Klaus Mann (eBook)
544 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01328-5 (ISBN)
Thomas Medicus, geboren 1953, schrieb u.a. fu?r die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und war stellvertretender Feuilletonchef der «Frankfurter Rundschau», viele Jahre arbeitete er fu?r das Hamburger Institut fu?r Sozialforschung. Heute lebt Thomas Medicus als freier Publizist in Berlin. 2012 veröffentlichte er die Biographie «Melitta von Stauffenberg», die NZZ dazu: «Was Medicus ausgegraben und recherchiert hat, ist sowohl bemerkenswert als auch bisweilen unglaublich. Gut geschrieben ist es zudem.» 2020 folgte die Doppelbiographie «Heinrich und Götz George», u?ber die der «Deutschlandfunk» meinte: «Aufsehenerregend ... In der Lebensgeschichte bricht sich mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte.»
Thomas Medicus, geboren 1953, schrieb u.a. für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und war stellvertretender Feuilletonchef der «Frankfurter Rundschau», viele Jahre arbeitete er für das Hamburger Institut für Sozialforschung. Heute lebt Thomas Medicus als freier Publizist in Berlin. 2012 veröffentlichte er die Biographie «Melitta von Stauffenberg», die NZZ dazu: «Was Medicus ausgegraben und recherchiert hat, ist sowohl bemerkenswert als auch bisweilen unglaublich. Gut geschrieben ist es zudem.» 2020 folgte die Doppelbiographie «Heinrich und Götz George», über die der «Deutschlandfunk» meinte: «Aufsehenerregend … In der Lebensgeschichte bricht sich mehr als ein Jahrhundert deutscher Geschichte.»
Prolog: Tod in Cannes
Im Mai 1949 zeigt sich die Côte d’Azur ungewohnt düster. Kein gleißendes Firmament über einem silbrig schimmernden Mittelmeer, der berühmte Boulevard de la Croisette in Cannes ist menschenleer, die Strände liegen öde und verlassen. Der Himmel grau, das Meer wogt bleiern, die Höhenzüge des Esterel sind nebelverhangen. Oleander, Bougainvillea und Lavendel zeigen im matten Licht kaum Farbe. Sie triefen vor Nässe wie die Palmen, Lorbeerbäume, Pinien, Dachziegel, Bootsdecks, Autodächer, wie der ganze Küstenabschnitt zwischen Marseille und Menton. Von früh bis spät fällt nicht enden wollender Regen. Solch eine Tristesse hat Klaus Mann bei seinen zahllosen Besuchen seit Mitte der zwanziger Jahre noch nie erlebt.
Am 23. März 1949 war er, nach einem Stopover in New York, aus Pacific Palisades kommend – dem kalifornischen Wohnort seiner Eltern –, in Amsterdam mit dem Flugzeug eingetroffen. Eine knappe Woche später ist er in Paris, logiert dort im Hôtel des Saints Pères, das er schon vor dem Zweiten Weltkrieg frequentiert hatte. In der französischen Hauptstadt trifft er, wie schon zuvor in Amsterdam, Freunde aus der Vorkriegszeit, bringt sich durch Lektüre gewohnheitsmäßig auf den neuesten belletristischen Stand. Die Korrekturen am Manuskript seiner für den deutschen Buchmarkt geplanten Autobiographie «Der Wendepunkt» hat er bereits in Amsterdam beendet. Eine kürzere englische Fassung war schon während des Zweiten Weltkriegs in den USA erschienen. In Paris diniert er in verschiedenen Restaurants, sieht im Kino Cocteaus Verfilmung von dessen Bühnenstück «Les Parents terribles» und im Theater Jean Genets aktuelles Drama «Unter Aufsicht».
Am 3. April trifft Klaus Mann in Marseille ein. Er übernachtet dort, verbringt den Tag allein, geht ins Kino, liest Gore Vidals «The City and the Pillar» zu Ende. Den Roman hatte er während der Flugreise nach Europa begonnen, einer der wenigen offen schwulen Romane dieser Zeit, zarte Blüte einer sich ankündigenden neuen Ära. «Kein gutes Buch», befindet Klaus Mann in seinem Tagebuch.[1] Ähnlich negativ hat er einige Wochen zuvor bereits Truman Capotes Erzählung «The Headless Hawk» beurteilt. Woher die abschätzigen Reaktionen? Neid auf eine junge Generation experimentierfreudiger, schwuler amerikanischer Schriftsteller, Angst vor dem Neuen, dem der zweiundvierzigjährige, schwule Schriftsteller Klaus Mann ratlos gegenübersteht? Tags darauf trifft er seine alte Freundin Doris von Salomon in Cannes und isst mit ihr zu Abend. Anschließend fahren sie mit dem Bus in das eine halbe Autostunde entfernte Cagnes-sur-Mer, ein hübsche kleine Stadt unweit von Nizza. Hier mietet er sich im Hotel Cagnard ein, geht mit Doris spazieren, macht ein paar Besorgungen. Er liest «Divided» von Ralph Freedman, ein autobiographischer Roman des deutschen Emigranten über einen kurz nach Kriegsende in Österreich stationierten amerikanischen Abwehroffizier. Eine ähnliche Funktion hat Klaus Mann als Nachrichtenoffizier der US-Armee in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in Italien ausgeübt. Auch dieses Buch missfällt ihm.
