Meine chinesische Großmutter (eBook)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-28089-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine chinesische Großmutter -  Lars Saabye Christensen
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Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? 'Dieses Buch ist ein Juwel!' VG
Wie kommt es, dass sich eine junge Kopenhagenerin Anfang des 20. Jahrhunderts allein auf eine lange, beschwerliche und gefährliche Seereise nach Hongkong macht? Genau dorthin, in diesen internationalen Meltingpot und vibrierenden Handelsplatz, hatte es den Dänen Jørgen Christensen bereits kurz zuvor verschlagen - zu seiner Arbeitsstelle bei Svitzers Bjergnings-Enterprise, die älteste Seerettungs- und Bergungsgesellschaft der Welt. Jørgen und die junge Kopenhagenerin sind Lars Saabye Christensens Großvater und Großmutter väterlicherseits.

Wer waren diese Menschen, von denen er stammt? Wie sah dieses koloniale, vom Handel geprägte Leben aus? Erst als sein Vater auf dem Totenbett liegt, wagt es Lars Saabye Christensen, ihn nach jener Zeit zu fragen, die seine Großeltern im fernen Osten verbrachten. Eine Spurensuche beginnt, die Überraschungen bereit hält. Indem er sich akribisch an die vorhandenen Quellen hält, zeichnet Lars Saabye Christensen ein faszinierenderes Gemälde einer Zeit und einer Familie, das noch lange im Gedächtnis bleibt.

Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind in 36 Sprachen übersetzt und wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nordischen Literaturpreis, mehrmals mit dem Norwegischen Kritikerpreis, dem Preis des Norwegischen Buchhandels sowie dem Preis des Norwegischen Verlegerverbandes.

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Großmutters Buch, das Erinnerungsbuch, oder das Memorandum, wurde mit der Zeit mein liebster Besitz. In ihm war kein Platz für Erinnerungen, schlicht weil ich noch keine Geschichte und darum noch nichts zu erinnern hatte. Das ist die einzige Freiheit des Kindes. Die Erinnerungen kamen mir eher entgegen, Träume verkleidet als Erwartung und Hoffnung. Aber ich schuf mir mithilfe des Buchs ein Privatleben. Nicht, dass ich es mit Geheimnissen gefüllt hätte, verbotenen Gedanken, schmutzigen Wörtern oder anderen zwielichtigen Dingen, nein, weit gefehlt, das wäre nicht meine Art gewesen. In diesem Memorandum stand nichts, was ich nicht meinen Eltern oder auch meiner Großmutter hätte zeigen können, doch in den Entscheidungen, die ich traf, lag ein Muster verborgen, ein Muster, das selbst ich nicht bemerkte, und darum ist es vielleicht doch richtig zu sagen, dass ich meine Geheimnisse, meine offenen Geheimnisse eintrug: Ich notierte Adressen.

Zu dieser Zeit, in meinem letzten Jahr auf der Volksschule, und danach im Herbst 1967, als ich auf die Realschule kam, verdiente ich mir als Blumenbote etwas Geld dazu. Drei Tage die Woche radelte ich mit den Sträußen in einem Pappkarton auf dem Gepäckträger in der Gegend herum. Sobald ich nach Hause kam, holte ich das Memorandum hervor und schrieb die Adressen auf, an die ich Blumen geliefert hatte, sonst nichts, weder, was ich mit jeder Fahrt verdient, noch ob ich Trinkgeld bekommen hatte, auch das Datum notierte ich nicht, nur diese Adressen, in alphabetischer Reihenfolge. Unter J steht zum Beispiel:

Josefines gate Klinikk

Jacob Aalls gate 49

Josefines gate Klinikk

Jacob Aalls gate 12

Josefines gate 2

Die Josefines gate, die nach der schwedischen Königin Joséphine benannt ist, geht von Uranienborg bis nach Homansbyen, wo mehrere aus meiner Volksschulklasse wohnten; zum Glück habe ich bei ihnen nie Blumen geliefert, ich weiß nicht genau, warum, aber ich fand es irgendwie unpassend, die Dinge zu vermischen. Ich bin übrigens in der Josefines gate Klinikk auf die Welt gekommen, am 21. September 1953, eine durchaus beschwerliche Geburt für meine Mutter, da ich mit den Füßen zuerst kam, also auch beschwerlich für mich, und obwohl ich dem Memorandum zufolge zweimal mit Blumen dort war, sehe ich das Innere der Klinik nur schemenhaft vor mir; ich erinnere mich jedenfalls an eine breite Treppe, ein massives Geländer, aus Stein, abgerundet und glatt und schön, mit der Hand drüberzufahren, das Echo meiner eigenen Schritte, und ansonsten die Stille, wie es sich für so einen Ort gehört. Ich musste den Strauß an einer Art Rezeption abliefern, wo eine ältere Dame in weißer Krankenschwesteruniform den Zettel unterschrieb, den ich später Herrn Radoor, dem Inhaber des Blumengeschäfts, aushändigen musste, als Bestätigung, dass der Auftrag ausgeführt wurde, aber diese Quittung war auch als Lohnzettel zu betrachten: Sie hatte einen Wert von anderthalb Kronen. Die Jacob Aalls gate, die unten am Vestkanttorget beginnt und sich bis ganz nach Fagerborg zieht, war eine gute Straße, um Blumen zu liefern, es war leicht, die verschiedenen Nummern zu finden, und wenn ich über die Suhms gate hinausmusste, bekam ich fünfzig Øre Zuschlag, also insgesamt zwei Kronen. Wenn ich so weit fahren musste, nahm ich im selben Aufwasch oft noch Lieferungen ins Ullevål-Krankenhaus mit. Hinterher konnte ich dann den Kirkeveien runterrollen, die Tasche voll Wertpapiere und mit einer Hand am Lenker! Nr. 49 lag an der Ecke Ole Vigs gate, und ich kann mich bei ihr an nichts Besonderes erinnern, sie verschwimmt mit anderen, ebenso namenlosen Adressen in einem Schummerlicht, das den farbigen Glasfenstern dieser alten Treppenhäuser aus dem Jahrhundert vor mir geschuldet ist.

Unter S steht:

Studentenheim

Skovveien 15

Skovveien 7

Schives gate 12

Stensgate 16

Skovveien 20

Der Skovveien lag gleich beim Blumenladen um die Ecke, er hatte seinen Namen von dem Waldgebiet, das früher bei Uranienborg lag. Die Nummer 7 war im Vergleich mit den anderen Häusern im Skovveien ein ziemlich modernes Gebäude im Stil des Funktionalismus, 1936 von dem Architekten Fredrik Stoud Platou entworfen, er war es, bei dem Vater Anstellung fand, als er von Kopenhagen nach Oslo kam, und in diesem Architekturbüro sollte er den Rest seines Lebens arbeiten. Ich erinnere mich, dass in der Nummer 7 niemand zu Hause war. In so einem modernen Haus wohnten nämlich moderne Menschen. Auch der Nachbar machte nicht auf, zum Glück, hätte ich beinahe gesagt, denn es war nie angenehm, jemand zu bitten, Blumen für andere anzunehmen, im ersten Moment dachten sie nämlich, das Bukett sei für sie, und ihre kaum verhohlene Enttäuschung war schwer zu ertragen. Am Ende musste ich das Bukett vor die Tür stellen und hoffen, dass jemand nach Hause kam, ehe die Blumen verwelkten, eine zutiefst unbefriedigende Lösung, da ich keine Quittung bekam, was wiederum Herrn Radoor grantig und giftig machte, und er war eh schon mürrisch genug. Direkt gegenüber der Nr. 7 lag die Vestheim Skole, an der ich die erste Klasse der Realschule besuchte. Ich wollte lieber niemand begegnen, den ich kannte, was auch selten geschah; ich blieb die meiste Zeit ungesehen, wenn ich näher nachdenke, war es so, dass ich nie jemand begegnete, ich war ein unsichtbarer Bote, der durch die Stadt radelte und gute Nachrichten überbrachte: Blumen. Aber das war nach der Schule, und der verlassene Schulhof erfüllte mich mit einer müden Melancholie. Die Schives gate ist nach dem Numismatiker Claus Jacob Schive benannt, dessen Spezialgebiet römische Münzen waren. Sie beginnt am Arno Bergs plass und endet am Vestkanttorget, zwei geografische Punkte, die in meinen Träumen von Oslo für Musik und Kameradschaft stehen. Ich mochte die bunten Häuser in der Schives gate, rote, grüne, gelbe mit kleinen Gärten drumrum. In der Schives gate war immer jemand zu Hause, und hier bekam ich am häufigsten Trinkgeld. Aber nicht in der Stensgate. Die wird nach einem Stein benannt sein. Die Stensgate ist jedenfalls ein ungemütliches Stück von der Thereses gate zum Ullevålsveien, da gehört sie irgendwie hin, entlang der östlichen Grenze von Fagerborg, und es ist wohl kein Zufall, dass Einrichtungen wie das Osloer Altenheim für Frauen, das Erziehungsheim Kleinkindwohl und die Kinderkolonie Stensgate hier ihre Adressen hatten. Die Nummer 16 war, soweit ich mich erinnere, ein recht neuer Wohnkomplex, man musste erst unten klingeln, um ins eigentliche Treppenhaus zu kommen, und dann stand man da und musste erklären, wer man war und was man wollte, ein mühsames und oft auch unangenehmes Geschäft, weil die Kunden dachten, jemand wolle sie reinlegen, nein, die Stensgate konnte ich nicht ausstehen, ich war nie scharf drauf, dort hinzuradeln, auch wenn die Fahrt zwei Kronen einbrachte. Das Studentenheim lag im Underhaugsveien, zwischen Pilestredet und Bogstadsveien, hier wohnten, soweit ich weiß, nur christliche Studenten, aber warum einer von ihnen Blumen bekommen sollte, kann ich nicht sagen.

