Das letzte Geständnis (eBook)
576 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31102-5 (ISBN)
Berkeley 1944: Detective Al Sullivan hat nach einer Verabredung kaum das glamouröse Claremont Hotel verlassen, als er dorthin zurückgerufen wird. Der Präsidentschaftskandidat Walter Wilkinson wurde in seinem Zimmer erschossen. Unter den Hotelgästen stößt Al auf zahlreiche Verdächtige: Steckt die chinesische Schönheit Chiang Kai-shek, mit der Wilkinson eine Affäre hatte, hinter dem Mord? Fiel Wilkinson einem politisch motivierten Attentat zum Opfer? Und was verschweigen die mysteriösen Bainbridge-Töchter, Erbinnen einer der reichsten Familien ganz San Franciscos, die in der Nähe des Tatorts gesehen wurden? Auf der Suche nach der Wahrheit gerät Al in ein Netz aus dunklen Geheimnissen, Intrigen und Schuld ...
»Klug, geistreich und absolut spannend.« Chris Whitaker
»Ein sensationell fesselnder Krimi ...« Booklist
»Ein grandioses Lesevergnügen.« Kirkus Reviews
Amy Chua hat in Harvard Jura studiert und unterrichtet heute als Professorin an der Yale Law School. Sie hat erfolgreich Sachbücher veröffentlicht, darunter den internationalen Bestseller »Die Mutter des Erfolgs«, der in über dreißig Sprachen übersetzt wurde. »Das letzte Geständnis« ist ihr erster Kriminalroman.
Kapitel zwei
1944
FREITAG, 10. MÄRZ
1
Als ich ein Kind war – bevor man mir 1931 meinen Dad nahm –, spielten wir oft Baseball auf einem unebenen Feld neben der örtlichen Müllkippe. Das Schlagmal befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite des drei Meilen langen Berkeley Pier, wo Lastkraftwagen und Autos für die Fähre nach San Francisco anstanden. Ich hielt stets Ausschau nach Fahrzeugen mit Nummernschildern aus New York, schmutzig und teils schlammverkrustet, weil sie wochenlang unterwegs gewesen waren. Die Menschen hinter ihren Lenkrädern waren auf dem Lincoln Highway einmal quer durchs Land gefahren.
Der Lincoln Highway war die erste Straße in Amerika, die von Küste zu Küste führte. Sie begann in New York, an der Ecke Broadway und 42nd Street am Times Square, und von dort aus machten sich unerschrockene Autofahrer in ihren Fords und Studebakers auf die dreitausend Meilen lange Reise nach San Francisco, geleitet von ungenauen Karten und roten, weißen und blauen Schildern an der Strecke. Der Highway – in Wirklichkeit eine Reihe auf einanderfolgender Landstraßen – verband die Nation auf dem kürzesten Weg und mied Großstädte wie Chicago oder Denver zugunsten kleinerer Städte wie Fort Wayne und Cedar Rapids, Omaha und Cheyenne. Die Leute mussten aus ihren Autos aussteigen und durch das Wasser waten, wenn sie an eine Bach- oder Flussfurt gelangten, um sicherzugehen, dass es nicht zu tief war. Außerdem war es wichtig, dass sie Campingausrüstung bei sich hatten, denn sie würden in den Wüsten von Wyoming, Utah und Nevada mehr als nur ein, zwei Nächte ohne ein Dach über dem Kopf verbringen müssen. Mein Dad sagte oft, dass er eines Tages mit uns den Lincoln Highway entlangfahren würde, in die entgegengesetzte Richtung, damit wir uns New York City und die Freiheitsstatue ansehen konnten. Doch dazu ist es nie gekommen.
Bevor Brücken gebaut wurden, die die Bucht von San Francisco überspannten, endete der Lincoln Highway im zurückgewonnenen Marschland der Lower East Bay und führte zuvor an einigen der hässlichsten Orte der gesamten Reise vorbei, zum Beispiel an der Industriestadt Richmond und durch das sumpfige Tiefland von El Cerrito, die Lowlands, wo ich in einem Mietshaus aufwuchs, gegenüber von einer Gerberei und einem Schlachthof. Das über der Bucht aufragende San Francisco lag gleich auf der anderen Seite des Wassers, aber es hätte genauso gut ein ganzes Universum entfernt sein können.
