Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen -  Dana Grigorcea

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26383-6 (ISBN)
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Ein Bildhauer im New York der 20er Jahre und eine Schriftstellerin auf seinen Spuren - verbunden durch die Frage, was Kunst wirklich ist
Voller Hoffnungen und Sehnsüchte reist der junge und aufstrebende Bildhauer Constantin Avis 1926 nach New York. Ein einflussreicher Galerist will ihn unter seine Fittiche nehmen und in dieser Stadt der Träumer und Macher ganz groß herausbringen. Beflügelt von einer aufkeimenden Liebe und der Aussicht auf Erfolg, schwebt er durch dieses neue Leben und droht dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Denn wie weit kann ihn seine Kunst wirklich tragen?
Ein ganzes Jahrhundert später versucht Dora, diese Frage zu beantworten. Im beginnenden Frühling an der ligurischen Küste schreibt sie an einem Roman über Constantin Avis. Gemeinsam mit ihrem Sohn und dem Kindermädchen sucht sie hier die Ruhe, die ihr im Alltag als Künstlerin und Mutter stets fehlt. Doch je tiefer sie sich hinabgleiten lässt in diese andere Welt, desto stärker vermischt sich ihre Geschichte mit der von Constantin, und sie begreift, dass sie seine Fragen nur mit ihrem eigenen Leben beantworten kann.
Mit unvergleichlichem Charme erzählt Dana Grigorcea von der Verquickung des Lebens mit der Kunst, in einer Sprache von überwältigender Kraft und schwebender Leichtigkeit.

Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, sie ist Germanistin und Nederlandistin und lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich. Die Werke der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Ihr Roman »Die nicht sterben« wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert und 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dana Grigorcea ist Trägerin des rumänischen Kulturverdienstordens im Rang einer Ritterin.

3


Lidy Maenz, die Fotografin der Milner Gallery, sah, wie sich gegen 17 Uhr die helle Silhouette eines Mannes aus dem Gedränge auf der West 57th Street löste. Er kam näher, schaute hinauf zum blinkenden Schriftzug und trat ein.

Lidy stand auf der Klappleiter, umkreist von afrikanischen Speeren, und war dabei, die Glühbirne einer Deckenleuchte zu wechseln. Sie trug ein rückenfreies goldenes Kleid ihrer Freundin Cara Milner, die seit einer Woche nur noch Trauer trug, Schwarz und Mauve bei totenbleich gepudertem Teint, die Pupillen von Belladonna geweitet, auch am Lenkrad ihres offenen schwarzen Packards.

»Die Ausstellungseröffnung ist erst in drei Tagen«, rief Lidy, obwohl sie kurz mutmaßte, bei dem Besucher könnte es sich um einen Freund Caras handeln.

Der Mann hob die Brauen und schaute sich um, mit Kennerblick, als suche er nach einem ganz bestimmten Kunstwerk.

Vielleicht war es seine rätselhafte Bemerkung, wonach er seine Ankunft vom Schiff aus telegrafiert habe, die ihr seine Ähnlichkeit mit Douglas Fairbanks in Seeräuber offenbarte. Sie schätzte ihn als noblen Außenseiter ein.

»Darf ich Sie aus dieser Wildnis retten?«, fragte er Lidy und reichte ihr durch die Speere hindurch die Hand.

»Aber nur, wenn Sie mich auf eine Tasse Tee einladen. Ich habe Feierabend und verdurste.«

»Jetzt gleich?« fragte er überrascht.

»Absolut. In Marnies Teehaus!«

»Wenn Sie noch Kisten auspacken wollen, kann ich Ihnen dabei helfen«, sagte der Mann.

»Nein, danke«, sagte Cara und lachte.

Der Mann lachte mit und zeigte seine weißen Zahnreihen, genau wie Fairbanks, und auch die gleiche Habichtsnase hatte er und trug den gleichen dünnen Schnurrbart; damals noch als Helden-, später als Schurkenschnurrbart bekannt.

»Also, wäre ich Ihr Vater, der ich zum Glück nicht bin«, sagte er galant, »würde ich Sie nicht mit einem Unbekannten ausgehen lassen. Auch nicht zum Tee.«

»Sind Sie denn in der Milner-Galerie ein Fremder?«

»O nein, keineswegs.«

»Na, sehen Sie.«

Er half ihr in Caras Pelzstola – zwei Rotfüchse, die sich über ihrer Brust küssten, die buschigen Schwänze baumelten von ihren Armbeugen herab. Dieses Kitzeln auf den Armen, das leichte Ziehen im Rücken, ließ sie vorpreschen durch die Straßen, wie aufgezogen, eine unbeirrbare Maschine in der modernen Stadt, dicht gefolgt von diesem schneidigen Herrn, der im schnellen Ausweichen und Überholen der Leute auf dem Gehsteig fast schon Quickstepp tanzte.

