche Verwandlung schildern — die in einen Riesenkäfer. Hier wird die Verwandlungslust zum Albtraum, der dann doch auch wieder lustvoll ausgemalt wird.
Der Verwandlungslust benachbart ist der Nachahmungstrieb. Kafka selbst hat von seiner mimetischen Begabung gesprochen. 1911 lernte er Tucholskis Freund, den Zeichner und Karikaturisten Kurt Szafranski, kennen und schildert nun im Tagebuch die folgende Szene: Safranski … macht während des Zeichnens und Beobachtens Grimassen, die mit dem Gezeichneten in Verbindung stehn. Erinnert mich daran, daß ich für meinen Teil eine starke Verwandlungsfähigkeit habe, die niemand bemerkt. Wie oft mußte ich Max nachmachen.
Das mimetische Verlangen treibt einen über sich selbst hinaus und lässt einen teilnehmen an einem anderen Leben und ist auf diese Weise auch verknüpft mit dem Schreiben.
Nun muss aber das Schreiben auch geschützt und bewahrt werden, und das erfordert den Rückzug. Eine widersprüchliche Bewegung: die Kraft des Schreibens lässt ihn auf Menschen zugehen und treibt ihn ins Alleinsein, das ihn nur dann nicht ängstigt, wenn er schreibt. So oder so, aus dem Schreiben entspringt ihm die Lebenskraft.
Sie entspringt ihm nicht aus den gewöhnlichen Lebenssphären der Gemeinschaft, der Familie, des Berufs, der Religion, der Sexualität. Da er das Schreiben hat, beklagt er sich nicht darüber, dass ihn der Lebensstrom niemals ergriffen habe. Die Folge davon ist, dass er auch in einem übertragenen Sinne abgemagert ist. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab.
Das notiert er in der Silvesternacht 1911/12 im Tagebuch und fährt dann fast euphorisch fort: Ich habe also nur die Bureauarbeit aus dieser Gemeinschaft hinauszuwerfen, um, da meine Entwicklung nun vollzogen ist und ich soweit ich sehen kann, nichts mehr aufzuopfern habe, mein wirkliches Leben anzufangen.
Mit dem Schreiben also fängt für Kafka das wirkliche Leben an.
Die frühen Schreibversuche zählen für ihn noch nicht. Er hatte damit in der Schulzeit am Altstädtischen Deutschen Gymnasium in Prag angefangen. Sogar einen Roman hatte er begonnen, der von zwei Brüdern handelte, von denen der eine im Gefängnis saß, der andere nach Amerika auswanderte. Damals hatte er es noch gerne, wenn man ihm beim Schreiben zusah. Es erfüllte ihn mit Stolz. Im Tagebuch erinnert er sich an einen Sonntagnachmittag bei Verwandten. Der Junge hatte seine Hefte mitgenommen, um auch dort vor aller Augen darin zu schreiben. Es ist schon möglich, daß ich … durch Verschieben des Papiers auf dem Tischtuch, Klopfen mit dem Bleistift, Herumschauen in der Runde unter der Lampe durch jemanden verlocken wollte, das Geschriebene mir wegzunehmen, es anzuschauen und mich zu bewundern.
Aus diesem Gefühl, zu Großem berufen zu sein, wurde er aufgeschreckt, als ein Onkel nach dem beschriebenen Blatt griff, es las und dann bemerkte: ›Das gewöhnliche Zeug‹.
Der stolze kleine Autor, der für sich schreibt und doch nach Aufmerksamkeit verlangt, fühlte sich in diesem Augenblick aus der Gesellschaft verstoßen und bekam, wie es im Tagebuch einigermaßen pathetisch heißt, einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt, den ich mit einem Feuer erwärmen mußte, das ich erst suchen wollte.
Schreiben also heißt: in die Nähe eines Feuers, einer Inspiration zu kommen. Während der Schulzeit war es vor allem ein Mitschüler, Oskar Pollak, dessen Nähe Kafka suchte, um das Feuer zu bewahren. Die Erinnerung an diese Freundschaft gab der Schulzeit rückblickend ein wenig Glanz, den sie sonst für ihn überhaupt nicht hatte. Kafka war zwar immer ein guter Schüler gewesen, doch hatte er, jedenfalls in der Erinnerung, sich stets als Versager gefühlt und mit Schrecken dem Augenblick entgegengesehen, da endlich offenbar würde, wie es mir, dem Unfähigsten und jedenfalls Unwissendsten gelungen war, mich bis hinauf in diese Klasse zu schleichen. So geschah es natürlich nicht, er zählte bei den Abschlussprüfungen immer zu den Besten.
Oskar Pollak war in der Schulzeit...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Biografie • Literaturgeschichte • Moderne • Prag • Schreiben • Schrift • Vater • Weltliteratur |
ISBN-10 | 3-446-28034-0 / 3446280340 |
ISBN-13 | 978-3-446-28034-2 / 9783446280342 |
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