Weiße Wolken (eBook)

Roman

*****

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31160-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Weiße Wolken -  Yandé Seck
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Zwei Schwestern: Die eine arbeitet sich an sämtlichem Unrecht unserer Gegenwart ab, die andere am bürgerlichen Familienideal. Für die eine ist ihr Schwarzsein eine politische Kategorie, für die andere ihr Muttersein. Dieo, die eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin macht, lebt mit ihrem Mann Simon und den drei Söhnen im Frankfurter Nordend. Sie leidet unter den unerfüllbaren Ansprüchen der Gesellschaft an sie als Mutter, vor allem aber ist es die ständige Kritik ihrer jüngeren Schwester Zazie an allem und jedem, die an ihren Nerven zerrt. Nicht nur ihre Kollegen im Offenbacher Jugendzentrum beobachten Zazies Wutausbrüche mit zunehmender Ratlosigkeit. Auch Simon, ein mittelalter weißer Mann und Angestellter in einem Finanz-Start-up, gerät immer wieder ins Visier seiner Schwägerin. Eines Tages erhalten die Schwestern eine Nachricht, die alles verändert: Ihr Vater Papis, ein eigensinniger Nietzsche-Fan, der vor mehr als vierzig Jahren aus dem Senegal nach Deutschland kam, ist unerwartet verstorben. Da die Trauerfeier in seiner alten Heimat stattfinden soll, begeben sich Zazie und Dieo auf eine Reise in das westafrikanische Land. Der Abschied wird für die beiden zu einem Neuanfang - in vielerlei Hinsicht. In ihrem Debütroman »Weiße Wolken« erzählt Yandé Seck einfühlsam und mit feinem Witz von den Ambivalenzen unserer Gegenwart, von Alltagsrassismus, Identitätssuche und den komplexen Banden einer postmigrantischen Familie. Ein kluger Roman über die Themen unserer Zeit.

Yandé Seck wurde 1986 in Heidelberg geboren und wuchs dort und in Frankfurt am Main auf, wo sie heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitet als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, lehrt außerdem an der Uni Frankfurt und promoviert zu Mutterschaft, Migration und Psychoanalyse. »Weiße Wolken« ist ihr erster Roman.

Yandé Seck wurde 1986 in Heidelberg geboren und wuchs dort und in Frankfurt am Main auf, wo sie heute mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitet als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche, lehrt außerdem an der Uni Frankfurt und promoviert zu Mutterschaft, Migration und Psychoanalyse. »Weiße Wolken« ist ihr erster Roman.

3 Dieo


Dieo strich die von ihrem Kopf abstehenden Haarsträhnen glatt, füllte eine Wasserflasche und steckte sie in ihren Rucksack. Diese Dinger, die seit einigen Jahren jede frischgebackene junge Mutter auf dem Rücken trug, waren eigentlich Mist. Simon war jedoch der Meinung gewesen, als »junge urbane Mutter« brauche auch seine Frau einen Fjällräven. Gelb stehe ihr so gut. Also hatte das kleine Paket letztes Jahr unter dem Weihnachtsbaum gelegen und sie zeigte seither dem ganzen Holzhausenviertel, dass sie zur Gruppe der unheimlich entspannten, total unprätentiösen Nordend-Mamas gehörte.

»Wir müssen looos! Otiii, hast du deine Mütze?«

Ihr jüngster Sohn weigerte sich seit seinem ersten Herbst auf dieser Welt, eine Kopfbedeckung zu tragen. In diesem Winter »vergaß« er ständig die rostfarbene Mütze mit hippem Logo, die Simon in einem dieser Wohlfühlläden auf dem Oeder Weg gekauft hatte. Vierundzwanzigjährige Conceptstore-Mitarbeiterinnen konnten ihrem Mann alles andrehen. Sie fragte sich häufig, wem er eigentlich etwas beweisen wollte, wenn er bei so einer Taja einen »Weekender« für siebenhundert Euro oder eben eine Mütze für Otis kaufte.

»Lass meinen Ranzen in Ruhe!«, schrie Leander seinem kleinen Bruder ins Ohr und schubste ihn. Die Jungs rannten durch den Flur. Überall lag irgendwelcher Scheiß herum, und Dieo fragte sich, wann endlich der Tag käme, an dem sie ordentlich würde.