Ich schaute den zu gut gekleideten Oststaatlern dabei zu, wie sie aus ihren Fahrzeugen stiegen, sich die Beine vertraten und eine Grimasse schnitten, wenn ihnen der strenge Geruch von Fabriken und stinkendem Fisch in die Nase stieg. Manchmal deuteten sie auf die barfüßigen, braunhäutigen kleinen Jungs, die mit nacktem Oberkörper ihre armseligen Angelschnüre auswarfen. Ich sah ihnen an, dass sie den Eindruck hatten, in ein fremdes Land geraten zu sein. Englisch wurde unten am Pier kaum gesprochen, denn in den East Bay Lowlands traf man nur wenige weiße Amerikaner an. Stattdessen lebten dort Italiener und Griechen und Portugiesen (die bald schon zu den »Weißen« gehören würden), Chinesen und Japaner, Mexikaner und Schwarze, alle arm, alle in ihren eigenen, separaten Enklaven, und alle träumten sie von einem besseren Leben.
Sobald sie herausfanden, dass die nächste Fähre erst Stunden später übersetzte, stiegen die Oststaatler wieder in ihre Autos, scherten aus der Warteschlange für die Fähre aus und kurvten ein bisschen durch die Gegend. Wenn sie Richtung Oakland fuhren, kamen sie für gewöhnlich an Miseryville vorbei, wo nach dem Börsencrash Hunderte obdachloser Männer in überzähligen Abwasserrohren aus Beton lebten, je ein Mann in einem knapp zwei Meter langen Rohrabschnitt. Die Männer ernährten sich von den Abfällen der regionalen Gemüsegroßhändler, aus denen sie Eintopf kochten, versetzt mit Papierstaub oder Sägemehl, damit er besser sättigte.
Manchmal fühlte auch ich mich wie ein Fremder. Aber nicht am Pier, sondern wenn ich den Key Train nach Berkeley Hills nahm, was ich so oft tat, wie es eben ging. Der Zug brachte die Menschen in die Stadtviertel der Weißen, gespickt mit Mittelklassehäusern und kleinen Einkaufsstra ßen. Die Strecke führte vorbei an der Universität mit ihrem berühmten Campanile und immer höher und höher, bis die Luft nach Salbei und Eukalyptus duftete, durchsetzt mit einem Hauch Honig, Minze und süßem Oleander. Ganz oben in den Hügeln, in Claremont, war Endstation; der Zug hielt vor dem prachtvollen Claremont Hotel mit seinen zahlreichen Flügeln. Das Claremont war das größte Hotel an der Westküste, und die gesamte Fassade – nicht nur die Wände und Fensterläden, sondern auch Turm, Giebel und sogar das Dach – war blendend weiß gestrichen, sodass das Gebäude wie eine Wolke in der frischen, duftenden Luft zu schweben schien, ein Alabasterpalast im Himmel.
Der Börsencrash von 1929 war keine Abrissbirne gewesen, die keinen Unterschied zwischen den Menschen machte. Genau wie die Spanische Grippe nur zehn Jahre früher traf er diejenigen auf den unteren Sprossen der sozialen Leiter um ein Vielfaches härter als die an der Spitze. Ganz unten hungerten Millionen, Kinder durchwühlten Mülltonnen nach Kartoffelschalen, Fleischabfällen oder anderen Glücksfunden, die der Familie ein Abendessen bescherten, das nicht wie meist nur aus Sandwiches mit Ketchup oder einem Laib Brot und einer Dose Bohnen bestand. Geschwister wechselten sich tageweise mit dem Essen ab, unzählige Familien landeten auf der Straße, weil sie ihre Miete oder Hypothek nicht bezahlen konnten, und binnen weniger Jahre nach dem Crash war die Hälfte aller schwarzen Amerikaner arbeitslos.
Ganz oben auf der Leiter dagegen wurde eine völlig andere Geschichte erzählt. Obwohl so manch ein Vermögen verloren ging, besaßen die meisten, die eine Million auf der Bank liegen hatten, diese auch noch danach.
Für sie war die Depression eine Zeit verschwenderischer Ausgaben. Vielleicht sogar noch verschwenderischer als zuvor, wenn sie sie nur von all dem Unerfreulichen ablenkten, was auf den Straßen zu sehen war: Bettler, Obdachlose, Massenproteste der Arbeiter. Nach dem schlimmsten Finanzkollaps in der Geschichte der Nation warfen die Reichen von Kalifornien mit Geld um sich, als gäbe es kein Morgen. Sie feierten noch extravagantere Partys. Sie speisten russischen Kaviar und ungarische Gänseleber. Und sie strömten in Luxushotels wie das glänzend weiße Claremont, verkehrten mit Barrymore und Garbo, tanzten zu dem Sound des Count Basie Orchestra und von Louis Armstrongs Trompete.
