Katja (eBook)

Erzählungen über Frauen

(Autor)

Carsten Gansel (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3525-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Katja -  Brigitte Reimann
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»Beim Thema Gleichberechtigung gehe ich auf die Barrikaden.« BRIGITTE REIMANN, 1963.

Eine Schülerin sucht, wie die junge Brigitte Reimann einst selbst, nach einem Weg, eine ungeplante Schwangerschaft zu beenden, und muss erkennen, dass sie in dieser »Reifeprüfung« ganz auf sich allein gestellt ist. Katja muss sich entscheiden, ob sie den Mann, den sie liebt, heiratet, obwohl er von ihr verlangt, sich seiner Karriere unterzuordnen und ihren Traumjob aufzugeben. Wie schwer sich Selbstbestimmtheit und Care-Arbeit unter einen Hut bringen lassen, erleben die Bewohnerinnen eines Mietshauses einen Abend vor Weihnachten. Mit ihrem Erzählzyklus wollte die Autorin der Stellung der Frau in der Gesellschaft literarisch nachspüren - so massiv empfand sie die Beschränkungen, gegen die sie ständig anzukämpfen hatte, und die Vorurteile, denen sie sich aufgrund ihrer selbstbewussten Lebensentscheidungen immer wieder ausgesetzt sah.

Unbekannte, noch nie in Buchform veröffentlichte Erzählungen über Frauen.

»Die komplizierten Liebesgeschichten, die Brigitte Reimann beschreibt oder selbst erlebt hat, treffen die Gefühle oder zumindest die Sehnsüchte der Leserinnen, die sich ermutigt fühlen durch die Kühnheit, mit der diese Autorin sich ihnen öffnet.« CHRISTA WOLF.

»Brigitte Reimann gelingt es, die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben.« THE NEW YORKER.




Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung 1955 freie Autorin. Ihr Roman »Die Geschwister« (1963) über die gerade vollzogene deutsche Teilung war eines der meistdiskutierten Bücher jener Zeit. Mit nur 39 Jahren starb die Autorin an den Folgen ihrer Krebserkrankung in Berlin. Ihre postum erschienenen Tagebücher »Ich bedaure nichts« und »Alles schmeckt nach Abschied« (Neuausgabe 2023) sorgten dank des unverstellten, auch gegen sich selbst unerbittlichen Blicks für Aufsehen. Ihr letztes Werk, »Franziska Linkerhand« (ungekürzte Neuausgabe 1998), gilt als einer der bedeutendsten Romane der deutschen Nachkriegsliteratur.

Reifeprüfung


(um 1952)

I


Wenn die beiden, Jonas und Karla, in den Pausen über den Hof spazieren, weiß jeder, dass sie zusammengehören, obgleich sie sich nicht einmal bei den Händen halten. Nein, sie gehen ganz gelassen, in einem braven Schritt Abstand voneinander, sie kauen ihre Frühstücksbrote und unterhalten sich über Schularbeiten und Zensuren; wenn sie an der Hofmauer mit dem aufgekreideten Fußballtor angelangt sind und umkehren, erspäht der Aufmerksamste nicht den Blick aus den Augenwinkeln, zärtlicher als ein Händedruck, ein Kuss, den die beiden mit Herzklopfen in die nächste Schulstunde tragen.

Da gehen die beiden, und sie haben in zwei Jahren des Zusammengehörens den gleichen Schritt angenommen, ganz aufeinander abgestimmt, obgleich sie sich so wenig ähneln wie eine Pappel einem Brombeerstrauch.

Und dies ist Jonas: Ein drahtiger Bursche, lang und schlank wie eine Pappel, und er hat Augen wie der Teufel; wenn er lacht, werden den Mädchen die Knie weich, und sie möchten Karla die Augen auskratzen. Er lacht oft und gern und nicht nur, weil er weiß, dass er ein prachtvolles Gebiss hat, über dem man seine eingedrückte Nase vergisst. Mit seiner Nase kann er keinen Staat machen: Beim Boxen hat ihm ein rabiater Gegner das Nasenbein zerschlagen.

