Die Stadt der Anderen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31177-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Stadt der Anderen -  Patrícia Melo
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Glitzernde Pools, kunstvolle Skulpturen und imposante Tore: Sehnsüchtig blickt Chilves auf die luxuriösen Wohnanlagen von São Paulo. Sein eigenes Leben könnte nicht weiter davon entfernt sein: Er findet Unterschlupf auf der Praça da Matriz, ein Ort, wo jene zusammenkommen, die keinen Ort mehr haben. Da ist Jéssica, seine Jéssica, die große Pläne hegt für ihre gemeinsame Zukunft. Da ist der kleine Dido mit seinem Hundewelpen, der Schriftsteller Iraquitan, der sich an der Schönheit seltsamer Worte festhält, oder Farol Baixo, der Lügner. Zwischen behelfsmäßigen Verschlägen und Öltonnen, in einer Welt, in der sich jeder selbst der Nächste ist, entsteht eine unerwartete Gemeinschaft. Patrícia Melo reißt uns mit in eine schmutzig schillernde Metropole und fragt, was uns als Mensch ausmacht.

Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

Patrícia Melo (*1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Großstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

2


Farol Baixo, der Lügner, war derjenige gewesen, der seinem schwarzen Kumpel Chilves den Trick mit der Unsichtbarkeit verraten hatte: wie man die Swiss Life Residence betrat, ohne gesehen zu werden oder die Rezeption passieren zu müssen. Es sei gar nicht so kompliziert, hatte sein Freund ihm damals gesagt, »man muss nur tierisch weit laufen«. Dann an der Straße nach Boissunga das Häuschen der Bushaltestelle finden, an dessen metallene Seitenwand jemand geschmiert hatte: Nimm Drogen, bring deine Familie um, friss Scheiße, wähl den Präsidenten wieder. Von dort aus musste man nur noch über den Gitterzaun klettern, der das an die Wohnanlage angrenzende Waldreservat umgab. Da der Wald umzäunt war, vermittelte er den Anwohnern ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit, bot Dieben und Einbrechern aber eine günstige Gelegenheit. Die größte Schwierigkeit bestand darin, die hinter einem Bambusgehölz verborgene Mauer zu erklimmen, doch nun war er oben und passte auf, dass sich die Dreadlocks seiner gewaltigen Mähne nicht in dem Bambus verhedderten. Schließlich hockte Chilves sich vorsichtig auf die Mauer und bedeutete Jéssica, die direkt hinter ihm hochgeklettert war, es ihm gleichzutun. Er brannte darauf, seiner Freundin zu erzählen, was er bei früheren Besuchen über den Ort in Erfahrung gebracht hatte. Als sie sich voller Angst, hinunterzufallen, neben ihn gesetzt hatte, schob Chilves das Bambusdickicht vor ihnen mit seinen kräftigen Armen einen Spalt weit auseinander.

Von hier aus gesehen schienen die sieben Villen der Swiss Life Residence nicht zu einer Wohnanlage zu gehören. In den weitläufigen, von Rhododendren, Glyzinien und Azaleen bewachsenen Gartenanlagen, die sie voneinander trennten, hätte man sogar noch ein paar Fußballfelder oder Tenniscourts unterbringen können. Platzmangel herrschte jedenfalls nicht.

Auf die Villen deutend, zählte Chilves: »Zwei, drei, vier, fünf der Häuser stehen leer. Hab ich es nicht gesagt?«

Das Mädchen mit dem wachen Blick und dem kurzen, schiefen Pony, der sie jünger als vierzehn Jahre aussehen ließ, war mehr von den glänzenden Details des Ensembles beeindruckt, von dem Gold der Tore, dem Stahl und dem Metall der Skulpturen, aber auch von den blühenden Ipê-Bäumen, die die Gehwege mit gelben Blütenblättern übersät hatten.

