Tanz des Verrats (eBook)
256 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28036-6 (ISBN)
September 2001, ein Kongress auf der Havel. Gewürdigt wird Paul Heudeber, Mathematiker, Kommunist und KZ-Überlebender, der spätestens seit seinem ungeklärten Tod Heiligenstatus genießt. Alle Blicke der Anwesenden wandern verstohlen zu Maja Scharnhorst, Pauls große Liebe, mit 83 faszinierend wie eh und je, auch sie eine Legende, die sich irgendwann für eine Karriere im Westen entschieden hat - ohne Paul. Als die Bilder der zerstörten Twin Towers die Festgesellschaft erreichen, nimmt die Veranstaltung eine ganz andere Wendung. Und es ist an Irina, der Tochter dieser überlebensgroßen Liebenden, die losen Fäden ihrer Geschichte zu entwirren und neu zu verflechten. Ein großer Roman über Widerstand, Liebe, Verrat und den Trost mathematischer Schönheit in einer von Gewalt erschütterten Welt.
Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona und Niort. Für den Roman Kompass erhielt er den Prix Goncourt, 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2021 erschien sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber und zuletzt Der perfekte Schuss (2023).
Mit dem Hintern auf einem Stein — einem dieser aus der Erde ragenden blaugrauen Felsen, die ebenso glatt wie hart sind, sich in der Sonne schnell aufheizen und nach Metall und Feuerstein riechen — könnte man von Erinnerungen stumpfsinnig werden: Gab es ein erstes Beben, einen rauen Wind, die Voraussetzung für die Logik der Brutalität, ein dem Krieg vorausgehendes, brünstiges Röhren, dem man sich nicht entziehen kann? Nein, scheint ihm,
es hat dich einfach überrascht,
bald werden die schwarzen Nattern aus ihren Löchern kriechen und die Männchen werden sich auf die Suche nach Weibchen machen,
er schnürt seine Stiefel auf, öffnet die Schnallen und löst die Riemen. Die Abnutzung, das Wasser und die Kälte haben das Leder zerschlissen. Der Geruch nach Scheiße ist immer noch da. Seine Hände sind rau, die weißen Handteller mit dunkleren Schwielen übersät und hart geworden vom festen Griff, mit dem er die hölzernen Schäfte umklammert hat. Seine Finger haben Tabakflecken und enden in vergilbten Nägeln, auf denen dunkler Schmutz mäandert, an Daumen und Handgelenk sieht man die Adern; seine Wangen sind kratzig vom struppigen Bart, sein Haar klebt fettig am Kopf, ist vom getrockneten Blut zu stumpfen, dunklen Strähnen verklumpt,
du wirst das Haus vor Anbruch der Nacht erreichen,
das Haus, die Hütte, den Unterschlupf — ein Bild, das sich sehr tief in seinen Erinnerungen und Hoffnungen eingegraben hat. Der Cairn seiner Kindheit. Hoch genug in den Bergen, damit sich niemand dorthin verirrt. Gut genug versteckt in der Bergwelt, um sich dort verkriechen zu können. Eine Zeitlang. Ein Teil des Dachs ist vielleicht eingestürzt, die runden, noch glänzenden Zypressenbalken zwischen den ungleichen Steinen werden nicht mehr von Dachziegeln bedeckt sein. Die sehr niedrige Tür. Der Vorbau auf der Vorderseite, die Holzstreben, die an die Arme Gottvaters erinnern, die beiden Pfeiler aus schlecht behauenen Steinen, Säulen für den Tempel eines grobschlächtigen Gottes. Die Fassade aus unverputztem Bruchstein. Das Dach aus alten gelben Tonziegeln,
du wirst wie früher mit dem Messer Gesichter in die Balken schnitzen können,
du hast fürchterlichen Hunger,
du hast Hunger bis in die Haarwurzeln,
bei dem Gedanken an die kleine Feuerstelle unter dem Vorbau der Hütte und ein Hühnchen, das dort in der Glut brät, windet er sich vor Schmerz,
du hast Durst,
er leert seine blecherne Feldflasche. Die angenehme Märzsonne färbt sich orange. Vom Meer her weht ein Wind,
du kommst voran,
auch wenn man ein wenig taumelt, weil einem schwindelig ist, muss man vorankommen. Sobald Gedanken aufkommen, lässt er sie ziehen. Er verscheucht sie mit den Füßen, hält sie fern durch Marschieren. Er überträgt seine Gedanken auf seine Stiefel, so dass sie zwischen den Steinen zerstieben. Dann schweigt alles in ihm, bis der große Fixstern des Hungers zurückkehrt.