Oma Rose beschrieb das immer so: »In unserer ersten gemeinsamen Wohnung hat sich jeden Abend das Geschirr getürmt. Eines Tages störte es mich, und ich wurde ordentlich.« Oma Rose hatte in Dieos Kindheit stundenlang auf einem kleinen Hocker gesessen und mit ihr überfüllte Barbie- und Playmobilkisten sortiert und Kunststoffhaar gekämmt. Dieo wünschte sich häufig, die Ruhe zu besitzen, die Oma Rose in diesen Momenten gehabt hatte. Sie hatte immer davon geträumt, mal mit ihren Töchtern in einem wunderschön eingerichteten Mädchenzimmer zu sitzen, aus Miniaturteetassen imaginären Earl Grey zu trinken und Petits Fours zu essen. Nun hatte sie Söhne, die sich für Anime oder Lego Star Wars interessierten, und eine Schwester, die meinte, sie müsse »ihre Tagträume dekolonisieren«.

»Ich brauche für Mathe einen roten Hefter!«, rief Leander aus dem Wohnzimmer und zog ein zerknittertes Blatt Papier aus seinem Ranzen.

»Und das sagst du mir jetzt?!«, fuhr Dieo ihn an, als sie den Elternbrief gelesen hatte.

»Hab ich vergessen.«

»Der Laden hat jetzt noch zu, du musst sagen, dass du’s morgen mitbringst.«

»Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute«, sang Otis, und Dieo fragte sich, woher ein Vierjähriger die Begabung hatte, mit solch einer Treffsicherheit Salz in die Wunden seiner Mutter zu streuen.

»Los jetzt!«, unterbrach sie ihn, hievte sich Leanders Ranzen über die Schulter und ging zur Tür. Sie hatte um halb zehn ihren ersten Termin. Ihr Zuspätkommen hatte in der Vergangenheit selten Konsequenzen gehabt. Dennoch, Dieo hatte das Gefühl, die Eltern konnten ihr ansehen, dass sie gerade noch Cornflakesschüsseln in die Spülmaschine gepfeffert hatte und an den Minimalanforderungen des Mutterseins gescheitert war, bevor sie ihnen zu mehr Gelassenheit im Alltag riet.

Was ihren Mann heute davon abhielt, an diesem allmorgendlichen Spektakel teilzunehmen, nannten er und seine Kollegen einen »All-Nighter«. Was für ein schwachsinniger Begriff, aufgeladen mit Potenz. Ludger, Christian und Simon hatten sich angewöhnt, in Akronymen miteinander zu kommunizieren. Wenn also Ludger der Meinung war, dass eine Nachtschicht notwendig sei, schickte er die drei Buchstaben PAN an Simon. Wenn der gerade auf dem Sofa lag, gaben zuerst der Laptop auf seinem Schoß und kurz darauf sein Handy ein kurzes »Bing« von sich. Manchmal sogar ihre Stereoanalage im Wohnzimmer, weil eines seiner Geräte damit verbunden war. Neulich hatten sie die Beatles gehört, während sie Leander die Haare geschnitten hatte. Dieo trällerte vor sich hin und genoss, dass sie alle zusammen und dennoch für sich waren. So wie Donald Winnicott den Zustand von Mutter und Kind nennt, bei dem das Kind lernt, für sich zu sein und das irgendwann sogar zu genießen. Dieses Zusammen-für-sich-Sein wurde von einem »Bing« der Stereoanlage unterbrochen. Ludger schickte gleich mehrere Nachrichten, der Ton erklang in unregelmäßigen Abständen, bis sie die Anlage ausschaltete. Auf Simons Bildschirm waren diverse offene Fenster mit Texten, Grafiken und Tabellen zu sehen. In der rechten oberen Ecke tauchten kleine Sprechblasen auf.

Ludger: Call me ASAP

Christian: BTC bei <40k

Ludger: PAN, get ready.

Ein kurzes PAN von Ludger hatte zur Folge, dass sie einen All-Nighter mit zwei Kindern in ihrem Bett und diversen Knien zwischen ihren Rippen vor sich hatte. Dazu kam ein Morgen voller Chaos mit der besonderen Herausforderung, ihren im Arbeitszimmer schlafenden Mann nicht zu wecken.

Als sie einen letzten Blick auf den Frühstückstisch werfen wollte, öffnete sich Jonathans Zimmertür. Er stand nur mit einer Boxershorts bekleidet da und sah sie unverwandt an.

»Was machst du denn hier?«, fragte sie.

»Ich habe heute erst zur Dritten«, erwiderte er heiser und griff sich ins Haar. Sie war sich sicher, dass das gelogen war.

»Was ist denn ausgefallen?«, fragte sie und sah auf die Uhr über der Küchentür. Es war fünf nach halb acht. Sie würde sich gleich im morgendlichen Stau mit einer SUV-Fahrerin anlegen und dann vollkommen echauffiert bei der Schule ankommen. Leander würde bis heute Abend beleidigt sein, weil er es hasste, erst zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn einzutreffen. Wenn sie ihn abgeliefert hatte, würde sie sich und Otis erst mal ein Croissant holen, bevor es in den Kindergarten ging. Ein »Kroaßohr für die Seele« nannte er das.

