Weiße Flecken (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491804-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weiße Flecken -  Lene Albrecht
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Auf den Spuren des deutschen Kolonialismus bis in die eigene Familiengeschichte Eine junge Frau reist nach Togo, im Gepäck ein Aufnahmegerät und den Auftrag, zu Flucht- und Migrationsursachen zu forschen. Vor Ort trifft sie Menschen, die ihr von sich erzählen: eine Schneiderin, die ihrer Abschiebung aus Deutschland zuvorkam, einen jungen Mann, der mit seinem Dienst im Waisenhaus hadert, und den Bibliothekar, der sie aufmerksam macht auf die Europäerinnen und Europäer, die wie Gespenster das Land bevölkern. Immer mehr zweifelt sie ihre Rolle im Land an und beginnt, sich mit ihrer eigenen Familie auseinanderzusetzen: Warum ging ein Onkel nach Nigeria und wurde dort vermögend? Warum brachte ihr Ur-Urgroßvater nur eines seiner drei Kinder aus Panama nach Deutschland? Warum weiß sie so wenig über ihre Urgroßmutter Benedetta? Lene Albrecht erzählt in ihrem Roman »Weiße Flecken« von der Suche nach ihrer Ur-Großmutter und begegnet dabei der eigenen Unsicherheit, der eigenen Verantwortung.

Lene Albrecht, geboren 1986 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und am Literaturinstitut Leipzig. 2019 erschien ihr Debütroman »Wir, im Fenster«. Für die Arbeit an »Weiße Flecken« erhielt sie das Recherchestipendium des Berliner Senats. Als Mitglied des Kollektivs WRITING WITH CARE/RAGE organisierte sie 2021 eine gleichnamige Konferenz zur Frage nach der Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Autor*innenschaft. Sie arbeitet als freie Lektorin, Journalistin und Moderatorin u. a. für die Redaktion Radiokunst von »Deutschlandfunk Kultur«.

Lene Albrecht, geboren 1986 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt (Oder) und am Literaturinstitut Leipzig. 2019 erschien ihr Debütroman »Wir, im Fenster«. Für die Arbeit an »Weiße Flecken« erhielt sie das Recherchestipendium des Berliner Senats. Als Mitglied des Kollektivs WRITING WITH CARE/RAGE organisierte sie 2021 eine gleichnamige Konferenz zur Frage nach der Vereinbarkeit von Care-Arbeit und Autor*innenschaft. Sie arbeitet als freie Lektorin, Journalistin und Moderatorin u. a. für die Redaktion Radiokunst von »Deutschlandfunk Kultur«.

Jede Passage, jeder Absatz, jedes Sprachbild wirkt so treffsicher, so präzise, so gültig, als seien Position und Rolle im Roman akribisch durchdacht.

[...] ein wichtiges, klug komponiertes Buch

Jeder Satz von Lene Albrecht steht schillernd präzise vor Augen.

Selten hat jemand die Gabe, eine Sprache zu entwickeln, die mit so viel Wissen und so viel Empathie gesättigt ist.

TOUT VA BIEN


Früh am Morgen nach dem Flug wollte ich so schnell wie möglich nach Norden fahren. Ohne das aufgebrachte Meer aus der Nähe oder eines der mit TOP markierten Highlights aus meinem Reiseführer gesehen zu haben. Der Himmel war bedeckt, die Luft schmeckte metallisch.

Bleiben Sie wenigstens ein paar Tage, versuchte der Pförtner mich umzustimmen, als ich mich mit dem Gepäck auf dem Rücken von ihm verabschiedete.

Er saß inmitten einer Insel aus Schatten, die ein niedriger Schirm von oben auf ihn warf. Sonne floss über seine langgestreckten Beine, in seinem Schoß lag ein Buch.

Ohne es zu wollen, blieb ich stehen.

Er rückte sein Käppi zurecht, und erst jetzt sah ich, wie jung er eigentlich war. Jung und attraktiv. Es war seine beige Uniform, die merkwürdig kastenförmig seinen ganzen Körper entstellte. Obwohl wir uns am Vortag kurz unterhalten hatten, hatte ich ihn kaum zur Kenntnis genommen. Er trug eine runde Brille aus Horn, leichte Schatten unter den Augen und hatte einen schönen, vollen Mund, der sich nun zu einem Lächeln lang zog.