Die verräterische Illusion, der Duft des kommenden Frühlings.
Das Meer, das seine rötlich blaue Fläche weiß umsäumt.
So hoch in den Bergen ist das Meer nur eine bedrohliche Linie, ein Horizont des Schmerzes.
Seine fieberhafte Eile führt ihn immer weiter weg: Je länger er geht, desto weiter rückt das Haus in die Ferne.
Du knirschst zu laut,
du musst dich vor dem Geröllfeld oberhalb der Hütte in Acht nehmen,
und im Sonnenuntergang liegend nach unbekannten Bewegungen Ausschau halten — im Krieg ausgesetzte, verwilderte Hunde, Deserteure, Dorfbewohner, ferne Verwandte: alle fern ihrer Reliquien auf dem Weg in die Einsiedelei, um dem Leiden zu entkommen, um das lange Blutfasten zu beenden,
plötzlich raubt ihm der Frühling den Atem. Ein Frühling der Flügelschläge, der Felsblumen, der Dornensträucher, des weißen und blauen Rosmarins, des Surrens von Insektenflügeln — der Pfad, dem er folgte, ist einige Dutzend Meter zum Meer hin abgefallen; er schlüpft aus seiner schmutzstarrenden, von Schmiere und getrocknetem Blut besudelten Kleidung, steht mit nacktem Oberkörper in der Sonne, abwechselnd von der frischen Brise geleckt und von der kräftigen Strahlung geblendet, die auf seine Schultern brennt, auf die lange Narbe, die sich über seinen Rücken zieht, bis sie unter dem Rucksack verschwindet. Er hat genug von dem zu kurzen Schulterriemen, er hält seine Waffe wie ein Jäger, umschließt den Schaft mit der linken Hand, umklammert den Griff mit der rechten, wie man Geflügel am Hals packt, kraftvoll, aber lässig; der Verschluss ist unverriegelt, im Magazin sieht er das Messing einer Patronenhülse glänzen, einmal mehr möchte er sich den Unglücksbringer vom Hals schaffen,
er wiegt schwerer als ein Kind in deinen Armen,
du solltest ihn zurücklassen, ihn ein paar Stunden Fußmarsch entfernt von der Hütte in einem Wäldchen verstecken,
er spielt mit dem gut gefetteten Verschluss, unmöglich, die Waffe loszuwerden,
vor dir das Schicksal und all diese Dinge, die Scherben, die Spuren und das große Trauern um die Zukunft,
du wirst dich dem Willen Gottes fügen,
Gewalt oder Vergebung, ein Nichts, wie diese gelbe Spinne, die trotz ihrer Giftigkeit, trotz ihres todbringenden Stachels unter deinem Stiefel zerquetscht wird, alles, was man nicht über sich weiß, wir ächzen unter der Welt von gestern, wir ächzen unter unseren Fehlern, wir ächzen unter der Aussicht auf ein Morgen, Vater unser, unser täglich Vergessen gib uns heute auf all unseren Schritten, von denen wir zu viele machen und die, Meter für Meter, Weg für Weg, Pfad für Pfad, unsere Seele schleifen, diese plötzliche Ergriffenheit rührt von der Nähe des Dorfs her, das weiter unten — einen Tagesmarsch entfernt — auf halber Höhe des Hangs liegt, wo die Orangenbäume anfangen, sich über die Ebenen auszubreiten, wo die Olivenbäume auf den mit Steinmäuerchen abgesetzten Terrassen kaum noch zu sehen sind zwischen den Häusern und ihren sanften Bögen, den durchbrochenen Gewölben, zwischen den Mispeln, die jetzt so grün sind und deren Früchte im Juni orangebraun leuchten, zwischen den stattlichen, von