Der Philosoph (eBook)

Habermas und wir | Ein neuer Blick auf einen der weltweit einflussreichsten Intellektuellen der Nachkriegszeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3175-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Philosoph -  Philipp Felsch
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Das intellektuelle Gesicht einer Epoche Solange Philipp Felsch zurückdenken kann, war Jürgen Habermas around: als mahnende Stimme der Vernunft, als Stichwortgeber der Erinnerungskultur, als Sohn der Nachbarn seiner Großeltern in Gummersbach. Neigt sich die intellektuelle Lufthoheit des Philosophen heute ihrem Ende zu, oder bekommen seine Ideen in der Krise unserer »Zeitenwende« neue Brisanz? Felsch liest in einem kaum zu überblickenden Oeuvre nach, folgt dessen Autor in die intellektuelle Kampfzone der Bundesrepublik und fährt nach Starnberg, um Habermas zum Tee zu treffen. Dabei entsteht nicht nur das Porträt eines faszinierend widersprüchlichen Denkers, sondern auch der Epoche, der er sein Gesicht verliehen hat.

Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Studium las er lieber die Bücher von Michel Foucault und Niklas Luhmann als den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Sein Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960-1990 (2015) wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, zuletzt erschien Wie Nietzsche aus der Kälte kam (2022).

Philipp Felsch, geboren 1972, ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Studium las er lieber die Bücher von Michel Foucault und Niklas Luhmann als den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Sein Buch Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte, 1960–1990 (2015) wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, zuletzt erschien Wie Nietzsche aus der Kälte kam (2022).

Ein Nachmittag in Starnberg


In den vierzig Minuten, die die Fahrt vom Münchner Hauptbahnhof gedauert hat, scheine ich nach Long Island gelangt zu sein. Der modernistische Bungalow, der einen bewaldeten Abhang überblickt, würde besser in die Hamptons als nach Oberbayern passen; in seinen Chinos und fabrikneuen Reeboks kommt mir der Hausherr an der Tür wie ein Amerikaner vor.

Trotz seines Alters macht Jürgen Habermas einen schlanken, beweglichen Eindruck. Ich kann nicht verhehlen, dass ich ihm mit Ehrfurcht gegenübertrete. Der Mann in Sneakers hat Adorno nahegestanden, in New York mit Hannah Arendt und in Paris mit Michel Foucault diskutiert – und ist selbst der Verfasser eines monumentalen philosophischen Werks. Und nicht nur das: Auch jetzt noch, siebzig Jahre nachdem er Anfang der 1950er-Jahre die Bühne der deutschen Öffentlichkeit betrat, scheint er in allen Debatten präsent zu sein. Mit seinen vergangenheitspolitischen Positionen prägt er bis heute die deutsche Erinnerungskultur. Egal, ob er sich zu den digitalen Medien, zum Ukrainekrieg oder zur Krise im Nahen Osten äußert – der landesweiten, selbst internationalen Aufmerksamkeit kann er sich noch immer sicher sein. Mit über neunzig! Wäre Foucault so alt geworden, er hätte die Wahl von Donald Trump gedeutet, Hannah Arendt hätte Nine Eleven und Adorno das Golden Goal von Oliver Bierhoff bei der Europameisterschaft von 1996 kommentiert. Trotz seines Status als uralter weißer Mann scheint an Habermas noch immer kein Weg vorbeizuführen. Es ist, als laufe unsere »Zeitenwende«, der verstörende Bruch mit lang gehegten Überzeugungen, auf eine Wiedervorlage seines Werks hinaus.

Solange ich zurückdenken kann, war Habermas around – aber als jemand, den ich eher pflichtschuldig zur Kenntnis nahm und dessen Ideen ich zumeist aus zweiter Hand und am liebsten aus der Perspektive seiner Gegner rezipierte. Das kommt mir heute wie ein Versäumnis vor. Ist er nicht auch in meiner eigenen intellektuellen Entwicklung ein unvermeidlicher Bezugspunkt gewesen? Hat er nicht, wie kaum ein anderer, die politischen Debatten der alten Bundesrepublik geprägt? Was bedeutet das Ende der Welt von gestern für sein Vermächtnis? Wird dieses Land ohne ihn ein anderes sein?