Zwei Tage später unternimmt er einen Suizidversuch. «(… und es wieder versucht …)», protokolliert er als einzigen Eintrag in sein Tagebuch, in Parenthese, als wolle er die Leere dieses Tages dadurch kennzeichnen, dass das Ereignis seines Todes nicht stattfand.[2] Es ist nicht sein erster und auch nicht sein letzter Versuch, sich das Leben zu nehmen. Dass er nicht weiterleben wolle, hat Klaus Mann im einzigen Eintrag am 1. Januar 1949 in ebenso erschütternder wie unmissverständlicher Entschlossenheit als Motto dem kommenden Jahr vorangesetzt: «Ich werde diese Notizen nicht weiterführen. Ich wünsche nicht, dieses Jahr zu überleben.»[3]
Zunächst aber rettet ihn Doris von Salomon, die er schon seit 1930 kennt. Er hatte die nur um ein Jahr jüngere Freundin in seiner wilden Zeit als junger Bohemien in Berlin noch unter dem Namen Doris von Schönthan kennengelernt. Sie, Emigrantin der frühen Stunde, lebt jetzt mit ihrem Mann Bruno von Salomon unweit der Küste, bleibt bei Klaus, hilft ihm, versucht, ihn im Leben zu halten. Nach dem Suizidversuch gibt es ein Hin und Her zwischen Cagnes, Cannes und Marseille, ein Arzt wird konsultiert, dann mietet sich Klaus im Pavillon Madrid, einer Pension in Cannes, ein. Dort bleibt er zehn Tage bis Ende April und bewältigt einen mühsamen Alltag. Er schreibt zahlreiche Briefe, arbeitet an einem Artikel über Jean Cocteau, den er seit Mitte der 1920er Jahre persönlich kennt, und macht Notizen für einen neuen Roman, den er geplant hat, Titel «The Last Day». Er vertieft sich wieder in die vor Ort verfügbare neueste Romanliteratur. Dieses Mal ist er begeistert. Norman Mailers berühmten, im Pazifik spielenden Weltkriegsroman «The Naked and the Dead» quittiert er mit dem Ausruf «Ja, das ist ein Buch!»[4] Fast scheint das Leben weiterzugehen wie und je.
Wiederholt besucht er in den folgenden Tagen das Casino von Cannes, vermutlich weil er, nicht zum ersten Mal, mittellos ist, denn das Spielen an sich zählt nicht zu seinen Leidenschaften. Er gewinnt, verliert, dann trifft postalisch Geld ein. Sein alter Freund Fritz Landshoff, verantwortlich für die deutschsprachigen Exilautoren im Querido-Verlag in Amsterdam nach 1933, hilft ihm wieder einmal aus. Klaus geht ins Kino, immer begleitet von seiner Freundin Doris. An mehreren Abenden frequentiert er die «Zanzi-Bar». Und dann geht es doch nicht mehr. Die Depressionen werfen ihn nieder wie Bleigewichte. Er ist passiv bis zur Gelähmtheit, er liest nichts, schreibt nichts, kann nicht das Geringste tun. Mit dem ersten Maitag setzt der Dauerregen ein. Zwei Tage später schreibt er in sein Tagebuch, diese wenigen Worte gelingen ihm, das Wetter sei «ungefähr so grauenvoll wie mein moralischer und körperlicher Zustand …» Und nebenstehend in der Rubrik, in der er eigentlich seine täglichen Arbeiten vermerkt, heißt es, das Motto vom ersten Januar des Jahres wieder aufnehmend, jetzt aber auf Französisch (das Klaus Mann fließend spricht): «Rien … décidément, il faut en finir …»[5] Es muss endlich Schluss sein. Ob mit seinem Leben, bleibt offen.
