Beelitz Heilstätten (eBook)

Roman | Historischer Roman über einen Ort mit vielen Geschichten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60638-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Beelitz Heilstätten -  Lea Kampe
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Das modernste Tuberkulose-Sanatorium seiner Zeit 1938: Die zwanzigjährige Antonia wird mit einer Tuberkulose-Diagnose in die hochmodernen Beelitzer Heilstätten geschickt. Schnell geht es ihr besser, doch der strenge Tagesablauf und die ständigen Liegekuren sorgen dafür, dass die junge Frau sich alsbald langweilt. Nur die Gespräche mit dem jungen Assistenzarzt Henrik bieten Zerstreuung. Wenige Jahre später kehrt sie als angehende Ärztin für Lungenheilkunde nach Beelitz - und zu Henrik - zurück. Doch die Zeiten haben sich geändert, der Schatten des Nationalsozialismus liegt über dem gesamten Komplex. Finden Antonia und Henrik dennoch ihr Glück?

Lea Kampe alias Iris Claere Mueller, geboren 1971 in Mannheim, wuchs in Bad Wimpfen bei Heilbronn auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg zog sie in die USA, wo sie an der renommierten Yale University im Fachbereich Medieval Studies promovierte. Seit 2005 lebt sie mit ihrem Lebensgefährten im süditalienischen Salerno. Im nahegelegenen Neapel arbeitet sie an der Internationalen Schule und lehrt mittelalterliche Geschichte an der University of Maryland Europe.

Lea Kampe alias Iris Claere Mueller, geboren 1971 in Mannheim, wuchs in Bad Wimpfen bei Heilbronn auf. Nach ihrem Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg zog sie in die USA, wo sie an der renommierten Yale University im Fachbereich Medieval Studies promovierte. Seit 2005 lebt sie mit ihrem Lebensgefährten im süditalienischen Salerno. Im nahegelegenen Neapel arbeitet sie an der Internationalen Schule und lehrt mittelalterliche Geschichte an der University of Maryland Europe.

1


Im Hörsaalgebäude war es völlig still. Antonia hastete den leeren Gang entlang. Sie schien die Einzige zu sein, die sich verspätet hatte. Vor der Tür der Aula blieb sie stehen, schöpfte Luft und hustete kurz. Erst als sich ihr Atem wieder beruhigt hatte, öffnete sie die Tür und trat ein. Einige Köpfe wandten sich ihr zu, aber zu ihrer Erleichterung nahm Professor Schulte keine Notiz von ihr. Antonia mochte den Mann nicht, bei dem sie in diesem Herbst eine Einführung in die Grundlagen der Vererbungslehre hörte, denn immer wieder nahm er seine Ausführungen zum Anlass, die aktuellen Rassengesetze der Regierung zu loben. Leise setzte sie sich auf eine Holzbank.

»In unserer letzten Stunde bin ich ausführlich auf die Mendel’schen Gesetze eingegangen, die noch immer die Grundlage unserer Vererbungslehre bilden«, sagte Professor Schulte eben. »Heute wollen wir unser neu erworbenes Wissen mit verschiedenen Aufgabenstellungen vertiefen. Kaudewitz, an die Tafel, wenn’s beliebt.«

Ein blasser junger Mann stand auf, drängte sich umständlich an seinen Kommilitonen vorbei und ging die Treppe hinunter zur Tafel.

»Die Krankheit A wird autosomal-dominant vererbt. In welchem Verhältnis sind gesunde und kranke Kinder möglich, wenn der Vater an dieser Krankheit leidet, die Mutter aber gesund ist? Zeichnen Sie die möglichen Erbgänge auf. Verwenden Sie als Bezeichnung für das kranke Gen ein großes F und für das gesunde Gen ein kleines.« Er drückte ihm ein Stück Kreide in die Hand.

Der junge Mann arbeitete schnell und präzise und durfte sich wieder setzen.