Auf meine schriftliche Anfrage, ob es möglich sei, ihn zu sprechen, hatte er, von dem es heißt, er würde kaum noch Besucher empfangen, sofort geantwortet und mich nach Starnberg eingeladen. Da er keine Reisen mehr unternehme, richte er sich, was den Termin angehe, gern nach mir. An diesem Freitagnachmittag Anfang Juni 2022 ist es in Bayern fast schon hochsommerlich heiß. Die gemeinsame Suche nach einer Vase für die Blumen, die ich am Bahnhof gekauft habe, hilft über meine anfängliche Befangenheit hinweg. Während er Tee zubereitet, entschuldigt sich Habermas dafür, dass der Marmorkuchen, den er für unser Treffen besorgt hat, zu dick geschnitten sei.

Der merkwürdige Klang seines Namens ist mir seit meiner Kindheit vertraut. Familie Habermas wohnte schräg gegenüber von meinen Gummersbacher Großeltern, dort, wo die Wohnblocks aus den 1950er-Jahren in eine Siedlung von Einfamilienhäusern mit großzügigen Gärten übergingen. Der Name gehörte zum Wortschatz unserer Gummersbach-Besuche – genau wie die »Bergmanns«, zu denen meine Großeltern zum Fernsehen gingen, bevor sie sich ein eigenes Gerät leisten konnten, wie »Adamek«, die Edeka-Filiale um die Ecke, oder wie der »Magerquark«, den sich mein magenleidender Großvater anstelle von Butter aufs Brot strich. Auch zu den Habermasens gab es losen nachbarschaftlichen Kontakt. Ich erinnere mich, dass meine Großmutter die alte Frau Habermas, deren Mann in den frühen 1970er-Jahren gestorben war, manchmal zum Kaffeetrinken besuchte und bei einer dieser Gelegenheiten – ich glaube, es war eine Geburtstagsfeier – auch deren berühmtem Sohn begegnete.

Auf meine Gummersbacher Reminiszenzen reagiert Habermas reserviert – fast scheint er unangenehm berührt zu sein. Gleich nach dem Abitur habe er die Stadt verlassen; da seine Eltern erst in den 1950er-Jahren in das Haus am Hepel gezogen seien, habe er es nur als sporadischer Besucher kennengelernt. Das distanzierte Verhältnis zur Familie scheint eine allgemeine Eigenschaft westdeutscher Nachkriegsgenerationen gewesen zu sein. Inzwischen hat er mich ins Wohnzimmer geführt, und wir haben in der in hellen Schurwolle-Tönen gehaltenen Couchecke Platz genommen, die als »kommunikatives Epizentrum« des Hauses Habermas längst in die Ikonografie der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte eingegangen ist. Auf diesem Sofa, unter den abstrakten Farbflächen eines nach Theodor W. Adorno »Tagtraum Wiesengrund« benannten Gemäldes von Günter Fruhtrunk, das ein ahnungsloser Kritiker in den 1970er-Jahren für eine Landschaftsdarstellung hielt, hat sich der Philosoph der Verständigungsverhältnisse mindestens ebenso häufig wie vor der obligaten Bücherwand fotografieren lassen. Hier haben viele Geistesgrößen, Künstler und prominente Politiker, darunter die halbe Führungsriege der SPD, Herbert Marcuse und Wolf Biermann, mit ihm diskutiert – ein Umstand, der mich das Unprätentiöse der Atmosphäre umso stärker empfinden lässt. Ich male mir aus, mit welchem Zeremoniell ein Besuch bei Jacques Derrida, Umberto Eco oder Peter Sloterdijk verbunden gewesen wäre. Bei Habermas atmet jedenfalls alles gepflegte Normalität. Nach einer Weile gesellt sich seine Frau zu uns. Mit dem nur schwach vernehmbaren oberbergischen Akzent ihres Mannes im Ohr, bei Tee und Marmorkuchen, erlebe ich die zweite Epiphanie dieses Nachmittags: Bei meiner Ankunft war mir Habermas als Amerikaner erschienen; jetzt habe ich für einen Moment das Déjà-vu, bei meinen Großeltern in Gummersbach zu Besuch zu sein.[1]