Im Marnies grüßte sie Ralph, der wahrscheinlich gar nicht Ralph hieß, und ließ sich nicht etwa an eines der runden Tischchen am Fenster platzieren: »Wir wollen den besten Tee, Ralph. Nicht wahr?«

Ihr neuer Bekannter nickte, und Lidy dachte kurzweg, dass man ihn hier kannte. Auf jeden Fall wurden sie an der Vitrine mit dem Glasnippes vorbeigeführt, und da habe sie ihm vertraulich zugezwinkert.

»Ist dieses Chinesen-Grüppchen nicht allerliebst?«

Er schaute sich den Nippes an, die kleine Frau mit dem Mohnblümchenkleid, und sagte: »Werte Dame, das ist nicht einmal harmlos.«

»Das ist Kunst«, kommentierte Ralph, bevor er sie durch die Vitrine hinabsteigen ließ, weichselroten Tapeten entlang, hinein in die ominöse Teestube.

Unten war es qualmig und laut, von der Big Band vorn und den angeregten Gesprächen an den runden Tischen mit den Lämpchen. Sie wurden an einen Tisch rechts der Bühne geführt, gleich neben dem Perkussionisten, von dem Lidy Maenz später sagen sollte, das sei der berühmte Billy Gladstone gewesen, eine tragbare Trommel um die Lenden. Seine Trommelschläge habe sie am ganzen Körper gespürt, durch den Sitz hinauf bis in die Schläfen. Aber vielleicht sei es auch wegen der Drinks gewesen. Sie bekamen Algonquin, Monkey Gland mit Absinth, und Rum-Cocktails mit Ananas und Grenadine. Lidy nahm ihre Maraschino-Kirsche am Stil und meinte, sie pochen zu sehen, mit zuckrigem Schimmer. Sie rief diese ungeheuer lustige Tatsache unverzüglich hinaus, mit überdeutlicher Artikulation, sodass sich ihr Filmpirat zu ihr beugte und auf ihren Mund schaute, denn verstehen konnte er nichts. Und Lidy redete weiter, formte die Laute, denn sie wusste um den Reiz dunkelroter Frauenlippen auf den modernen Mann, den Reiz des übermalten Amorbogens, des Kirschmunds mit den hell gepuderten Mundwinkeln.

Ihre Begleitung hatte verschwitzte Schläfen, lockerte nun die Krawatte, und es soll Lidy gewesen sein, die Avis zum Tanz aufforderte. Sie tanzten zu »When The Day is Done«.

In ihrem goldenen Kleid hatte Lidy etwas Statuenhaftes, sie besah sich in den großen Spiegeln, sah auch die Hand ihres Partners unter ihrem linken Schulterblatt. Er drehte sie schnell, sodass alles ringsum undeutlich wurde, rotgoldene Schraffur mit ein wenig Grün. Erst waren sie ganz außen, bei den Schnellen, dann zwängten sie sich zwischen die Paare, rückten so näher aneinander und ins Zentrum der Tanzfläche, wo es langsamer zu- und herging.

Bei »You’d Be Surprised« tanzten sie Wange an Wange, und Lidy riss ihren Kirschmund auf und sang mit:

»He isn’t much in the light,

but when he gets in the dark,

you’d be surprised!«

Und alle Tänzer schauten auf die beiden, oder zumindest schien es Lidy so, dass alle in ihnen ein Liebespaar sahen, ein mondäner Match.

Erst beim Ausgang bemerkten sie ihre Trunkenheit. Sie sah ihn ganz verschwommen, er zählte das Geld mehrfach heraus, als könne er die Scheine nicht auseinanderhalten. Er machte lustige Verbeugungen und rief etwas, mit heiserer Stimme, stürzte mit Lidy am Arm ins Freie.

Die Lichter der Auslagen spiegelten sich auf dem nassen Asphalt, Constantin umging sie wie Falltüren und zog Lidy am Arm neben sich her.

»Sie haben Ihren Hut vergessen«, rief Lidy. »Hey, Sie haben den Hut vergessen!«

»Ich hatte gar keinen Hut dabei.«

»Doch, hatten Sie!«

Er blieb stehen.