»Wie Sie sehen, meine Damen und Herren«, erklärte Schulte, »gibt es nur zwei Möglichkeiten. Wenn wir davon ausgehen, dass dieses Paar insgesamt vier Kinder hat, werden statistisch gesehen mindestens zwei von ihnen die Krankheit ebenfalls haben, im schlimmsten Fall sogar alle, was mich erneut zu dem Punkt bringt, den wir schon mehrfach angesprochen haben: Keine Regierung, die das Wohl ihres Volkes ernst nimmt, kann vor einer solchen Tatsache die Augen verschließen. Wir können uns glücklich schätzen, dass unser Führer in seiner Weitsicht entsprechende Maßnahmen getroffen hat. Bitte öffnen Sie Ihre Bücher im Anhang auf Seite 367.«

Irritiert blätterte Antonia, obwohl sie bereits wusste, was auf dieser Seite zu finden war. Sie konnte ein leises Husten nicht unterdrücken. Ein paar Kommilitonen sahen sie an. Unwillkürlich prüfte sie den Sitz ihrer grünen Strickjacke. Obwohl das Tuberkulinpflaster auf ihrem Arm nicht zu sehen war, zupfte sie den Ärmel noch ein wenig weiter nach unten.

»Fräulein Marquardt, würden Sie uns den Gefallen tun, den entsprechenden Abschnitt zu lesen?«

Antonia unterdrückte einen neuen Hustenanfall, presste sich kurz die Hand auf den Mund und hob an: »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes (Ehegesundheitsgesetz), vom 18. Oktober 1935. § 1 Eine Ehe darf nicht geschlossen werden, wenn einer der Verlobten an einer ansteckenden Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teils oder der Nachkommen befürchten lässt, oder wenn einer der Verlobten an einer Erbkrankheit …« Es folgten weitere Punkte.

»Sie als angehende Biologen werden die Hüter dieser Gesetze sein, meine Damen und Herren«, fuhr Schulte fort, »denn Sie verstehen besser als jeder andere, warum diese Gesetze, die von vielen als barbarisch verschrien werden, notwendig sind. Ja, sie mögen hart sein, doch spätere Generationen werden uns dafür danken, dass wir die unliebsame Aufgabe auf uns genommen haben, unseren Volkskörper von allem Kranken, Hässlichen und Unreinen zu reinigen. Das Entfernen alles Degenerierten und Kranken aus unserer Mitte, wozu übrigens auch die jüdische Rasse zählt …«

Antonias Gedanken drifteten ab. Hatte der Professor sie absichtlich den Gesetzestext lesen lassen, weil er bemerkt hatte, dass sie seit Wochen hustete? Sie selbst konnte und wollte nicht glauben, dass sie unter Tuberkulose litt, dieser tödlichen Krankheit, doch ihr Hausarzt schloss diese Möglichkeit nicht mehr aus. Das Tuberkulinpflaster, das sie auf dem Arm trug, würde schon an diesem Nachmittag Aufschluss geben. Antonia betete darum, dass der Test negativ ausfiel, denn falls nicht, wäre auch sie eines der Subjekte, vor denen die deutsche Volksgesundheit geschützt werden musste.

 

Als sie nach der Vorlesung in die Septembersonne trat, war sie versucht, die Strickjacke auszuziehen, doch sie tat es nicht. Wie ein Stigma prangte das Pflaster auf ihrem Arm. Sie versuchte, sich zu entspannen. Die Promenade Unter den Linden war voll von Müttern mit Kindern und Paaren, die ohne Hast auf den breiten Bürgersteigen flanierten, und in den Straßencafés herrschte Hochkonjunktur. Gerne hätte Antonia sich unter die gut gelaunten Menschen gemischt und einen Mokka getrunken, doch bis zum Olivaer Platz, wo ihr Vater an seinem Kiosk auf sie wartete, war es noch ein gutes Stück, und wie immer wollte Antonia sich die Groschen für die Elektrische sparen. Als der runde grüne Kiosk mit dem spitz zulaufenden Dach endlich in Sicht kam, schwitzte sie in der Wolljacke, trotzdem legte sie die letzten Meter im Laufschritt zurück. Ihr Vater trat aus der Hintertür, und Antonia umarmte ihn.

