Die Frauen vom Lindenhof: Ein Neuanfang für uns / Zusammen können wir träumen / Gemeinsam der Zukunft entgegen - Drei Romane in einem Band (eBook)
1312 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492080-1 (ISBN)
Andrea Bottlinger und Claudia Hornung schreiben gemeinsam als Katharina Oswald. Beide sind in Baden-Württemberg geboren und lieben es, sich in Frauenschicksale verschiedener Jahrzehnte hineinzudenken. Sie kennen sich schon lange und ergänzen sich beim Schreiben perfekt: Andrea achtet immer auf die Struktur der Geschichte, und Claudia vertieft sich ganz in die Details und Emotionen. Zusammen schaffen sie mitreißende Familiensagas.
Andrea Bottlinger und Claudia Hornung schreiben gemeinsam als Katharina Oswald. Beide sind in Baden-Württemberg geboren und lieben es, sich in Frauenschicksale verschiedener Jahrzehnte hineinzudenken. Sie kennen sich schon lange und ergänzen sich beim Schreiben perfekt: Andrea achtet immer auf die Struktur der Geschichte, und Claudia vertieft sich ganz in die Details und Emotionen. Zusammen schaffen sie mitreißende Familiensagas.
Kapitel 1
Hohenlohe, im Advent 1953
Marianne stand vor dem Haus und hob den Kopf.
In der kalten Winterluft war ihr, als könnte sie aus dem nahen Wald die vertrauten Geräusche hören: Das Kreischen der Säge, die lauten Stimmen der Männer, während sie die schweren Stämme mit purer Muskelkraft über den Platz vor dem Holzlager wuchteten, um sie anschließend zu entrinden und in stabile Bretter zu zerlegen. Dazu die Geräusche aus der Schreinerei des Vaters – das stetige Bohren, Hämmern, Fräsen und Schleifen, und das Lachen des Großvaters, der den Hobel weglegte und sie in die Arme nahm, wenn sie voller Neugier hereinlugte. Sie meinte den unvergleichlichen Geruch von Sägespänen und frischem Holz wahrzunehmen; ein Geruch, den Marianne mit Erinnerungen an unbeschwerte Kindheitstage verband.
Doch heute roch es vor allem nach Schnee.
Im Dach der Schreinerei klaffte ein Loch, dort arbeitete schon seit Jahren niemand mehr.
Marianne atmete tief ein, riss sich von ihren Erinnerungen los und lud den Korb mit Wäsche auf den Leiterwagen. Die Gartenbank unter der Linde im Hof war mit Raureif überzogen. Schwere Wolken hingen über den Waldenburger Bergen und kündigten den Winter an. Noch fielen keine Flocken. Wenn sie sich sputete, würde sie vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.
»Marianne?« Die Mutter tauchte im Türrahmen auf. Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Vergiss nicht, nach neuen Aufträgen zu fragen.«
»Natürlich nicht.«
Marianne nickte der Mutter zu, bevor sie den Handwagen packte und mit raschen Schritten den Hof verließ.
Als sie am Weiher und der alten Sägemühle vorbeiging, knirschte der gefrorene Boden unter ihren Sohlen. Das Geräusch hallte weit durch die Stille, die das ehemals geschäftige Treiben ersetzt hatte.
Auf dem Wasser bildeten sich erste zarte Eiskristalle. Bestimmt war auch der nahe gelegene Neumühlsee bald zugefroren. Ihr Vater hatte das Eis immer getestet, bevor sie und die Kinder aus dem Dorf es hatten betreten dürfen. Auch während des Krieges hatte er so ein wenig Freude in die düstere Zeit gebracht. Erst 1944 hatte man ihn eingezogen, als die Wehrmacht auch jene Männer an die Front schickte, deren Arbeit bis dahin als kriegswichtig galt. Er war nicht lebend heimgekehrt.
Marianne fror, sie zog die Schultern hoch und stapfte weiter. Vielleicht sollte sie, sobald es kalt genug war, Lottchen mit zum Weiher nehmen. Ihre jüngste Schwester hatte die Nachmittage auf dem See nie erlebt. Sie war in dem Jahr geboren, in dem ihr Vater gestorben war. Vielleicht hätte sie Freude daran über das Eis zu schlittern. Und vielleicht würde ihr Jauchzen die Stille für einen Moment vertreiben.
