Künstliche Beziehungen -  Nathan Devers

Künstliche Beziehungen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491803-7 (ISBN)
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Gedankenlos klickt Julien Libérat auf einen Link im Netz und lässt den Liebeskummer und sein erbärmliches Vorortzimmer hinter sich. Wie im Rausch stürzt er sich in die fabelhafte »Antiwelt«, wo er sich unter dem Namen Vangel neu erfindet und mit seinem Boxergesicht ein stürmisches Leben führt. Adrien Sterner ist der visionäre Entwickler dieses Metaversums, er duldet keine anderen Götter neben sich. Als Vangel zum Superstar wird, sieht er sich zunehmend bedroht und muss handeln. Können wir mit verschiedenen Identitäten leben? Ist es möglich, sich eine eigene Welt zu erbauen? Nathan Devers' Roman setzt sich mit diesen Fragen auseinander und schafft eine lustvolle Verbindung von Literatur und virtueller Welt. Ein Roman über die Leidenschaft des Künstlichen.  

Nathan Devers, geboren 1997, hat nach einer abgebrochenen Rabbiner-Ausbildung Philosophie an der École normale supérieure studiert und unterrichtet an der Universität in Bordeaux. Er arbeitet als Kommentator für verschiedene TV-Kanäle und ist Herausgeber der von Bernard-Henri Lévy gegründeten Zeitschrift »La Règle du jeu«. »Künstliche Beziehungen« ist sein zweiter Roman. Nathan Devers lebt in Paris.

Nathan Devers, geboren 1997, hat nach einer abgebrochenen Rabbiner-Ausbildung Philosophie an der École normale supérieure studiert und unterrichtet an der Universität in Bordeaux. Er arbeitet als Kommentator für verschiedene TV-Kanäle und ist Herausgeber der von Bernard-Henri Lévy gegründeten Zeitschrift »La Règle du jeu«. »Künstliche Beziehungen« ist sein zweiter Roman. Nathan Devers lebt in Paris. André Hansen ist Übersetzer aus dem Französischen, Italienischen und Englischen. Er hat in Mainz, Dijon und Bologna studiert und war Teilnehmer am Georges-Arthur-Goldschmidt-Programm 2016. Er übersetzt sowohl literarische wie geisteswissenschaftliche Texte u.a. von Nicolas Mathieu, Thomas Piketty, Florence Aubenas und Mahir Guven. 

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Kapitel 1


Sonntage waren in Rungis kranke Tage. Seit Julien hier lebte, versuchte er immer, so spät wie möglich nach Hause zu kommen. Von morgens bis abends schmorte die Stadt in einem Klima der Einsamkeit. Im Umkreis von zwanzig Minuten gab es in den menschenleeren Straßen kein offenes Geschäft. Wagte man sich vor die Tür, vermeldeten die dunklen Bürofenster, dass auch die Gemeindeverwaltung verschlossen war. Rungis erinnerte an die wüste Landschaft nach einer Atomkatastrophe. Nur der Fluglärm von Orly ließ eine Welt erahnen. Irgendwer schlürfte Tomatensaft und lauschte den Ansagen der Stewardess, die eine von Stränden und Meer umkämpfte Landschaft ankündigte. In Rungis blieb man ruhig und wartete, eingesperrt in den Wohnungen, auf den Sonnenuntergang und den nächsten Wochenstart, als hätte man sich damit abgefunden, neben dem großen Flughafen reglos und träge dahinzuvegetieren. Es schien eine ungeschriebene Regel zu geben: Sonntags blieben alle mehr oder weniger daheim – und niemand kam auf die Idee, diese Atmosphäre der Stille und Leere, diesen Geist des ewigen Lockdowns zu stören.

Julien wohnte seit dem 8. Februar in Rungis. Als mit May Schluss war und sie ihn aus der gemeinsamen Einzimmerwohnung geworfen hatte, hatte er seine Eltern um Unterstützung gebeten, ohne große Hoffnung. Ein vergebliches Unterfangen. Sie kamen mit den üblichen Ausreden: Die Fensterläden mussten neu gestrichen werden, sie hatten hohe Rechnungen zu bezahlen, die Wasserleitungen waren alt, das Auto defekt … Immer war es schwierig bei ihnen. Julien kannte dieses Herumeiern nur zu gut, diese Ausflüchte, die tausend absurden Rechtfertigungen für ihren angeborenen Egoismus. Als er ihnen also anlässlich eines gemeinsamen Mittagessens seine Situation schilderte und sein Vater ihm erklärte, dass sie sich beim besten Willen nicht einmal an der Miete beteiligen könnten, hatte er keine Kraft mehr für Streit. Er sagte bloß, dass er sie verstehen könne. Gewissermaßen stimmte das auch: In seinem Alter konnte er den Eltern nicht mehr die Schuld an seiner Misere geben.