»Farol Baixo hat nicht gelogen«, fuhr Chilves fort. »Die Reichen flüchten gerade aus der Stadt.«

Farol Baixo erzählte andauernd irgendwelchen Mist, eines Tages habe ihn eine Frau auf dem Platz ernsthaft gefragt, ob er ihren Mann für zweihundert Real umbringen könne. Er kenne einen »echten« Abgeordneten. Und er habe Geld auf der Bank, es sei allerdings wegen Steuerschulden eingefroren, und sein kaputtes Auge sei das Ergebnis eines Unfalls mit einer Harley-Davidson. Jéssica glaubte ihm kein Wort, aber dann waren hier die Swimmingpools, die Paläste und der Hubschrauberlandeplatz, die er so genau beschrieben hatte. Was trotzdem überraschend war. Denn auf der Straße sagte niemand die Wahrheit, das wusste sie. Es war fast wie eine Sucht: Man lernte zu lügen, warum man auf der Praça da Matriz lebte, man log über sein Alter, log über seinen Vater, seine Mutter, und dann fing man an, auch über den ganzen Rest Lügengeschichten zu erzählen. Und selbst die schweigsamsten Typen wie Chilves kamen plötzlich mit einem sehr merkwürdigen Text daher. Die ganzen Besuche in dieser Wohnanlage, das ganze Generve, dass sie sich diese Villen unbedingt aus der Nähe ansehen sollte, brachten sie auf den Gedanken, dass Chilves vielleicht einen Einbruch plante, und wenn er das tat, verdammt, dann wollte sie davon nichts wissen. Die Schilder standen überall. Vorsicht. Kein Eintritt. Ausweis vorzeigen. Privatgelände. Zutritt verboten. Bissiger Hund. Elektrischer Zaun. Konnte er nicht lesen? Selbst wenn einige Häuser leer standen, gab es dort eine Kamera. Da noch eine. Wenn er klauen wollte, bitte schön, auf sie konnte er nicht zählen. Ihre Pläne sahen anders aus. Sie fand es super, Glenda beim Wohnungenputzen im Stadtzentrum zu helfen. Und das bedeutete nicht, dass sie ein Dienstmädchen war. Wie ihre Urgroßmutter. Und ihre Großmutter. Wie ihre Mutter, die, bevor alles schieflief, im Haus einer Familie gekocht hatte. Jetzt hieß das »Angestellte«. Und Jéssica würde all diese Bäder und Küchen schrubben, bis die Fliesen bluteten, und die Damen des Hauses würden so zufrieden sein, dass sie sie bald engagierten, als Angestellte. Wie Glenda. Sie hatte sich schon alles ausgemalt: Mit dem Geld würde sie sich die verlorenen Papiere wiederbesorgen. Personalausweis und so. Und das Arbeitsnachweisheft. Und wenn es unterschrieben wäre, würde sie eine Baracke mieten. Und wenn alles so wäre, wie sie es sich erträumt hatte, würde sie ihre Mutter suchen. Das hatte sie ihrem Freund aber nicht erzählt. Sie wollte nicht, dass Chilves sie für eine Lügnerin hielt wie Farol Baixo oder all die Leute von der Platte, die behaupteten, ihre Mutter sei dies, ihre Mutter sei jenes, obwohl sie in Wirklichkeit gar keine Mutter hatten. Oder sie hatten eine, aber eine Rabenmutter. Eine Prostituierte. Eine Drogenabhängige. Ihre Mutter war anders. Eine echte Mutter, an die sie sich stets voller Trauer erinnerte, wie sie bei der Totenwache um ihr anderes Kind, ihren Sohn, geweint hatte. Und es nützte auch nichts, dass Chilves sie hierher mitgenommen hatte, um sich den ganzen Reichtum anzuschauen. Sie würde niemanden überfallen. Wenn sie sich etwas geschworen hatte, dann das: Sie würde nicht noch eine sein, die jung starb.

»Willst du das Haus sehen, in dem Farol Baixo gearbeitet hat?«, fragte Chilves.

Ja, das wollte sie allerdings. Wenn alles, was Farol erzählt hatte, stimmte, dann wahrscheinlich auch die Geschichte von Dona Elisa, der Hausherrin, die so weiß war, dass sie aussah wie die Blondine aus den Schauergeschichten, die die Menschen im Bad erschreckt, und von ihrem Mann, dem Amerikaner, der über seine eigene Zunge stolperte, wenn er nur Guten Morgen sagte, und von dem Tag, an dem er vom Gringo gefeuert worden war, nachdem der Farol Baixo betrunken in der Garage gefunden hatte, und das Abgefahrenste war, hatte Farol Baixo gesagt und sich dabei vor Lachen gebogen: Er hatte gar nicht kapiert, dass er entlassen worden war und hatte vor dem Gringo gestanden, den Dummen gespielt und ständig wiederholt: »Sehr erfreut!«