Ein Eichhörnchen huschte vor Marianne über den Weg. Flink und geschickt erklomm es den Baum, unter dem es wohl seine Vorräte für den Winter vergraben hatte. Keckernd beschwerte es sich über die Störung.
Marianne blieb stehen. »Komm wieder runter«, lockte sie. »Ich tu dir nichts.«
Das hübsche Tier mit dem dichten, rotbraun glänzenden Fell dachte gar nicht daran. Es musterte sie nur aus seinen dunklen Knopfaugen und schien zu warten, dass sie weiterging.
Mariannes Blick wanderte vom Eichhörnchen über den Baum wieder zur Schreinerei. Auch wenn der Lärm des Betriebs die Wildtiere verscheucht hatte, wünschte sie sich die Vergangenheit zurück.
Noch gehörte die brachliegende Werkstatt ihrer Familie. Weil der Lindenhof am Weiher ein Stück abseits des Dorfes lag und die Zufahrtswege schlecht waren, schien er in Vergessenheit geraten zu sein. Unkraut wucherte über weite Teile des Geländes, und hinter dem offenen Tor des Holzlagers klaffte eine ebensolche leere Dunkelheit wie unter dem Loch im Dach.
Marianne presste die Lippen zusammen.
Sie sollte den Blick lieber in die Zukunft richten, auch wenn die Bilder aus der Vergangenheit sie immer wieder einholten.
An das brennende Waldenburg im April 1945 würde Marianne sich ewig erinnern. Bis weit über die Hohenloher Ebene hinweg hatte man die Rauchschwaden ziehen sehen und das Artilleriefeuer gehört. Niemand in der Gegend hatte mit diesem Ausmaß an Zerstörung gerechnet, zumal der Ort bis dahin fast verschont geblieben war. Doch dann hatte der sinnlose, schreckliche Krieg noch mit voller Wucht zugeschlagen.
Marianne hatte zusammen mit ihrer Mutter, dem wenige Monate alten Lottchen und der sechsjährigen Henni im Kohlenkeller gekauert und die Einschläge am ganzen Körper gespürt.
Mittlerweile waren jedoch genug Jahre vergangen, dass die Wunden heilen und die Menschen anpacken konnten, um das Land und ihr Leben wieder aufzubauen.
Marianne wünschte, auch ihre Familie hätte das Geld dafür. Sie wünschte, sie könnte etwas von bleibendem Wert schaffen, anstatt nur Botengänge zu erledigen und im Haushalt zu helfen.
Sogar mitten auf dem Weg zum Lindenhof stand das Unkraut hoch. Vorsichtig zog Marianne ihren Leiterwagen an den mit Reif überzogenen Disteln vorbei.
Sie war nicht weiter zur Schule gegangen, weil die Mutter sie daheim brauchte. Aber würde sie nicht viel mehr für ihre Familie tun können, wenn sie einen richtigen Beruf erlernte? Jetzt da es an arbeitsfähigen Männern mangelte, taten das viele Frauen. Und mit dem Familienbetrieb könnte sie auch all die glücklichen Momente ihrer Kindheit wieder aufleben lassen.
Vielleicht irgendwann einmal. Bald.
Marianne würde die Hoffnung nicht aufgeben.
Der Dezemberwind biss ihr in die Augen, und ihre Hände, die den Wagen zogen, wurden vor Kälte taub. Sie schob den wollenen Schal ein Stück höher und verbarg ihr Gesicht darin. Als sie die ersten Häuser des Dorfes erreichte, atmete sie auf.
Von der Bäuerin, der sie das ausgebesserte Jäckchen und die festliche Bluse lieferte, wurde sie herzlich empfangen. »Sag deiner Mutter besten Dank. So feine Spitzenkragen kriegt man nicht einmal in Hall!«
»Ich werd’s ausrichten.« Marianne wusste, dass ihre Mutter sich über das Lob freuen würde. »Ich soll außerdem fragen, ob es noch etwas zu nähen gibt?«
Die Bäuerin schüttelte den Kopf. »Vorerst brauche ich nichts mehr. Ich fürchte, es wird im Dorf auch sonst niemand Arbeit für dich haben. Du weißt ja, über den Winter gibt’s auf den Äckern und im Garten wenig zu tun, da sitzen die Frauen dann abends am Kamin und nähen oder stricken selbst.« Sie drückte Marianne einige Münzen in die Hand.
