Geheimnis der Rückkehr (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491864-8 (ISBN)
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016
Stephan Wackwitz, geboren 1952 in Stuttgart, verbrachte 26 Jahre im Ausland und lebt heute wieder in Berlin. Neben zahlreichen Essays erschienen von ihm Romane (»Die Wahrheit über Sancho Pansa«, »Walkers Gleichung«), kulturhistorisch-autobiographische Bücher über Tokio, Osteuropa und den Kaukasus sowie historisch-biographische Bücher über seinen Großvater (»Ein unsichtbares Land«) und seine Mutter (»Die Bilder meiner Mutter«). Literaturpreise: Wilhelm-Müller-Preis 2010 Samuel-Bogumil-Linde-Preis 2012 Wilhelm Lehmann-Literaturpreis 2016
Man hört ihm gerne zu, er kann sehr gut schreiben und ich war irgendwann entwaffnet.
[...] dass Wackwitz ein ausgezeichneter Beobachter ist und dass er diese Form des Personal Essay auch wirklich glänzend beherrscht.
Das Buch erzählt von einem großen inneren und äußeren Aufatmen.
[...] eine große Erzählung von der langsamen Einwanderung in das eigene Land.
[...] das ist sehr interessante Literatur.
Stephan Wackwitz ist ein glänzender Beobachter.
Ein großes Lesevergnügen. [...] Ich habe die Sprache sehr genossen.
[...] eine so lohnenswerte Lektüre.
[...] in diesem sentimental-schönen Buch.
Ein intellektueller Bildungsroman der Extraklasse, nicht nur in diesem Frühjahr, sondern mit Bestand.
Traumzimmer
Ein kleiner Junge steigt an der Hand einer jungen Frau eine Wendeltreppe hinauf. Die beiden sind an Bord eines der transatlantischen Passagierschiffe, die zu Beginn der fünfziger Jahre linienmäßig zwischen Hamburg und New York verkehrten. Die heute üblichen Flugreisen nach Amerika dagegen sind 1954 noch etwas sehr Avantgardistisches, Teures, fast Undenkbares. Etwas für futuristisch experimentierfreudige reiche Leute. Zwischen den zwei Kontinenten liegen immer noch die Schiffspassagen, die seit dem 19. Jahrhundert Generationen von europäischen Auswanderern in die Vereinigten Staaten gebracht haben. Solche Ozeanüberquerungen sind in den fünfziger Jahren sicherer als hundert Jahre zuvor, und sie dauern nur noch ein paar Tage statt Wochen. Auch spektakuläre Untergänge wie die der Titanic sind auf der Nordatlantikroute um 1950 nicht mehr zu gewärtigen. Aber immer noch die Seekrankheit, immer noch die Langeweile, die enge Kabine, Ausblicke durch Bullaugen auf stürmisch tobende oder friedlich in der Sonne sich ausbreitende Wasserunendlichkeiten. Die Aufregung, das Bangen. Die Hoffnung. Die phantasierte Zukunft in einem fremden Land.