Je mehr Wohnungen Julien besichtigte, desto bereitwilliger nahm er größere Entfernungen von der Rue Littré in Kauf. In der Pariser Innenstadt konnte er gerade einmal eine dunkle Kammer mit Klo auf dem Gang anmieten. Er musste der Wahrheit ins Auge blicken: Ein junger »Künstler« konnte in der Hauptstadt seines Landes nicht gut leben. Jeden Tag erweiterte er seinen Suchradius und stieß schließlich auf die Anzeige für eine Einzimmerwohnung zur Untermiete im Stadtzentrum von Rungis. Damals dachte er, dass es sich um eine vorübergehende Unterkunft handelte: zehn Tage höchstens oder einen Monat, dann würde er wieder in Stadtnähe ziehen, nach Montrouge etwa oder nach Issy-les-Moulineaux. Deshalb richtete er seine Bleibe gar nicht erst ein. »Bleibe«, das war nicht das passende Wort. Rungis war für ihn bloß eine Durchgangsstation. Nichts anderes als eine Wartestadt.

Die zehn Tage zogen sich jetzt schon drei Monate hin, und ein baldiger Umzug war nicht in Sicht. Nicht, dass sich Julien in Rungis heimisch fühlte, ganz und gar nicht. Nichts brachte Gleichgültigkeit und Langeweile besser zum Ausdruck als diese Stadt, die von Autobahnen, Hangars und einem Flughafen umzingelt war. Und doch stand sie ihm fast wie ein Maßanzug. Rungis war nicht zu dörflich, nicht zu unpersönlich, keine Kleinstadt, sondern eher eine Großstadt im Miniaturformat. Hier gab es hauptsächlich Bürogebäude und mehr Kaffeemaschinen als Einwohner. Auf Menschen traf man hier nur selten. Doch alles war ordentlich, angefangen bei den Blumen, die die Stadtverwaltung pflanzen ließ, um das Wohlbefinden der Verwalteten zu maximieren und ein prestigeträchtiges Label zu erhalten. Rungis war also ein Ort, wo nichts geschah, absolut nichts, wo aber ein fesselnder, absurder Duft in der Luft lag: der Duft eines Abenteuers, das anfangen wollte, aber noch nach dem geeigneten Startpunkt suchte.

 

An jenem Abend begann nun in der Tat ein Epos: Zum ersten Mal seit langem sollte Julien in einer Bar im fünften Arrondissement anlässlich der Wiedereröffnung der französischen Gastronomie ein Konzert geben. Thibault Partene, der Wirt des Piano Vache, hatte ihm die frohe Botschaft in einer siegesgewissen SMS übermittelt: »Hallo, mein liebster Piano Man, mit großer Freude kann ich dir mitteilen, dass wir nach zwei Jahren der verschlossenen Türen endlich wieder ein Spring Jazzy machen! Da sollten viele Amis kommen. Ich denke so an Woody-Allen-Songs wie in alten Zeiten … Zehn Stücke bis nächste Woche, schaffst du das? Wenn ja, 100 Euro OK? LG.«

Das Piano Vache befand sich ganz oben auf dem Sainte-Geneviève, etwas unterhalb des Panthéon in der schmalen Rue Laplace, einer Gasse, in die sich abends die Urlauber auf der Suche nach Unterhaltung verirrten. Seit dem Film Midnight in Paris von 2011 war das Viertel immer touristischer geworden und machte Montmartre und den Champs-Élysées Konkurrenz. Der Held, ein amerikanischer Idealist, gespielt von Owen Wilson, schlendert in diesem Woody-Allen-Film verträumt durch das fünfte Arrondissement. Um Mitternacht betrachtet er den Vorplatz der Kirche Saint-Étienne-du-Mont und erlebt ein Wunder: Er reist durch die Zeit und findet sich im Paris der Années Folles wieder, in Gesellschaft von Hemingway, Fitzgerald und sogar Picasso.