Die verstaute das Geld sorgfältig im Beutel.
»Das sind fünfzig Pfennig mehr, als wir ausgemacht hatten«, erklärte die Bäuerin. »Außerdem ist hier noch Mehl und Rübenzucker. Wenn ihr sonst noch was braucht, komm ruhig vorbei. Hungern soll in unserm Dorf keiner müssen.«
»Wir hungern nicht.« Die Antwort kam schnell und ein bisschen zu heftig über Mariannes Lippen.
»Na, an dir und deinen Schwestern ist aber nichts dran!« Die Bäuerin lachte. Dann wurde sie wieder ernst. »Schon gut. Ich weiß, dass ihr’s nicht leicht habt da draußen.«
»Wir kommen zurecht«, beharrte Marianne leise. Wie gut oder schlecht sie das taten, ging niemanden etwas an.
Vielleicht war das der Grund, warum Henriette sich vor den Botengängen immer drückte; das Gefühl, der Freundlichkeit und dem Wohlwollen anderer ausgeliefert zu sein. Marianne versuchte das Unbehagen abzuschütteln, als sie weiter über die Dorfstraße stapfte und einem Haufen Pferdeäpfel auswich.
Leider behielt die Bäuerin recht. Egal, wo Marianne auch klopfte und fragte, es gab derzeit nichts zu nähen. Auf sämtlichen Höfen war man ausreichend mit Unterkleidern, Blusen, Kittelschürzen oder Bettwäsche versorgt.
Am Ende der Dorfstraße, kurz bevor der holprig steile Weg zum nächsten Weiler abzweigte, lag der Milchhof. Dort war Lisbeth, die Schwiegertochter des Milchbauern, gerade dabei Mist aus dem Kuhstall zu schaufeln.
»Hallo«, rief sie und winkte.
Eine vorwitzige Strähne hatte sich aus ihrem blonden Zopf gelöst, und die klobigen Schuhe starrten vor Dreck. Dennoch war sie die ansehnlichste Frau, die Marianne kannte. Netter als die meisten im Dorf war Lisbeth obendrein.
»Wie geht’s deinem Großvater?«, erkundigte sie sich. »Hustet er noch?«
»Langsam wird’s besser.« Marianne blieb vor der offenen Stalltür stehen. »Der Zwiebelsaft hilft.«
Lisbeth nickte. »Bei meinen beiden Rackern hat der Saft sich auch schon oft bewährt.«
Während sie sich unterhielten, genoss Marianne die dampfige Wärme, die aus dem Innern des Stalls drang. In den Sommermonaten half sie gelegentlich, die Milchkühe auf die Waldweide zu treiben, denn Lisbeths Zwillingsbuben waren dafür noch zu klein. Beim Heuwenden hatte sie auch mitangepackt, manchmal sogar beim Flachsrupfen. Warum sollte sie daheim herumsitzen, wenn sie bei der Ernte helfen und so etwas dazuverdienen konnte?
»Magst du kurz reinkommen und dich aufwärmen?«, fragte Lisbeth. »Wie wär’s mit einer Tasse heißer Milch mit Honig?«
»Ich muss gleich weiter«, wehrte Marianne ab. Immer wenn sie länger keine Milch gekauft hatte, bot Lisbeth ihr so welche an, damit sie sie annehmen konnte, ohne sich in ihrem Stolz verletzt zu fühlen. Marianne war Lisbeth dafür sehr dankbar, und manchmal, wenn der Hunger zu groß war, nahm Marianne Lottchen auf ihrem Rundgang mit.
Von Lisbeth würde sie die Milch auch umsonst bekommen, das wusste sie. Aber da war Marianne ganz wie ihre Mutter; es war ihr unangenehm, solche Großzügigkeit anzunehmen, lieber tauschte...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2024 |
---|---|
Reihe/Serie | Die Lindenhof-Saga | Die Lindenhof-Saga |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufbruchstimmung • Bestseller • E-Book-Bundle • Familiensaga • Hohenlohe • Holzarbeiten • Holzspielzeug • Mutter-Tochter-Beziehung • Neubeginn • Puppenmöbel • Schreinerei • Schwestern • Zusammenhalt |
ISBN-10 | 3-10-492080-X / 310492080X |
ISBN-13 | 978-3-10-492080-1 / 9783104920801 |
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