»Du siehst aus, als könntest du eine Limonade vertragen«, lachte er.

»Oh, gerne, krieg ich auch ein paar Brausestängelchen?«

Ihr Vater lächelte. »Manchmal frage ich mich, ob meine Tochter je erwachsen wird.« Sie betraten den Kiosk, und Antonia nahm sich mehrere Brausestangen aus einer Schale, die gut sichtbar in der Durchreiche stand, damit Kinder, die mit ihren Eltern kamen, sie gleich bemerkten. Sie beobachtete ihren Vater, während er Limonade in ein Glas füllte. Dass er selbst nie von den Süßigkeiten naschte, die er neben Zeitungen, Getränken und Tabak verkaufte, war offensichtlich, denn er war beinahe mager für seine Größe. Antonia konnte sich erinnern, dass das nicht immer so gewesen war. Erst als ihre Mutter an Tuberkulose starb und ihr Vater im Zuge der schweren Wirtschaftskrise um 1930 auch noch sein Juweliergeschäft schließen musste, hatte er stark abgenommen. Doch das war nicht sein eigentliches gesundheitliches Problem. Ihr Vater litt schon lange unter einer Herzschwäche, die durch den Verlust von Antonias Mutter und den seines Geschäftes schlimmer geworden war, körperliche Anstrengung und emotionale Belastungen musste er vermeiden. Oft fühlte Antonia sich schuldig, weil sie sich den Luxus eines Studiums leistete, obwohl der Wohlstand ihrer Familie in den letzten Jahren zusammengeschmolzen war wie Eis in der Sonne. Mit dem Kiosk am Olivaer Platz konnte Antonias Studium nur finanziert werden, weil der Vater ihre geräumige Wohnung in der Pariser Straße verkauft hatte und die Miete in der wesentlich kleineren in der Schaperstraße nicht sehr hoch war.

Ein Kunde kam, Antonia reichte ihm die gewünschte Zeitung und gab das Wechselgeld heraus. An seinem Blick, der von ihr zum Vater und wieder zurück ging, erkannte sie, was er dachte – das Verwandtschaftsverhältnis hätte nicht eindeutiger sein können. Beide waren sie blond, groß und schlank mit graugrünen Augen, auch wenn Antonias lange Haare lockiger waren als die des Vaters. Dafür hatte sie seine markante gerade Nase und das starke Kinn geerbt. »Willensstark, nicht stark«, scherzte ihr Vater, wann immer er ihre Nase oder das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger nahm.

Antonia trank die Limonade aus.

»Müssen wir los?«, fragte sie. Ihr Vater nickte stumm. Sie wusste, wie groß seine Angst vor dem Arztbesuch war. Nachdem er seine Frau an die Tuberkulose verloren hatte, als Antonia noch ein Schulkind gewesen war, fürchtete er nichts mehr als dieselbe Diagnose bei seiner Tochter.

»Du wirst sehen, ich bin gesund, und mein Husten ist nichts weiter als eine verschleppte Erkältung«, sagte sie aufmunternd, obwohl ihr selber mulmig war. Ihr Vater antwortete nicht. Schweigend schloss er das Fenster des Kiosks und die äußeren Läden.

 

Als sie wenig später in Doktor Grumbachers Sprechzimmer saßen, konnte Antonia es kaum abwarten, das Pflaster endlich loszuwerden, doch der ältere Arzt ließ sich Zeit und wiederholte noch einmal, was sie bereits wusste.

»Der Mendel-Mantoux-Hauttest ist die Standardmethode zum Nachweis einer Tuberkuloseinfektion«, sagte er, an...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ärztin • Beelitz • Berlin • Frauenroman • Große Gefühle • Heilkur • Heilstätten • Heilung • Historischer Roman • Kur • Liebesroman • Medizin • Medizingeschichte • Potsdam • Romane für Frauen • Sanatorium • Tuberkulose
ISBN-10 3-492-60638-5 / 3492606385
ISBN-13 978-3-492-60638-7 / 9783492606387
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