Als ich ein Junge war, hätte ich es niemals gewagt, einen Fuß ins Claremont Hotel zu setzen. Ich war bereits bei der Polizei – noch kein Detective, nur ein Streifenpolizist –, als ich das erste Mal die Schwelle übertrat. Man hatte mich herbeordert, weil irgendein reicher, junger Mann abgereist war, ohne zuvor die Rechnung zu bezahlen. Nachdem ich ihn ausfindig gemacht und dazu gebracht hatte, die offene Summe zu begleichen, wurde ich zu einer Art Stammgast. Ich lernte eine Menge im Claremont Hotel. Ich lernte, wie die Reichen ihre Cocktails trinken, wie sie sitzen – ein reicher Mann auf einem Sofa oder Sessel schlägt stets die Beine übereinander –, worüber sie sprechen, wie sie rauchen. Für mich war das wie ein zweiter Schulabschluss.
Und jetzt, aus reinem Zufall, war ich erneut im Clare mont, und zwar ausgerechnet an dem Abend, an dem Walter Wilkinson gleich zweimal ermordet wurde.
2
Der Maître d’, Julie, mit seiner affektierten französischen Arroganz – die Arroganz war echt, »französisch« war das, was nicht authentisch war –, schwebte zu meinem Tisch und bat mich leise, ob ich bei einer »Angelegenheit« in einem der Hotelzimmer »behilflich« sein könne. Ich wusste, dass Julie niemals einen Gast bei einem Drink stören würde, wäre es nicht wirklich wichtig, daher bat ich die junge Dame, die meine Begleitung war, mich für einen Moment zu entschuldigen, und folgte ihm.
Julie gab mich an den Nachtmanager des Claremont weiter – ein junger Mann mit aschfahlem Gesicht, den ich nicht kannte. Ihm fehlte die Souveränität des Maître d’, außerdem sah er so aus, als würde er sich vor Nervosität jeden Moment übergeben.
»Es geht um Walter Wilkinson«, flüsterte er mir zu, während wir auf einen der Aufzüge warteten. »Sie wissen, wer das ist?«
»Wie könnte ich nicht wissen, wer Wilkinson ist?«, beantwortete ich seine Frage mit einer Gegenfrage. »Was ist denn mit ihm?«
Eine der Aufzugtüren öffnete sich, und der Manager legte einen Finger auf seine Lippen, um mir zu verstehen zu geben, dass er darüber nicht in Gegenwart von Pounds, dem Fahrstuhlführer, reden wollte. Pounds und ich sagten Hallo.
Alle wussten, dass Wilkinson in der Stadt war. Ein Industrieller, der im Mittleren Westen ein Vermögen mit Strom und Licht gemacht hatte und bei der Präsidentschaftswahl 1940 gegen Franklin Delano Roosevelt verloren hatte. Manche Leute waren davon überzeugt, dass er FDR diesmal schlagen würde. Sollten sie weiterträumen.
»Vor einer halben Stunde wurde in seinem Zimmer ein Schuss abgefeuert«, wisperte der Manager, während wir einen langen Korridor im sechsten Stock entlangeilten. Er war so aufgeregt, dass sich seine Lippen bewegten, auch wenn er nicht sprach. »Seitdem hat er nicht die Tür aufgemacht.«
»Wer behauptet, dass ein Schuss abgefeuert wurde?«, fragte ich.
»Gäste. Drei verschiedene...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2024 |
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Übersetzer | Kristina Lake-Zapp |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Golden Gate |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane | |
Schlagworte | 2024 • 40er Jahre • eBooks • High Society • Historische Kriminalromane • Intrigen • Krimi • Krimidebüt • Kriminalromane • Krimis • Mord • Neuerscheinung • Nobelhotel • Präsidentschaftskandidat • San Francisco • Spiegel-Bestsellerautorin • the golden gate |
ISBN-10 | 3-641-31102-0 / 3641311020 |
ISBN-13 | 978-3-641-31102-5 / 9783641311025 |
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