Im wechselnden Licht der Jahre (eBook)
336 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3523-7 (ISBN)
Ist es nie zu spät, um erwachsen zu werden?
Eigentlich ist Alexander Bengt mit seinem Leben zufrieden; seine Frau Tabea liebt ihn, genau wie seine beiden Kinder. Doch eines bereitet ihm Sorgen: sein nächster Geburtstag - der grausam runde Sechzigste. Ausgerechnet da zieht ein amerikanischer Songwriter in der Nachbarschaft ein, den Alexander bewundert und der ihn sogar auffordert, gemeinsam einen Song zu schreiben. Alexander hat das Gefühl, nun noch einmal richtig durchstarten zu können. Aber dann geschieht ein tragischer Unfall, und plötzlich sieht er sein ganzes Leben infrage gestellt ...
Der neue Tom Liehr - ein Roman wie ein guter Song über Liebe, Leid und Glück.
Tom Liehr war Redakteur, Rundfunkproduzent und DJ. Er lebt in Berlin. Im Aufbau Taschenbuch sind seine Romane »Radio Nights«, »Idiotentest«, »Stellungswechsel«, »Geisterfahrer«, »Pauschaltourist«, »Sommerhit«, »Leichtmatrosen« und »Freitags bei Paolo« lieferbar. Mehr zum Autor unter www.tomliehr.de.
Einführungsphase
Als Tabea Folkers in unsere Klasse kam und sich uns vorstellte, bekam ich zuerst nichts davon mit, weil ich hochkonzentriert dabei war, in meinem Mathe-LK-Arbeitsheft das Logo für meine zukünftige Band The Disease zu entwickeln. Mit einem schwarzen Kuli krakelte ich am dreißigsten oder vierzigsten Entwurf für einen Schriftzug herum. Das machte ich seit ein paar Tagen fast ununterbrochen – seit mir die Idee gekommen war, eine Band mit diesem Namen zu gründen, die es unbedingt schaffen müsste, Vorband bei den Konzerten von The Cure zu werden. Denn das wäre der Bringer, dachte ich mir: erst The Disease und anschließend The Cure, also erst die Krankheit, dann die Heilung, und das an einem Abend und auf derselben Bühne. Die ganze Welt würde über uns sprechen. Robert James Smith und ich würden beste Freunde werden. Die Idee, mit einem Popstar befreundet zu sein, fand ich fast noch besser als die, selbst einer zu werden. Berühmtheit kam mir aufwendig und ziemlich herausfordernd vor. Es sozusagen aus zweiter Hand zu genießen, das stellte ich mir wesentlich entspannter vor. Und ich war sicher, dass The Cure noch viel erfolgreicher werden würden, als sie es zu diesem Zeitpunkt schon waren.
Ich hatte allerdings wenig Ahnung von Musik, ich war, soweit ich wusste, eher kein guter Sänger, und ich kannte unterm Strich niemanden, der für eine Band infrage kam, der komponieren, arrangieren, texten oder wenigstens ein einfaches Instrument spielen konnte. Ich beherrschte zwei Weihnachtslieder leidlich auf der Blockflöte (»Es ist ein Ros’ entsprungen« und »O du fröhliche«), die ich meinen Eltern zuletzt vor fünf Jahren hatte vorspielen müssen, um an Heiligabend mein Recht auf Bescherung durchzusetzen. Jens Brinkmann, der in der Klasse schräg vor mir saß, hatte eine Akustikgitarre und musizierte in seiner evangelischen Kirchengruppe, was ihn sowieso disqualifiziert hätte, doch Jens Brinkmann sah außerdem noch aus wie jemand, dem es Spaß machte, freiwillig in einer evangelischen Kirchengruppe zu sein und dort gottesfürchtiges Liedgut von sich zu geben: Zwei, drei Pickel mehr, und von seiner Gesichtshaut wäre überhaupt nichts mehr sichtbar gewesen. Die Schüler, die in den Jugendorganisationen der Parteien herumhingen oder sich sonstwo ehrenamtlich engagierten, sahen alle so aus. Es war ihre einzige Chance auf ein Sozialleben, in solche Gruppen einzutauchen. Harald Metzger beispielsweise, der mal in »Politischer Weltkunde« der Klasse gestanden hatte, Bundeskanzler werden zu wollen, was leicht irres Gekicher bei den Mitschülern verursacht hatte: Er sah exakt so aus, wie er hieß, und niemand wollte mit dem klobigen, dickbebrillten, verlangsamt wirkenden Typen befreundet sein. Deshalb hockte er nachmittagelang als Zuschauer in der örtlichen Bezirksverordnetenversammlung, was so ziemlich das Langweiligste war, das man sich vorstellen konnte, und er tat das, wie wir alle wussten, in der Hoffnung, dass man dort auf ihn aufmerksam würde und ihn in irgendein belangloses Gremium kooptierte, das über die Aufstellung von Fußgängerampeln oder die Fassadenfarbe einer öffentlichen Bibliothek entschied. Er war in der Schüler-Union, der Jungen Union und in der CDU Mitglied, er schlurfte regelmäßig in irgendwelche Versammlungen, aus denen spätnachts schlimme und verräucherte, strikt männlich dominierte Trinkgelage wurden, und klebte an den Wochenenden Plakate oder verteilte Zettel an Wahlkampf- und Infoständen, während die höheren Tiere ihre Räusche ausschliefen oder potenzielle Wählerinnen in ehebrecherischer Weise heimsuchten. Allerdings schaffte es Harald Metzger später immerhin bis ins Berliner Abgeordnetenhaus, mit Mitte vierzig und nach drei Jahrzehnten der Zettelverteilerei, aber die höchste Position, die er je bekleidete, war der stellvertretende Vorsitz im Bauausschuss. Dort blieb er zwei Monate, bis er aufgrund eines Skandals, den ein anderer lange vor Haralds Wahl verursacht hatte, genötigt wurde, sich einem kollektiven Rücktritt anzuschließen, und nach all der Mühe quasi über Nacht wieder in die Bedeutungslosigkeit zurückfiel. Nach einer Legislaturperiode als Hinterbänkler nahm man ihn auch nicht wieder auf die Liste.