Vielleicht will er auch den Drogenkonsum endgültig beenden, Klaus Mann ist seit zwanzig Jahren süchtig. Um seine Depression zu überstehen, ist er tags zuvor rückfällig geworden. Der Rausch soll die hinabziehende Erdenschwere vertreiben helfen. Zeiten der Abstinenz hat es schon vorher immer wieder gegeben, ebenso häufig Rückfälle. Über Haschisch und Kokain als Einstiegsdrogen geriet er an Morphium, das er sich unter den widrigsten Umständen zu besorgen oder zu erschleichen wusste. Auch vor Heroin schreckte er nicht zurück. Jahre zuvor hat er sich bereits zwei Entziehungskuren unterzogen, ohne nachhaltige Wirkung. Dass ihm ausgerechnet jetzt seine langjährige Freundin Doris bei der Entgiftung hilft und ihn in die Clinique St. Luc nach Nizza bringt, ist nicht ohne makabre Ironie. Mit ihr hatte er sich in Berlin zu Beginn der 1930er Jahre Drogenexzessen hingegeben. Damals war es Kokain. «Endlich das Zeug», heißt es fast atemlos im November 1932. «Zu Doris. Genommen.»[6] «Genommen» – das ist Klaus Manns Standardformel für Drogenkonsum. In den Tagebüchern, die er von 1931 bis zu seinem Tod penibel führt, findet sich dieses harmlos-giftige Wort hundertfach.
In einem Gespräch in der Clinique St. Luc mit Docteur Bougeart stimmt er einer Kur zu. Die «désintoxication» beginnt am 5. Mai.[7] Bereits nach zehn Tagen verlässt er die Klinik und kehrt nach Cannes zurück in den Pavillon Madrid. Heute sind monate-, gar jahrelange Entzugstherapien üblich, damals erfolgte die Entlassung nach wenigen Tagen oder Wochen. Kaum zurück in Cannes, wird Klaus Mann rückfällig. Aus der Kur entlassen, geht er ins Kino und ist wieder Gast der Zanzi-Bar, auch am 20. Mai 1949. Am nächsten Tag findet man ihn ohnmächtig in seinem Zimmer, alle Wiederbelebungsversuche in der Klinik Lutetia, in die man ihn eilends transportiert, bleiben zwecklos. Am 21. Mai 1949 ist Klaus Mann tot, gestorben an einer Überdosis Schlaftabletten.
Klaus Mann war immer ein Mensch voller Todessehnsucht. Kann man es Schicksal nennen, etwas Unabänderliches und Unausweichliches, das er eben zu tragen, auszuhalten, mit sich abzumachen hatte? War er in jedem Moment seines Erwachsenenlebens ein Mann, der sich früher oder später das Leben nehmen würde, der Umstände halber dann mit zweiundvierzig Jahren, verlassen von Gott, der Welt und den Menschen? Klaus Mann hatte viele Facetten, Neigungen, Begabungen. Vor allem aber war er eines: unergründlich, sogar für sich selbst. Weil ihm der Tod mehr bedeutete als das Leben, war und ist er ein Mann voller Tragik und Rätsel, ein Mensch mit Geheimnis.
Noch am 2. Mai, drei Wochen vor seinem Suizid, hat er sich porträtieren lassen. Ort war das Fotostudio Francesca in Cannes. «Aufnahmen gemacht», heißt es im Tagebuch.[8] Das war in der Zeit, in der ihn die Depression zu erwürgen drohte und er große Mengen Drogen konsumierte. Doris von Salomon hatte ihn ein weiteres Mal begleitet, vermutlich sogar animiert. Welchem Zweck diente der Fototermin? Ein Versuch der Animierung mithilfe der Fotografie? Dass es um eine Lebensperspektive ging, legt ein Kontaktabzug mit zwölf Aufnahmen nahe. Einige von ihnen sind markiert, möglicherweise für den Zweck einer Veröffentlichung ausgewählt. Ging es...
Erscheint lt. Verlag | 16.4.2024 |
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Zusatzinfo | Zahlr. s/w-Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Avantgarde • Biografie • Biographie • Boheme • Deutsche Zeitgeschichte • Erika Mann • Exil • Exilliteratur • Familie Mann • Geschichte • Gesellschaft • Homosexualität • Klaus Mann • Nationalsozialismus • NS-Zeit • Schriftsteller Biografie • Thomas Mann • USA • US-Army • Weimar • Weimarer Republik • Zeitgeschichte • Zwanziger Jahre |
ISBN-10 | 3-644-01328-4 / 3644013284 |
ISBN-13 | 978-3-644-01328-5 / 9783644013285 |
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