Chilves stand behände auf, seine schwarze Haut glänzte vom Schweiß. Es war nicht das erste oder zweite und auch nicht das dritte oder vierte Mal, dass er hier heraufgeklettert war, er kannte jeden Zentimeter dieser Mauer, er lief darauf entlang, den Bambus beiseiteschiebend, die Freundin an der Hand, setz deinen Fuß hierhin, sagte er, auf diesem Stück musst du dich bücken, sonst kann man dich sehen, er liebte dieses Programm, und wenn er jemanden vom Platz mit hierherlotsen konnte, umso besser, aber auch allein machte er es sich gerne irgendwo inmitten des Taquara-Dickichts bequem und sah den wenigen noch verbliebenen Anwohnern bei ihren täglichen Verrichtungen zu, den immer saumseligeren Sicherheitsleuten, der schwindenden Wachsamkeit im Wächterhäuschen, ohne erklären zu können, was ihn so anzog. Vielleicht war es die Idee, in einen Hubschrauber zu steigen. Zumindest am Anfang war es das gewesen. Als Farol Baixo ihm von dem Hubschrauberlandeplatz erzählte, dachte er, er könnte vielleicht von der Mauer herunterspringen und das geparkte Flugzeug aus der Nähe betrachten.

Ein blaues Flugzeug mit abgebrochenem Flügel, das seine Mutter auf der Müllhalde gefunden hatte, war jahrelang sein einziges Spielzeug gewesen. Selbst noch als Erwachsener war er ganz erpicht auf alles, was fliegen konnte. Raketen und Ähnliches. Er hatte enormen Respekt davor. Federn zu haben und mit den Flügeln schlagen zu können, war eine tolle Sache. Aber eine Maschine aus Stahl zu fliegen, das war heldenhaft. Dazu gehört eine Menge Können. Gerne wäre er Pilot geworden. Manchmal, wenn er Platte machte und seinem kleinen Radio lauschte, stellte er sich vor, wie er auf dem Pilotensitz saß, den Gehörschutz auf den Ohren, die sich über seinem Kopf drehenden Propeller, die die Stadt unter ihm in Unruhe versetzten, das Gefühl von Dringlichkeit, all der Lärm, und dann würde er über das Bataillon der Schutzpolizei, der Guarda Metropolitana, hinwegfliegen, über dasselbe, das von Zeit zu Zeit die Praça da Matriz stürmte und auf die Bewohner der Straße eintrat und einschlug, und in seinem Hubschrauber würde er abwarten, bis die Ratten anfingen zu singen, eh eh eh eh ah, ich ziele auf den Kopf und schieße, um zu töten, eh eh eh eh ah, und fehlt die Munition, dann hagelts auf die Klöten, und genau in dem Moment würde er die Klappe für das Maschinengewehr öffnen, und das wäre es dann gewesen mit dem Bataillon. Er hatte große Lust, durch die Gegend zu laufen und um sich zu schießen, es gab einen Haufen Leute, die erledigt werden mussten, all jene, die wegschauten, die sie ignorierten oder voller Ekel anblickten, die hupten, die schimpften, während er mit seinem Karren auf der Straße Pappe und Dosen sammelte, es würde nicht an Kugeln für alle mangeln. Kugeln auch für den Hinkefuß vom Tankwagen, der an jenem Morgen seine Kleider und die aller, die unter dem Vordach der Banco do Brasil schliefen, durchnässt hatte. Kugeln für den Bürgermeister, der die Kirchen einzäunte. Kugeln für die Portiers und Ladenbesitzer, die heißes Öl auf die Bürgersteige kippten, damit man dort nicht übernachten konnte. Kugeln für die Playboys, die sich einen Spaß daraus machten,...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2024
Übersetzer Barbara Mesquita
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Armut • Brasilien • Drogen • Frau • Gemeinschaft • Lateinamerika • Obdachlosigkeit • Rassismus • Reichtum • São Paulo
ISBN-10 3-293-31177-6 / 3293311776
ISBN-13 978-3-293-31177-0 / 9783293311770
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