Kommen Sie aus der Sonne, sagte er, es ist viel zu heiß, und winkte mich eilig zu sich unter den Schirm. Der scharf konturierten Helligkeit wich ein Schwindel, kurz hatte ich Mühe, überhaupt etwas zu sehen. Alles verblasste. Der Pförtner stand blitzschnell von seinem Stuhl auf, nahm mich bei den Schultern und drehte mich so, dass ich mich einfach nur noch fallen lassen musste, um auf dem Stuhl zu landen. Er reichte mir einen Beutel, gefüllt mit Wasser, eine Art Trinkpäckchen, das man an einem der Enden aufbeißen musste, wie er mir erklärte. Der plötzliche Wechsel unserer Positionen hatte eine Komik, die uns zeitgleich zum Lachen brachte. Ich wollte aufstehen, aber der Pförtner ermahnte mich, noch kurz sitzen zu bleiben, bis mein Kreislauf sich stabilisiert hatte.

Ich warne Sie, sagte er und stemmte die Arme gespielt streng in die Hüften.

Ich gab nach. Nuckelte artig an dem Plastik. Das Wasser war eiskalt und schmeckte leicht süßlich.

 

Wie sich herausstellte, hieß er Kofi und war an der Universität von Lomé eingeschrieben, er studierte dort Germanistik mit dem Ziel, später an Schulen Deutsch zu unterrichten.

Ich weiß, sagte er, dass die meisten Gäste in mir nur eine Art Hausmeister sehen, ich bin still und nett, wie ein Hausmeister eben zu sein hat.

Er lächelte.

Niemand ahnt, dass ich die deutsche Sprache verstehe. Manchmal ärgert mich das, dann wieder fühle ich mich darin ganz gut aufgehoben. Wie ein Spion.

Er lächelte wieder. Die Zungenspitze reckte sich für einen kurzen Moment der Oberlippe entgegen. Dann sog er Luft ein. Erst vor kurzem hat mich das fast den Job gekostet, sagte er.

Ich schwieg, und er redete weiter. Es war erstaunlich, dass kaum jemand die Stille im Gespräch ertrug.

Zwei Frauen mittleren Alters haben geradezu unanständig laut direkt neben mir über die Vorzüge afrikanischer Männer gesprochen. Kofi schüttelte den Kopf.

Sie hatten die Sandalen abgestreift, sagte er, standen dort drüben, barfuß im frisch gemähten Gras und rauchten. Beide trugen helle, weite Hosen aus Leinen mit Gummizug, dazu weiße Blusen, und die eine hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden wie die Frauen von hier. Sie schien noch mehr als die andere geschäftlich viel auf dem afrikanischen Kontinent herumgekommen zu sein, denn sie wusste, dass die Senegalesen die besseren Liebhaber sind, wohingegen die sogenannten Bumster – mit den Fingern malte er Anführungszeichen in die Luft – aus Gambia von den zahlreichen Kontakten mit weißen Frauen und ihrer Geschäftstüchtigkeit schon ganz verdorben sind.

Er machte eine Pause, sein Blick wanderte zur Villa, dann zu einer Naht auf seiner Hose, über die er sachte mit dem Fingernagel strich.

Ich dachte, wenn ich sie auf Deutsch grüße, verstummen sie bestimmt.

Kofi sah zu Boden, schüttelte den Kopf. Ich dachte, sie würden sich schämen, aber meine Gegenwart schien sie nur noch zu befeuern.

Und dann, fragte ich.

Ich will nicht wiederholen, was genau sie sagten, aber als eine der Frauen mich ausgiebig musterte, ahnte ich, dass ich besser geschwiegen hätte. Nun sprachen sie über meinen Körper wie über ein Stück aus dem Bauch eines Schweins auf dem Markt. Wie es wohl schmecken würde. Wie man es zu würzen hatte –

Es war dumm und obszön, bemerkte Kofi, und als die eine mich kichernd mit einem wilden Tier verglich, das ausgehungert über sie herfallen würde, sind mir augenblicklich sämtliche Sicherungen durchgebrannt. Ich habe einen kleinen, wahnsinnigen Tanz für sie aufgeführt und ihnen damit einen ordentlichen Schrecken eingejagt.

Es war nicht leicht, sich diesen entspannten Körper im Ausnahmezustand vorzustellen.

Wenn er jetzt darüber nachdachte, erzählte er, hatte er in einer Art Übersprunghandlung diese unerträgliche Situation beenden wollen. Da er sich selbst nicht vom Fleck rühren durfte, weil es nun mal seine Aufgabe war, diesen Fleck mit seiner körperlichen Existenz zu bewachen, mussten eben die Frauen verschwinden.

Natürlich hatten sie sich beschwert. Selbstverständlich glaubte man ihnen mehr als ihm, aber am Ende hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen, sie nicht angegriffen oder beleidigt, und sein Chef, der ihn stets gefördert hatte, hatte ihm auf die Schulter geklopft und mit ernstem Ausdruck gesagt, so etwas machen wir nicht noch mal, in Ordnung, Kofi, als spräche er mit einem ungezogenen, aber einsichtigen Kind, das über die Stränge geschlagen hatte. Einsichtig im Hinblick darauf, dass es den Erwachsenen untergeordnet war.

