Zebras im Schnee (eBook)
384 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8082-0 (ISBN)
Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Buchveröffentlichungen: Albuquerque (2014), Dahlenberger (2015) und Stromland (2018). Für das Manuskript seines Romans Weiße Finsternis (2021) wurde er vorab mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2023 veröffentlichte er den Krimi Die Spur der Aale, und im April 2024 erschien sein neuer Roman Zebras im Schnee im Berlin Verlag. Florian Wacker lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code. Mehr unter www.florianwacker.de
Florian Wacker, geboren 1980 in Stuttgart, studierte Heilpädagogik und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Bisherige Buchveröffentlichungen: Albuquerque (2014), Dahlenberger (2015) und Stromland (2018). Für das Manuskript seines Romans Weiße Finsternis (2021) wurde er vorab mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet. 2023 veröffentlichte er den Krimi Spur der Aale, und im April 2024 wird sein neuer Roman Zebras im Schnee erscheinen. Er lebt mit seiner Familie in Frankfurt am Main und schreibt Prosa, Dramatik und Code. Mehr unter www.florianwacker.de.
Die Leica
Frankfurt am Main, 1927
Kein Licht, nur Ahnungen.
*
Sie steht still da und lauscht. Sie fröstelt trotz des milden Frühsommertags, traut sich aber nicht, die Augenbinde abzunehmen, obwohl eine Enge in ihrer Brust aufsteigt. Nicht schauen, hat ihr Franziska ins Ohr geraunt, nicht schauen! Wenn du schaust, machst du alles kaputt, und hat ihr den Schal noch etwas fester um den Kopf gebunden. Also hält sie still, nicht schauen, ganz still. Sie atmet und bewegt etwas den Kopf, versucht, hinter dem Stoff zu blinzeln, schließt die Augen. Durch das geöffnete Fenster dringen die Geräusche der Straße zu ihr, plötzlich hört sie alles mit erschreckender Intensität, die knirschenden Reifen eines Automobils, die Schritte der Leute unten auf der Straße, die entfernten Erschütterungen einer Tram, ein Kind ruft den Namen eines anderen Kindes, »Hannes, Hannes!«; die aufgeregte Stimme eines Mannes, »Gehste her, Waldi, gleich gehste sofort her, Mistvieh, miserables«, eine Frau, die direkt unter dem Fenster stehen muss und hinaufruft, »Willste zum Ochsenfleisch Kartoffelsticker oder willste Gemies oder Grie Sooß?«, und Ella kann nicht anders, sie beginnt zu kichern. Dieser komische dicke Mann mit seinem kleinen Hund, er watschelt wie eine Ente, und das miserable Mistvieh springt zwischen seinen Beinen herum, da muss er ja fluchen, der Arme, und das Gesicht der Frau ist unwirsch, wann kommt der Alte endlich ans Fenster, Gemies oder Grie Sooß, was denn nun, Alterchen, was denn nun? Fast verliert sie das Gleichgewicht, dann spürt sie eine Hand am Arm, die sie sanft zurückhält.
»Pst«, zischt Franziska direkt hinter ihr. Ella zuckt zusammen, tastet um sich. Da sind nur die ungefähren Umrisse des Raums, Ahnungen von Möbeln, ein bisschen wie beim Versteckspiel, als wären sie wirklich noch Kinder, schau nicht hin, mach die Augen zu, dann wird alles gut. Sie spürt Franziska neben sich.
»Komm mit«, sagt sie, »aber du darfst nicht schauen.«
Ella nickt, nicht schauen, kleine Schritte. Franziska schiebt sie sachte vor sich her, und Ella tappt durch den Raum, stößt gegen das Bett und zuckt zusammen.
»Autsch!«
»Pass auf, wo du hintrittst.«
»Pass du auf, du hast die Augen!«
»Hör auf zu jammern.«
Ella spürt den kühlen Luftzug aus dem Treppenhaus, dann weiter in die Wohnstube. Wieder stößt sie gegen etwas, blödes Spiel, aber da sagt Franziska, »Jetzt ist es gleich so weit«, und Ella ertastet die Lehne eines Stuhls. Und jetzt?
»Wart noch, gleich!« Ein Zündholz ratscht, es riecht nach Feuer. Franziska pustet ihr sachte ins Gesicht. »Jetzt darfst du.«
Ella zieht sich den Schal von den Augen und blinzelt ins helle Licht dieses Junitags. Vor ihr auf dem kleinen Tisch steht ein Schokoladentörtchen, eingeschlagen ins weiße Spitzenpapier der Konditorei Weber, eine schmale Kerze brennt, und neben dem Kuchen, hübsch hinter einem Strauß Blumen arrangiert, steht ein Karton, umwickelt mit Schleifenband.
»Herzlichen Glückwunsch, liebste Ella«, Franziska nimmt sie in den Arm und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Und jetzt mach es auf!«
Die Glasur des Törtchens glänzt so verführerisch, Ella würde am liebsten sofort hineinbeißen, zumindest einmal drüberlecken, aber sie hält sich zurück, nicht gierig sein, alles zu seiner Zeit, hört sie die Stimme der Mutter, sei nicht so ungeduldig. Zurückhaltung und Anstand. Sie ist jetzt zweiundzwanzig. Um sie herum wuchert, tanzt, taumelt die Stadt, eine neue Zeit. Zum Teufel mit Zurückhaltung und Anstand. Sie beugt sich über das Törtchen und leckt daran. Der Geschmack ist überwältigend, ist plötzlich überall in ihrem Mund. Franziska lacht hell auf, und Ella grinst.