»Sie irren, ich habe keinen Hut getragen.«

»Doch, natürlich haben Sie einen Hut getragen. Ich erinnere mich ganz genau.«

»Ich mag gar keine Hüte«, sagte er.

»Er stand Ihnen aber gut!«

Er schaute verdutzt, begann zu lachen. Er lachte so herzhaft, dass sie mitlachen musste. Und sie krümmten sich beide vor Lachen, Arm in Arm, torkelten durch die Lichter der Stadt ihren eingehakten Schatten hinterher, die West 59th Street zum Columbus Circle hinauf.

»Die berühmte Reiterstatue«, rief Lidy, und während ihr Blick umherschweifte, hätten sie beinahe jemanden angerempelt. Der hochgewachsene Herr aber hielt die Arme ausgestreckt und hieß sie anzuhalten. Seine Hände fächerten Spielkarten aus, und mit dem Kinn wies er Constantin an, eine Karte zu ziehen. Ein Straßenkünstler!

»Den Trick kenne ich«, sagte Constantin zu Lidy.

»Also los«, sagte sie, »ziehen Sie eine Karte!«

Constantin legte sich die Karte auf die Brust und sagte: »Das ist die Herzdame, nicht wahr?«

Der Straßenkünstler mit dem Kajal-umrahmten Blick nickte, ohne eine Miene zu verziehen.

»Tatsächlich«, rief Constantin und wandte die Karte Lidy zu. Es war eine Herzdame, die an einer Blume roch, über der Schulter ein Fuchsfell wie das von Lidy.

»Ihr wusstet beide, dass es die Herzdame wird«, rief Lidy. »Hey, die Karten sind gezinkt! Alles Herzdamen!«

Ohne ein Wort wendete der Mann die Karten und fächerte sie auf. Und Lidy sah, dass es gewöhnliche Karten waren: Herz, Kreuz, Pik und Karo.

Constantin legte die Herzdame in den Stapel zurück, den der Mann umdrehte und rasend schnell zu mischen begann. Er teilte den Stapel in der Mitte auf, fächerte ihn abermals vor ihnen aus.

»Das wird jetzt wieder die Herzdame sein«, sagte Constantin.

»Stopp!«, rief Lidy, »wählen Sie die!«

Constantin zog Lidys Karte und gab sie ihr.

»Herzdame, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Ich kenne den Trick«, sagte Constantin mit breitem Lachen und griff in die Tasche, doch der Mann wollte kein Geld. Er ging ohne ein Wort.

»Sie haben ihn beleidigt.«

Constantin hob die Schultern.

»Jetzt müssen sie mir den Trick erklären.«

Da liefen sie unter der Hochbahn entlang und ihre Gesichter leuchteten im Mondlicht umso mehr auf, als sie gleich wieder in Schattenbalken verschwanden. Und als er von der Herzdame sprach, entglitt Lidy der triviale Sinn seiner Worte und sie lauschte nur noch der Stimme, ein elastisches Dröhnen ganz nahe, fern, nahe, fern; und sich selbst hörte sie wie von einer alten Schallplatte, rundum unzählige platzende Staubkörnchen. Gab es sie denn wirklich?

Der Absatz ihres teuren Schuhs blieb in einem Gullydeckel hängen, sie hüpfte zwei Schritte weit auf dem anderen Fuß.

»Seien Sie vorsichtig!«, rief sie Constantin zu. Sie verfolgte, wie er auf die Knie ging, mit seiner beigefarbenen Hose auf dem nassen Asphalt, und mit den Fingern im Gullydeckel stocherte, dann im Schlamm darunter, den Schuh behutsam herauszog und mit dem Daumen über den Absatz fuhr, fast schon zärtlich.

»Alles gut«, sagte er, »nichts passiert, sehen Sie?«

Lidy streichelte die Füchse, selig beschickert. Und ihr war, als würde sie ihren Schuh auf Avis’ breiter Hand zum ersten Mal sehen. Wie schön er war, dieser Absatz mit der konkaven Kurve, nach unten hin verbreitet. Ihr schicker Schuh! Und dieser Mann mit den großen, sorgsamen Händen wischte den Absatz nochmals an seiner Jacke ab und streifte ihr den...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • anna hoppe • Constantin Brancusi • eBooks • Herkunft • Kunst • Künstlerroman • Mutterschaft • Neuerscheinung • New York • Roman • Romane • Sasa Stanisic • Was wir sind
ISBN-10 3-641-26383-2 / 3641263832
ISBN-13 978-3-641-26383-6 / 9783641263836
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