Freilich wurde das Wohnzimmer meiner Großeltern von Genrebildern in Öl und den dunklen Brauntönen des Gelsenkirchener Barock dominiert. Hier herrscht dagegen die helle Sachlichkeit der Nachkriegsmoderne vor – wenn auch durch die bequeme Sitzgruppe und vereinzelte Antiquitäten ihrer allzu strengen Linien beraubt. Im Neubau an der Ausfallstraße zu wohnen, um sich der brutalen Unwirtlichkeit der wiederaufgebauten Städte auszusetzen, hatte für die Avantgarde der Kritischen Theorie in den 1960er-Jahren noch zur Kultivierung des richtigen Bewusstseins gehört. Dass Habermas sich hier, in diesem Idyll, Anfang der 1970er-Jahre den Traum vom Eigenheim erfüllte, erschien seinen Zeitgenossen auch deshalb als symbolischer Akt, mit dem eine Ära zu Ende ging. »Stil ist gelebte Haltung«, hatte er mit Blick auf Heidegger formuliert, der 1966 in seiner Schwarzwaldhütte eine Fotografin zur Homestory empfing. Zehn Jahre später ließ er sich seinerseits von Barbara Klemm in seinem Bungalow porträtieren. Schlug damals die Stunde der Einfamilienhausphilosophie? »Von Haus zu Haus« pflegte Habermas seine Briefe seit den 1970er-Jahren zu verschicken – an Martin Walser, an Niklas Luhmann, an Freunde und Kollegen, die in anderen Winkeln der Bundesrepublik in ihren Einfamilienhäusern saßen. War diese Wohnform die einzig angemessene Behausung für die Dichter und Denker eines Landes, das den historischen Gegensatz von Metropole und Provinz in seinen Neubaugürteln eingeebnet hat?[2]

Während ich mich beeile, das Gespräch von Gummersbach und meinen Großeltern wegzulenken, um endlich zu meinen eigentlichen Fragen zu kommen, wird die Szene durch das gedämpfte Brummen eines Rasenmähers gestört. Wer in der Zeit, bevor die Leaf Blower kamen, aufgewachsen ist, verbindet mit diesem Geräusch unweigerlich die Atmosphäre träger, ereignisloser Sommernachmittage. Wie der Geschmack der berühmten Madeleine, die Proust in seinen Tee getaucht hatte, lässt es meine Beobachtungen der vergangenen Stunde schlagartig zu einem Gesamteindruck verschmelzen. In den 1990er-Jahren, nach der Wiedervereinigung, als viele seiner Kollegen in Fantasien von Deutschlands neuer Weltgeltung schwelgten, hatte Habermas darauf beharrt, auch in Zukunft der Bürger eines »universell-provinziellen Landes« sein zu wollen.[3] Hier, in seinem nüchtern-behaglichen Wohnzimmer, gewinnt diese Formulierung plötzlich eine unmittelbare Evidenz: Die Mischung aus Weltläufigkeit und Provinzialität, aus Hamptons und Gummersbach, die Konstellation aus Rasenmäher, Mid-Century und Marmorkuchen, gibt ihre geheime Bedeutung zu erkennen – sie ist ein Sinnbild der alten Bundesrepublik.

Dass ich einmal bei Habermas im Wohnzimmer sitzen würde, hätte ich niemals für möglich gehalten. In den 1990er-Jahren, als mir sein Name während meines Studiums zum zweiten Mal begegnete, waren die Fronten klar abgesteckt: Habermas hatte meine damaligen Lieblingsautoren, die französischen Philosophen, als »Jungkonservative« bezeichnet und an die Seite von Leuten wie Arnold Gehlen und Helmut Kohl gestellt – ein Affront, den ihm die Franzosen teils mit Empörung und teils mit Desinteresse vergolten hatten. Bei einem frostigen Abendessen im Frühjahr 1983, als Habermas in Paris am Collège de France unterrichtete, soll Michel Foucault ihn mit charakteristischem Haifischlächeln gefragt haben, ob er ihn für einen Anarchisten...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 68-er • Diskursethik • Europa • Frankfurter Schule • Historikerstreit • Intellektueller • Kommunikation • Öffentlichkeit • Pazifismus • Philosophie • Sozialwissenschaft • Starnberg • Strukturwandel • Suhrkamp-Kultur • Theorie • Ukrainekrieg
ISBN-10 3-8437-3175-6 / 3843731756
ISBN-13 978-3-8437-3175-1 / 9783843731751
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