»Französisch?«, sagte Jonathan und gab sich dabei wenig Mühe, glaubwürdig zu klingen. Warum war er ausgerechnet jetzt aus seinem Zimmer gekommen? Wollte er sie provozieren?

»Wir reden heute Abend!«, sagte sie und knallte dann die Tür zu.

»Kroaßohr-für-die-Seele-Tag?«, flüsterte Otis ihr zu, und sie nickte.

 

Als sie eine halbe Stunde später im Glauburg Café saßen und Otis sein goldgelbes Croissant auseinanderriss, fragte er sie unvermittelt: »Wir können doch alles gut zusammen machen, Mama, oder?«

»Ja, das stimmt.« Sie lächelte und biss in ihre Brioche.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich wollte mal fragen, ob wir auch mal wohin fahren können ohne die anderen.«

»Du meinst, nur wir beide?« Sie trank einen Schluck Kaffee. Otis zuckte mit den Schultern und lächelte verlegen.

»Vielleicht übernachten wir mal zu zweit bei Oma Ulli …«

Er nickte und schmiegte sich an sie.

»So, jetzt machen wir uns mal auf den Weg zur Kita …«

Otis sah über ihre Schulter hinweg. »Guck mal, da ist Joni!«

Dieo drehte sich um, und tatsächlich zog ihr ältester Sohn gerade die Eingangstür hinter sich zu und öffnete den Reißverschluss seiner Jacke. Sie stand auf und wartete darauf, dass er sie bemerkte.

»Hey Mama …«

»Was machst du hier?«

»Bin hier manchmal. Zum Lesen.« Er zog ein Exemplar von Minima Moralia aus seinem Jutebeutel.

»Aha.«

Ihr Telefon vibrierte in ihrer Manteltasche. Otis berührte es durch den Stoff. »Mama, du musst rangehen!«

Sie holte es heraus und sah eine unbekannte Nummer auf dem Display.

»Guten Morgen, de Latour hier. Spreche ich mit Frau Rosenbaum?«

Dieo gestikulierte in Richtung Jonathan und flüsterte: »Kannst du nach Oti sehen?«, während sie das Mikro zuhielt. »Frau de Latour, wie schön, dass Sie sich melden!« Sie verließ das Café.

»Störe ich gerade?«

Auf der Straße versuchte sie, den Kalender aus ihrem Rucksack zu pfriemeln. »Nein, überhaupt nicht.«

Durch das Fenster sah sie, wie Otis in Jonathans Buch blätterte, während der sich mit einer Kellnerin unterhielt. Frau de Latour erzählte ihr, dass sie in etwa einem halben Jahr einen Raum in ihrer Praxis zu vermieten habe.

»Das würde sehr gut passen. Ich habe vor kurzem meine Zwischenprüfung gemacht und mir bisher zwei Räume angesehen.« Frau de Latour schlug vor, sich nach Weihnachten doch mal zu treffen. Sie einigten sich auf ein Datum und verabschiedeten sich.

Als Dieo aufgelegt hatte und sich umdrehte, standen Jonathan und Otis vor ihr. »So viele liebe Wörter sagst du nie auf einmal sonst!«, bemerkte Otis und Jonathan schmunzelte.

»Ich kann ihn im Kindergarten absetzen, wenn du willst.«

Dieo holte tief Luft. »Das würdest du machen?«

Jonathan zuckte mit den Schultern. »Klar, ist eh auf meinem Weg zur Schule …«

»Danke!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging dann in die Hocke, um sich von Otis zu verabschieden. »Er pikst jetzt so wie Papa, oder?« Er streckte ihr seine Wange hin. »Meine ist aber ohne Piks.«

»Tschüss, ohne Piks!« Sie wandte sich zu ihrem Lastenrad und stieg auf – erst jetzt bemerkte sie, wie erschöpft sie war....

Erscheint lt. Verlag 8.2.2024
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrodeutsche • Alice Hasters • Alltagsrassismus • bernardine evaristo • Debüt • Debüt 2024 • Empowerment • Familiengeschichte • Familienkonflikt • Gegenwartsliteratur • Großstadt • Identität • Interkulturalität • Lebensgeschichten • migrationserfahrungen • Mutterschaft • poc • Postkolonialismus • Postmigration • Rassismus • Rassismus Buch • Schwesterbeziehung • Sexismus • Shida Bazyar • Zadie Smith
ISBN-10 3-462-31160-3 / 3462311603
ISBN-13 978-3-462-31160-0 / 9783462311600
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