den Jahren gebeugten Feigenbäumen, auf deren Früchten im Herbst die Insekten brummen, gebeugt wie das Weinspalier, das einst die Terrasse vor dem Haus des Vaters beschattet hat, wo ein berauschender Wein gekeltert wurde, trübe und rotviolett, der schnell auf der Zunge brannte — in den dunkelsten und kühlsten Verschlägen türmten sich grüne Korbflaschen, bis man sie im September für die neue Traubenlese reinigte, und mit einer stählernen Flaschenbürste die roten und schwarzen Tanninschlieren entfernte, die sich unter ihren gläsernen Schultern festgesetzt hatten,
du wirst dich verstecken müssen, bestimmt sucht man schon nach dir,
man darf niemandem begegnen, muss sich vor Mensch und Tier, vor Hund und Hirte verbergen, darf den eigenen Namen nicht aussprechen,
je näher deine Füße dich der Hütte, dem Haus in den Bergen bringen, desto gefährlicher wird es, im Dorf weiß sicher jeder Bescheid, die Gerüchte werden angeheizt wie der Krieg selbst, jeder weiß Bescheid oder glaubt zu wissen,
der Nachmittag schwillt an, beginnt zu glühen und mit ihm Durst und Hunger.
Im Schatten einer Steineiche macht er Rast. Setzt sich auf eine Wurzel. Die Sonne besprengt das Tal vor ihm. Er träumt von Regen. Noch einmal schüttelt er die Feldflasche über seiner Zunge aus. Er öffnet die Schnürsenkel, zögert, die Stiefel auszuziehen, er ist so müde, dass er sie nicht wieder anziehen wird, wenn er aus ihnen heraus ist. Der Geruch scheint für einen Moment verschwunden zu sein, kehrt aber unversehens noch stärker zurück,
du stinkst nach Blut und Scheiße,
du stinkst nach Schlaf und Hunger,
ein Kind könnte dich mit einem Faustschlag töten,
er zählt die Tage, seit er fort ist aus der Stadt. Seit seiner Flucht aus der Kaserne. Vier Tage, seit er das Fahrzeug die Schlucht hinabgestürzt hat,
fast hundert Kilometer hast du zu Fuß in den Bergen zurückgelegt,
die Wurzel der Steineiche unter deinem Hintern ist hart,
deine gebeugten Knie schmerzen,
er lehnt sich an den dunklen Stamm, streckt die Beine aus, die Augen auf das Tal (Mandelbäume, Haselsträucher, Kaktusfeigen) gerichtet, das er so gut kennt. Er hat diese Terrassen gepflügt, unter den Bäumen Unkraut gejätet, zahllose Steine entfernt. Er...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2024 |
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Übersetzer | Holger Fock, Sabine Müller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Déserter |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Algebra • Babylon • Berlin • Buchenwald • Desertieren • deutsch-deutsche Geschichte • eifersüchtig • Eiserner Vorhang • Emily Noether • Esel • Flucht • Französische Literatur • Gestapo • Gut & Böse • Hausboot • Hoffnung • Konferenz • Krieg • Kriegstraumata • Leidenschaft • Liebe • Mathematik • New York • Pankow • Politik • Prix Goncourt • Schönheit • Sozialismus • Sternenbild • Täuschung • Tochter • Trost • Verrat • Wannsee • zeithistorisch • Zwillingstürme |
ISBN-10 | 3-446-28036-7 / 3446280367 |
ISBN-13 | 978-3-446-28036-6 / 9783446280366 |
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