Mein Blick glitt zu ihm hoch. Noch einmal versuchte ich, vom Stuhl aufzustehen. Dieses Mal ließ er es zu. Jetzt standen wir uns direkt gegenüber.

Danke für das Wasser, sagte ich, ich muss jetzt wirklich weiter.

Kurz wirkte er beleidigt, dass ich mich gar nicht für seine Stadt zu interessieren schien. Ich war zum Arbeiten gekommen, und das sagte ich ihm.

Was arbeiten Sie denn, wenn ich fragen darf?

Ich stelle Fragen, und wenn ich genug Antworten beisammenhabe, schreibe ich einen Bericht, sagte ich – selbst erstaunt darüber, wie präzise diese Beschreibung zutraf.

Kofi nickte, schwieg. Dann sagte er, etwas schüchtern jetzt: Schreiben Sie auch richtige Bücher, und hielt seines in die Höhe. Die Sonne traf auf die beschichtete Fläche und machte das Cover unlesbar.

Seine Frage brachte mich in Verlegenheit. Schließlich hatte ich noch nichts Nennenswertes veröffentlicht. Ich versuchte erneut, den Titel seines Lesestoffs zu erkennen, um auf ein anderes Thema ausweichen zu können, aber er hatte es bereits wieder in den Schoß sinken lassen.

Dann, antwortete er sich schließlich selbst, schreiben Sie also ein Buch über das hier. Er machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm, bei der seine Hand am Ende auf seiner Brust zum Liegen kam. Das Schmunzeln, welches seine Geste begleitete, konnte sich als Ironie, aber auch eine seltsame Scham deuten lassen, die das Sprechen über das Schreiben oft begleitet.

Ja, antwortete ich sachlich, obwohl ich bezweifelte, dass Kofi in der Studie auftauchen würde.

Ich hatte nichts Bestimmtes vorgehabt an jenem Abend im letzten Frühsommer. Neda hatte sich mit einem alten Freund treffen wollen, ohne mich, also hatte ich spontan entschieden, allein ins Theater zu gehen.

Seit sie mich in einer Auseinandersetzung als Klette bezeichnet hatte, wollte ich mich unabhängiger machen. Oder immerhin so wirken.

Die letzte Vorstellung vor der Spielzeitpause einer kleinen Off-Bühne war überdurchschnittlich gut besucht gewesen, obwohl das Performance-Kollektiv nicht sehr bekannt war. Im Stück ging es um die Frage, wie man sich an Menschen und ihre Biographien erinnern konnte, die über die Jahrhunderte immer wieder aus der großen Geschichtserzählung getilgt worden waren. Menschen, über die man zu viel wusste, um sie zu vergessen, und zu wenig, um faktenbasiert über sie zu sprechen.

So stand es zumindest im Programmheft.

Auf der Bühne waren Schaukästen aus Plexiglas aufgebaut. Darin stand jeweils eine Performerin, reglos wie eine Schaufensterpuppe.

Nacheinander gerieten sie in Bewegung, erzählten in abweichenden Versionen die Geschichte einer Bäuerin, die um 1800 gelebt hatte und einige Kinder bekommen hatte. Erstaunlich viele waren kurz nach der Geburt gestorben. Bei zwei von ihnen hieß es, sie hätte sie im nahegelegenen Fluss ertränkt. War sie also eine Mörderin? Unter welchen Umständen durfte man jemanden als eine solche bezeichnen?

Den Schluss bildete schließlich eine seltsam anmutende Installation, bei der die Protagonistin zwar sprach, aber nur als Voice-over zu hören war. Jeder realitätsgebende Effekt war auf diese Weise ausgelöscht, und trotzdem schuf die Künstlichkeit ihrer Rede tatsächlich so etwas wie Nähe.

 

Im Anschluss an das Stück war ich, begleitet von einem vagen religiösen Gefühl, meiner ehemaligen Professorin über den Weg gelaufen.

Über meinem Arm hing die braune Lederjacke, die ich nicht an der Garderobe abgegeben hatte. Ich hatte nicht vorgehabt, jemandem hallo zu sagen, noch länger zu bleiben als notwendig. Aber ich hatte ihre Seminare immer gemocht. Sie entsprach nicht der...

Erscheint lt. Verlag 24.1.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Anspruchsvolle Literatur • deutscher Kolonialismus • Ein Buch von S. Fischer • Familiengeschichte • Flucht • Rassismus • Togo • Urgroßmutter • Vergangenheitsbewältigung • Vertreibung
ISBN-10 3-10-491804-X / 310491804X
ISBN-13 978-3-10-491804-4 / 9783104918044
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