»Du bist gierig.«
»Ist ja auch mein Geburtstag.«
»Jetzt mach’s schon auf!«
Ella setzt sich, nimmt das Paket und legt es sich auf den Schoß. Es ist schwerer als erwartet. Was um alles in der Welt hat sich Franziska da wieder einfallen lassen? Ein neues Paar Schuhe, Bücher? Oder einfach ein paar Flusskiesel, zuzutrauen wär es ihr. Ella zieht das Band vom Paket und hebt es an. Franziska steht hinter ihr, leicht über ihre Schulter gebeugt. Ella sieht sie an. Über die Stirn der Freundin zieht sich eine schmale Falte, als wäre sie angespannt, aber sie lächelt.
»Nun mach schon!«
Ella hebt den Deckel ab. Etwas ist in Seidenpapier eingeschlagen, das Papier knistert zwischen den Fingern. Sie lässt es achtlos neben sich fallen, denn das, was sie da vor sich in der Pappschachtel liegen sieht, verschlägt ihr den Atem. Sie schaut wieder zu Franziska. Die hat sich aufgerichtet, die Falte ist aber nicht verschwunden. Was um alles in der Welt? Ella presst eine Hand auf den Mund, um nicht loszuschreien. Da vor ihr liegt, schlank und matt schimmernd, die Kleinbildkamera Leica I, sie erkennt sie sofort, beißt sich auf den Mittelfinger.
»Blödes Geschenk, nichts für eine Frau«, Franziska lehnt sich an den Schrank und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Du bist völlig übergeschnappt«, bringt Ella hervor. Eine Leica. Die Kamera ist gerade mal zwei Jahre auf dem Markt und kostet ein Vermögen. Sie steht auf, die Schachtel im Arm wie ein Wickelkind, stellt sich vor Franziska. »Woher hast du die?«
»Sie gefällt dir nicht, oder?«
»Ich …«, Ella weiß nicht, was sie sagen soll. Ist das ein Scherz? So etwas kann Franziska unmöglich verschenken wollen. »Woher ist die? Willst du sie nicht selbst benutzen?«
Franziska grinst verschlagen, wissend; das schlaue Kindergesicht der Neunjährigen, die gerade einen Plan ausheckt, um an ein paar Bonbons zu kommen. »Von Papa«, sagt sie. »Du weißt ja, wie viele Leute der kennt, und vor ein paar Wochen hat er sie mit nach Hause gebracht und mir gegeben. Sie hat schon ein paar Kratzer, aber ansonsten ist sie tadellos.«
»Warum schenkst du sie mir?«
»Du willst sie nicht, oder? Dann werf ich sie einfach aus dem Fenster, und der erstbeste Idiot kann sie mitnehmen und damit ein paar lächerlich dumme Fotos machen, wenn er denn überhaupt kapiert, wozu das alles da ist, die Knöpfe und der ganze Kram, oder ich versenk sie im Main, und wir vergessen alles.«
»Jetzt hör auf damit«, Ella stellt die Schachtel auf den Tisch und schlingt die Arme um ihre Freundin, zieht sie an sich. »Das ist das tollste, das beste, das herrlichste Geschenk, das du mir machen konntest!«
Die beiden sehen sich an, haben gerötete Wangen.
»Du weißt ja, dass ich dieses Ding nie benutzen würde«, sagt Franziska. »Du weißt, was ich darüber denke.«
Ella setzt sich wieder. Sie weiß, dass Franziska nichts von der Fotografie hält, ein kleines Freizeitvergnügen vielleicht, ein Hobby wie Sticken oder Flache-Steine-Sammeln.
»Nimm sie doch mal in die Hand«, sagt Franziska.
Ella tut es, befühlt die Leica mit den Fingern, die gerillten silbernen Knöpfe und Verschlüsse, hält sie sich vors rechte Auge, kneift das linke zusammen und sieht durch den Sucher, Franziskas Gesicht, die Stirn hat sich wieder beruhigt, zwei wache Augen, die Wangen leicht gerötet.
»Film ist drin«, sagt Franziska.
»Halt still«, Ella richtet sich auf, sucht mit dem Finger nach dem Auslöser, dreht an der Blende, noch ein zögerndes Herumtasten, der Apparat ist so leicht, so nah am Leben. Dann Klick, dieses wunderbare mechanische Geräusch, sie dreht den Aufzugsmechanismus weiter bis zum Anschlag, fertig.
»Und jetzt Kuchen und Sekt«, sagt Franziska.
Sie machen sich über das Schokoladentörtchen her, Franziska schenkt Sekt ein, und sie lassen die Gläser klingen. Mit klebrigen Händen und Schokoresten in den Mundwinkeln stehen sie in der warmen Sonne draußen auf dem Dachbalkon, dem Belvedereche, und teilen sich eine Zigarette. Die Leica ist mit einem schönen Lederband ausgestattet, sodass man sie sich wie eine Tasche umhängen kann. Ein warmer Wind geht, und Ella sieht überall Licht und Schatten, überall kleine Spielereien, irgendwas im Wind, dazu die Geräusche von der Straße, vielleicht ist der Mann mit dem Hündchen noch irgendwo da unten, alles lohnt sich festgehalten zu werden,...
Erscheint lt. Verlag | 28.3.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1920er Jahre • 1930er Jahre • 20er Jahre • Architektur • Bauhaus • Bildende Kunst • Das Neue Frankfurt • Emigration • Ernst May • Fotografie • Frankfurt am Main • Kunstgeschichte • Neues Frankfurt • New York • Paris • Roaring Twenties • Starke Frauen • USA • Vorkriegszeit • weibliche Kunstgeschichte • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-8270-8082-7 / 3827080827 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8082-0 / 9783827080820 |
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