Karla stört das nicht, ja eigentlich hat sie sich damals gerade wegen dieser Verletzung in Jonas verliebt. Sie ist ein weichherziges Ding: als Kind hat sie Puppen mit ausgerenkten Armen und Teddybären ohne Ohren am liebsten gemocht, und Jonas, der Hunde und Katzen und anderes Kroppzeug nicht leiden kann, ärgert sich bei jedem Spaziergang mit Karla, die alle winselnden Köter streichelt und jeder auf einer Schwelle miauenden Katze die Haustür öffnet.

Wirklich, sie sind ein putziges Paar: Karla ist mindestens einen Kopf kleiner als der Freund, sie ist mollig – wohlverstanden, wo ein sechzehnjähriges Mädchen mollig sein muss –, und ihre sanften Augen schimmern schwarz wie reife Brombeeren.

Die Mädchen in der Oberschule jedenfalls finden es unbegreiflich, dass Jonas sich so treu an Karla klettet, dass er, der gesteigerten Wert legt auf Eleganz und modische Linie, nicht einmal gegen die unzeitgemäße Frisur seiner Freundin etwas einzuwenden hat; sie trägt ihre lichtbraunen Haare noch immer in zwei dicken Baumelzöpfen. Die anderen wissen ja nicht, wie stolz der Junge den hüftlangen Haarmantel Karlas bewundert, wenn er sie, bevor sie ins Theater oder zum Tanzen gehen, kämmen darf. Für solche festlichen Gelegenheiten muss sie allerdings die Zöpfe zum Knoten aufstecken, und sie sieht dann beinahe erwachsen aus.

Dies also sind die beiden, Karla Mewes und Jonas Kampe, genannt Karlchen und Jonny, die die elfte und zwölfte Klasse der Oberschule in der Stadt G. besuchen.

G. ist keine bedeutende Stadt, das muss gesagt werden; Fremde nennen sie sogar ein Nest: Sie hat knapp dreitausend Einwohner, einen verrußten Bahnhof und einen prächtigen Bahnhofspark, fünf Schulen und einen Marktplatz, auf dem früher irgendein Kaiser Wilhelm hoch zu Ross prangte; sie hat zwei romanische Kirchen und eine romantische Stadtmauer, ein halbes Dutzend Schuhfabriken, verwinkelte Gassen und einen modernen Stadtteil, der früher ›Millionenviertel‹ hieß, und – nicht zu vergessen – ein Fußballmannschaft, die in der Bezirksliga spielt und »im Kommen« ist. Kultur und Zerstreuung bieten zwei Kinos, die man andernorts bestenfalls als ›Flohkisten‹ bezeichnen würde, ein baufälliges Theaterchen, in dem einmal im Monat die Schauspieler der benachbarten großen Stadt auftreten, drei HO‑Gaststätten und eine Unzahl winziger Kneipen. –

Die Abschweifung war notwendig. In engen Straßen wachsen oft enge Anschauungen, und der Gesichtskreis mancher Menschen umschließt nur das eigene Fenster und das des Nachbarn. Die Meinung der Leute ist wichtiger Faktor bei Entscheidungen, mag es sich nun um einen modischen Sommerhut oder um eine unpassende Liebschaft handeln.

Das Oberste Gebot lautet: ›Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!‹

Und wenn zwei junge Menschen, wie beispielsweise Jonas und Karla, unangenehm auffallen, so müssen sie den Kopf sehr hoch tragen und ihre Ellenbogen kräftig gebrauchen können, um nicht von den Klatschmäulern verschluckt zu werden …

II


Karla sitzt auf dem Fensterbrett und seufzt.