Seitdem stand dieser Vorplatz für den Zauber von Paris; ein Muss für Parisbesucher im Sommer. Jeden Abend zündeten sich hier Dutzende Touristen mit Adrenalin in den Adern eine Zigarette an. Wenn Allens Wunder ausblieb, suchten sie ein paar Meter weiter nach einer romantischen Bar. Zum Glück für Thibault Partene stürzten sie sich in die Rue Laplace, wo der Weg so schmal war, dass sich die Häuser oben zu küssen schienen. Die Zigarette war noch nicht erloschen, da erspähten sie schon die Fassade des Piano Vache mit den schmalen Fenstern und den altmodischen Außenschabracken. Auf einer Markise prangten die Worte »Le Piano Vache« in einer Vintage-Schriftart; ein schmaler Saum verstärkte den Schaft eines jeden Buchstaben, was sie so tänzerisch erscheinen ließ wie Achtelnoten. Die dauerverzückten »Cheeseburger« – wie Thibault Partene sie manchmal nannte – betraten im Halbdunkel einen Raum mit Protestplakaten, sie bestellten Bier, und bis ein Uhr nachts war Paris ein Fest.

Wie alle Geschäfte, Bars, Discos, Bistros und Gaststätten, wie fast die gesamte Weltwirtschaft hatte auch das Piano Vache stark unter der Coronakrise gelitten. Von Lockdown zu Lockdown, von Teilöffnung zu erneutem Lockdown, von Ausgangssperre zu Maskenpflicht, von Impfpass zu zig unterschiedlichen Hygienekonzepten, alles vor dem Hintergrund eines langen Ausbleibens von Touristen, war es schwieriger geworden, und schließlich hatte Thibault Partene Insolvenz angemeldet. Die Bar blieb fast zwei Jahre lang geschlossen, bis die Schanklizenz an einen neuen Eigentümer überging. In den Nachrichten, die er Julien zwischen 2020 und 2022 schickte, wechselte er zwischen zwei gegensätzlichen, aber nicht widersprüchlichen Wutausbrüchen: Einmal ärgerte er sich über die »Flachpfeifen in der Regierung«, ein anderes Mal, wenn er sich in einer Phase äußerster Frustration oder Resignation befand, richteten sich seine Beschimpfungen gegen das Virus selbst, dieses »Scheißcorona«, diesen »verkackten Virus, der unser Leben ruiniert«, diese »***** Krankheit, die alles kaputtmacht«. In all seiner Rage beschuldigte er die Seuche jedoch nie, Menschen getötet zu haben. Er regte sich nur darüber auf, dass sie seine Bar zugrunde richtete.

Am 15. Mai 2022 war der Optimismus dennoch groß. Als Julien den zu drei Vierteln gefüllten Raum betrat, fand er ihn kaum verändert vor, es wirkte nur viel sauberer als früher: Graffiti und Che-Guevara-Poster zierten zwar noch immer die Wände unter den Holzbalken, aber das Licht war heller, und die Tische glänzten, als hätte sich die Patina aus Schmutz und Alkoholresten in Luft aufgelöst. Während Julien seine Noten ausbreitete, suchte er sich zwei oder drei Leute im Publikum aus, die er im Blick behalten wollte, um die Stimmung seiner Zuhörerschaft zu testen. Zuerst ein Tisch mit Amerikanerinnen, die übertrieben lachten und Insta-Stories posteten. Etwas weiter hinten ein Rentner mit vernarbtem Gesicht und leerem Blick, der ein großes Bier hütete. In der Ecke am anderen Ende des Raums ein Pärchen, das auf seine Getränke wartete. Der Mann trug Sneaker und eine weiße Hose. Er war stark gebräunt, bemühte sich um eine aufrechte Haltung und richtete alle zehn Sekunden seine Haare. Wenn seine Begleiterin nicht hinsah, glotzte er sie von der Seite an, beugte sich vorsichtig zu ihr hinab, kam bis auf wenige Zentimeter an sie heran. Er zögerte offenbar, ihre Schulter zu berühren. Die Frau richtete derweil ihre Maske – ihre Art des Nachschminkens.

»Ladies and gentlemen, welcome to the Piano Va-a-ache!«

Kollege Partene versuchte sich an ein paar englischen Sätzen und betonte die wichtigsten Wörter: Dreimal sprach er vom »Frenchy style« und vom »Parisian way of life«. Julien hörte halb zu und fragte sich, ob es einen »Parisian way of taking the Regionalverkehr, um 100 Euro in einer Kitschbar zu verdienen«, gab. Dann kam Thibault auf das Thema des Abends zu sprechen und zwinkerte Julien zu: Das war sein Zeichen, mit der Musik zu beginnen.

Als Julien seine Finger auf die...

Erscheint lt. Verlag 24.7.2024
Übersetzer André Hansen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Anspruchsvolle Literatur • Avatar • Computer Games • Ein Buch von S. Fischer • Frankreich • Französiche Literatur • Gaming • Identität • Junge Literatur • metaversum • Philosophie • Virtuelle Realität • Virtuelle Welt
ISBN-10 3-10-491803-1 / 3104918031
ISBN-13 978-3-10-491803-7 / 9783104918037
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