Besetzungsprobleme bei The Disease oder Fragen zu Songs, Stil und all solchen Sachen waren Aspekte, über die ich mir später Gedanken machen könnte. Am Anfang stünde ein schnittiges Logo, das sich Schüler – vor allem Schülerinnen – meines Alters dann mit Kulis auf die Unterarme oder ihre Federmappen tätowieren würden, wie ich das eine Zeit lang mit den coolen Logos einiger Metal-Bands gemacht hatte, obwohl ich Metal eigentlich scheiße fand und von den meisten Bands kein einziges Stück kannte (außer »United« von Judas Priest, die hatten auch den besten Schriftzug, wie ich fand). So oder so, wenn das Logo stimmte, wäre der Rest Pillepalle. Marketing war alles. Mein Musikgeschmack war ohnehin ziemlich heterogen, oberflächlich und unbestimmt (nur Heavy Metal mochte ich definitiv nicht und natürlich keine Schlager, weil unsere Eltern Schlager liebten und wir nichts lieben durften, was unsere Eltern liebten); ich hörte den gleichen Pop, den alle anderen auch hörten, machte mir aber nicht viel daraus – es bedeutete mir nichts, es war nur Musik. Ich kaufte hin und wieder eine Platte mit aktuellen Hits bei Woolworth, die ich dann zwei Monate lang rauf- und runterdudeln ließ, bis sie mir zu den Ohren heraushing. Das einzige Album, das ich wirklich sehr gerne mochte – eigentlich sogar nachgerade liebte – und immer wieder hören konnte, das war »Snow« des amerikanischen Singer-Songwriters Ayksen Brahoon, das ich wegen des Covers (eine einsame, unbelaubte junge Birke in einer ansonsten leeren Schneelandschaft) und des Preises (eine Mark zwanzig) vom Grabbeltisch genommen hatte. Der Mann war in den Staaten so etwas wie ein Held, aber hierzulande kannte ihn niemand, doch dieses spezielle Album hatte er, sich selbst an der Akustikgitarre begleitend, im Jahr 1976 in einer Hütte in den Rockys komponiert, getextet und aufgenommen, als es ihn und ein paar andere Leute dort für eine Woche eingeschneit hatte. Ich mochte die melancholischen Songs, die klugen Texte (die ich mithilfe meines »Langenscheidt Englisch-Deutsch-Deutsch-Englisch« übersetzt hatte) und die eigenwillige Dynamik sehr, aber alle, denen ich das Album vorspielte, fanden es einfach nur langweilig. Wenn schon melancholisch, musste es von Angelo Branduardi, Barclay James Harvest, Mike Oldfield, Kate Bush oder Tangerine Dream sein, sonst hörten sie überhaupt nicht hin. In der Teestube Tee-In, die einige meiner Mitschülerinnen stark frequentierten und in der ich so etwas wie ein Rendezvous mit Stefanie Jungbluth gehabt hatte, lief nur so was. Der Besitzer, ein etwas schmutzig wirkender Typ, der irgendein Studium abgebrochen hatte, stellte immer das Cover der Schallplatte, die er gerade aufgelegt hatte, in einen speziellen Aufsteller auf dem Tresen. Dabei grinste er in Richtung der Mädchen, und einige grinsten eigenartigerweise zurück.
Als der Entwurf für mein Bandlogo okay war – lodernde 3D-Buchstaben, die sich auf einer Kreiskalotte anordneten, vermutlich würden wir also Heavy Metal machen müssen –, lehnte ich mich zurück, betrachtete meine Arbeit und war sehr zufrieden. Erst in diesem Augenblick fiel mir auf, dass es ungewöhnlich still in der Klasse war, und ich schaute mich um. Die Jungs starrten alle wie gebannt nach vorne, und die Mädchen starrten entweder auch nach vorne, oder sie starrten die starrenden Jungs an. Also sah ich ebenfalls zum Lehrerpult, und da stand sie: Tabea Folkers (den Namen erfuhr ich erst später, ich hatte ja verpasst, wie sie hereingekommen war und sich vorgestellt hatte). Sie hatte haselnussfarbenes rückenlanges Haar, das glänzte und schimmerte, beinahe metallisch, aber ohne sie dadurch kühl wirken zu lassen, ganz im Gegenteil. Ihre Augen waren dunkelblau, zugleich jedoch groß und warm, und alles an ihrem Körper war von einer einschüchternden Zartheit, die aber keine Fragilität war. Noch nie hatte ich ein so zauberhaftes Mädchen gesehen, also schloss ich mich...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Altern • Coming of Age • Erwachsen werden • Familienleben • Gegenwartsliteratur • Musik • Speckgürtel • Vorort |
ISBN-10 | 3-8412-3523-9 / 3841235239 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3523-7 / 9783841235237 |
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