Neulich hat sie in ihr Tagebuch geschrieben: »Ich fühle mich oft so schrecklich allein. Mit Vati und Mutti ist kein Auskommen mehr, mal behandeln sie mich wie ein kleines Kind und mal wie eine Erwachsene. Man ist nicht Fisch noch Fleisch, man hängt richtig in der Luft, und sie verstehen einen gar nicht. Wenn ich allein sein will, dann stören sie mich, und wenn ich mal mitreden will, dann schicken sie mich aus dem Zimmer. Mir ist oft, als müsste ich weinen, und ich weiß nicht warum. Wenn Jonas nicht wäre …«

Das ist beileibe kein müßiges Geschwafel, sie empfindet das schmerzhaft deutlich, während sie jetzt in den kraftlosen Schneeregen starrt, der den März unleidlich macht. Der Himmel weint, und seine Trübsal steckt an, man wagt nicht an den nahen Frühling zu glauben, und überhaupt ist das Leben sehr schwer. Gleich wird die Mutter rufen, Karla soll noch Einkäufe besorgen für die blöde Teegesellschaft der Damen, die sich jeden Donnerstag bei den Mewes treffen, um sich über die chronique scandaleuse der Stadt zu verbreiten.

Das ist widerwärtig, und Karla erschrickt bei dem Gedanken, sie werde vielleicht später einmal, wenn sie mit Jonas verheiratet ist, ihre Nachmittage ebenso niederdrückend sinnlos verbringen wie die Mutter.

Die ungeduldige Stimme aus dem Speisezimmer fegt sie vom Fensterbrett, und Karla strafft sich in Erwartung des bösen Streites, der sich Tag für Tag unvermeidlich wiederholt. Wenn man sie doch endlich eigene Wege gehen ließe, ihr nicht ständig vorschriebe, wie sie sich zu benehmen, mit wem sie zu verkehren, was sie zu tun und zu lassen habe …

Widerwillig gehorchend, schlendert Karla ins Speisezimmer hinüber, wo die Mutter den Teetisch schmückt. Sie ist eine schöne, schon etwas füllige Frau mit den gleichen glänzenden, brombeerschwarzen Augen wie ihre Tochter; nur ihre intimsten Freundinnen wissen, dass sie ihr kastanienbraunes Haar sorglich färben lässt.

Sie zählt nervös eine endlose Wunschliste her, immer ist sie nervös, und es ist gefährlich, sie durch Widerspruch zu reizen. Heute wagt Karla zu streiken: Sie ist verabredet, sie denkt nicht daran, jetzt noch in die Stadt zu laufen.

Die Frau fährt auf, ihre Stimme wird scharf: »So, verabredet? Natürlich mit diesem Kampe, wie? Hundertmal habe ich dir schon gesagt, ich wünsche nicht, dass du dich mit dem so einlässt –«

Karla hockt auf einer Sessellehne und kaut auf der Unterlippe; es ist ganz zwecklos, mit der Mutter zu streiten, dennoch fragt sie aufsässig: »Was hast du bloß gegen Jonny?«

»Ich finde es im höchsten Grade unpassend, dass junge Leute derart intim miteinander verkehren. Du bringst dich und mich in schlechten Ruf, wenn ihr ewig zusammensteckt – die ganze Stadt redet schon darüber, das weißt du doch. Außerdem –«

Was es außerdem einzuwenden gibt, erfährt Karla nicht; an dieser Stelle pflegt die Mutter sich zu unterbrechen, und es verbirgt sich in diesem ›außerdem‹ eine Fülle von Andeutungen mysteriöser Gefahren, über die man mit sechzehnjährigen Kindern nicht sprechen kann.

»Wir sind schließlich keine kleinen Kinder mehr«, sagte Karla gekränkt.

...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Brigitte Reimann • DDR • DDR-Alltag • Emanzipation • Franziska Linkerhand • Frauenschicksale • Gleichberechtigung • Reimann • Sozialismus • Storys • Unveröffentlichte Erzählungen
ISBN-10 3-8412-3525-5 / 3841235255
ISBN-13 978-3-8412-3525-1 / 9783841235251
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