Ich führe mir die Langsamkeit dieser Adressen vor Augen, ein aufwendiger Plan, der sich kreuz und quer durch die Stadt meiner Kindheit zieht, und das erinnert mich an das alte Spiel, Land abnehmen, das wir oft in den Parks spielten: Wir warfen ein Taschenmesser so, dass es zitternd steckenblieb, und zogen von dem Punkt eine Linie, die markierte, was uns und was dem Gegner gehörte. Erst jetzt sind diese Adressen, die nur für den Augenblick, den Tag gedacht waren, Erinnerung geworden. Die Zeit hat das Memorandum sozusagen auf die Seite gedreht wie eine Schildkröte, die nach einer starken Welle hilflos auf dem Rücken liegt.

Und dann fing ich an, Gedichte zu schreiben. Der Auslöser war der Anblick der Uhren in den Uhrmachergeschäften am Drammensveien. Wahrscheinlich auch zusammen mit den Texten der Platten, die ich in dieser Zeit hörte, The Beatles, The Lovin’ Spoonful, Kinks und schließlich The Doors. Mein größter Wunsch, den ich mit allen Gleichaltrigen teilte, war, in einer Band zu sein. Aber was hatte ich schon zu bieten? Ich ging auf die Klavierakademie am Solli plass. Keine Band in Oslo konnte einen klassischen Pianisten gebrauchen. Dann kam mir die Idee, eine Art Notlösung: Ich konnte die Texte schreiben. Oder anders gesagt, und so wahr, wie es nur geht: ich konnte es nicht lassen. Ich schrieb Gedichte, weil ich es nicht lassen konnte. Ich schrieb sie zwischen die Adressen. Ich legte mir zu diesem Zweck also nicht ein eigenes Buch zu, sondern benutzte Großmutters Buch. Ich hätte mir leicht ein neues beschaffen können, mein Vater war wie gesagt Architekt und auf dem schrägen Zeichentisch im Esszimmer lagen jede Menge Notizblöcke, Hefte und lose Blätter. Ich muss gedacht haben, dass die Adressen und meine Gedichte zusammengehörten und nicht dadurch getrennt werden durften, dass sie in verschiedenen Heften standen. Warum das so war, hatte ich wahrscheinlich keine Ahnung. Dass es etwas mit meinem Privatleben zu tun hatte, steht außer Frage, aber es war mehr als das. Denn in dieser Entscheidung, die Adressen und die Gedichte zu vereinen, liegt das verborgene Muster. Ich muss geahnt haben, dass es eine Bedeutung hatte. Die Ahnung an sich war schon bedeutungsvoll. Ich glaube, dass es so zu verstehen ist: Was die Gedichte und die Adressen gemeinsam hatten, war die Stadt, kurz: mein Radius, meine geografische Möglichkeit, aber mehr als alles andere war meine Großmutter das gemeinsame Glied zwischen dem Gefühl meiner Zugehörigkeit und meiner Phantasie. Ich wollte, dass es...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Übersetzer Hannes Langendörfer
Sprache deutsch
Original-Titel Min kinesiske farmor
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Biografie • Biographien • Dänemark • eBooks • Familiengeschichte • Hongkong • Kolonialgeschichte • Literarische Erinnerung • Neuerscheinung • Skandinavien
ISBN-10 3-641-28089-3 / 3641280893
ISBN-13 978-3-641-28089-5 / 9783641280895
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