Die Frau auf der Wendeltreppe ist vierunddreißig Jahre alt. Sie ist meine Mutter. Der kleine Junge, dem sie die Treppe hinaufhilft, bin ich. Was will meine Mutter mit mir in Amerika, was erwartet sie dort? Der Krieg und die Hungerjahre im Nachkriegsdeutschland liegen hinter ihr. Meine Mutter trägt ein selbstgeschneidertes Kostüm, aus dessen rotbraunem Wollstoff sie vor unserer Amerikareise auch für mich eine Jacke genäht hat, meine »Fuchsjacke«. Wir sind auf dem obersten Absatz der Wendeltreppe angekommen. Wind wirft uns Regentropfen, Wellenschaum und Nebelfetzen ins Gesicht. Wir treten ein paar Schritte auf ein tennisfeldgroßes, sich langsam vor uns hebendes und senkendes Deck hinaus. Sie nimmt mich auf ihren Arm. Der fast schwarze Ozean schäumt in beängstigenden Wogen am Rand meines Gesichtsfelds. Aber mir kann nichts geschehen. Eine unsichtbare Zone der Enthobenheit umgibt mich. Sie ist zwar nur so groß wie der Realitätsausschnitt, den meine Mutter und ich einnehmen, aber unzerreißbar. Ich habe keine Angst, mir ist nicht kalt in meiner mutterfarbenen Jacke. »Es waren dunkle Flecken in mir«, schrieb Adalbert Stifter 1867 über seine frühesten Welteindrücke. »Die Erinnerung sagte mir später, daß es Wälder gewesen sind, die außerhalb mir waren.« Ich dagegen finde etwas Geschichtliches, auch Komplizierteres, in meinen Erinnerungen (oder Deckerinnerungen) aus dem Jahr 1954: Reisen in fremde Länder, Autonomie, Furchtlosigkeit, Hoffnung und die Nähe einer eleganten jungen Frau. Heute glaube ich zu wissen, dass es, in mir und außer mir, die transatlantischen Utopien der deutschen fünfziger Jahre gewesen sind. Ein Schiff wird kommen. Ein befahrenes Meer ist das Bild der Zukunft statt jenes sanften Gesetzes der Wälder. Lebensreisen kündigen sich an statt der Kriegszüge. Unbekannte Städte und Chancen tauchen dort auf, wo zuvor Vaterland und Heimat waren. Zwischen zwei Kontinenten zeigt sich Zukunft. In meinem Erinnerungsbild erscheint die Urgeschichte einer Nachkriegsmoderne, die meine Lebenszeit sein wird.
Das erste Buch, in dem ich mich selbst beschrieben fand, hat damals in Wirklichkeit mich gefunden. Ich war schon fast drei Jahre alt. Wir lebten inzwischen im Haus meiner Tante, die schon ein paar Jahre zuvor aus dem zerstörten Deutschland nach Amerika ausgewandert war. Das »Little Golden Book« mit dem Titel »Pierre Bear« ist von Patsy und Richard Scarry: Kinderbuchautorin und Kinderbuchillustrator, frühe und einflussreiche Stars der Branche. Die Reihe der »Little Golden Books« wurde von Simon & Schuster in New York verlegt und kinderpsychologisch beraten von Professor Mary Reed vom Teacher’s College der New Yorker Columbia-Universität, wo die kulturrelativistische Ethnologin Margaret Mead und der sozialreformerische pragmatist John Dewey – Richard Rortys Lehrer und Vorbild – die definitiven Lehrpersonen gewesen sind. Die »Little Golden Books« sind Inkunabeln amerikanischer Nachkriegs-Sozialpädagogik der fünfziger Jahre, Bilderfibeln für Kinder, die demokratisch gesinnte Weltbürger werden sollten. »In a windswept cabin, away up north, lived brave Pierre Bear. He lived all by himself.« Meine Mutter hatte mir »Pierre Bear« von einer der Reisen mitgebracht, die sie damals in die amerikanischen Metropolen unternahm, wo sie sich bei Werbeagenturen und fashion magazines erfolglos um Jobs in ihrem – schon aussterbenden – Beruf als Modezeichnerin bewarb. »This Little Golden Book belongs to« ist in eine weiße Buchsilhouette auf der Innenseite des Umschlagkartons vorgedruckt. Mit ihrer girlandenhaft dekorativen Handschrift hat sie ergänzt: »Stephan von Mutti aus Chicago November 1954«.
Ich frage mich, ob meine Ideale vom richtigen Leben jemals die windumtoste Blockhütte im hohen Norden verlassen haben, wo seit 1954 Pierre Bear lebt. Eine Freundin, die mich über die Jahre in den verschiedenen Wohnungen besuchte, die ich während meiner beruflichen Aufenthalte in Japan, Polen, der Slowakei, in New York, Georgien und schließlich in Berlin eingerichtet habe, verglich diese Interieurs mit einem Ufo, das sich nach ein paar stationären Jahren in die Luft erhoben und in wieder einem neuen Land oder Kontinent unverändert für eine Weile am Boden festgemacht hat. Dieses Ufo ist in Wirklichkeit eine kanadische Blockhütte aus dem Jahr 1954. Der Kinderbuchbär hat einen großen, aus Feldsteinen gemauerten Kamin, vor dem er im ersten Bild ein Buch liest und eine Tonpfeife raucht. Noch fast siebzig Jahre später scheinen mir seine Einrichtung und sein Leben so perfekt, wie ich es als Dreijähriger empfunden haben muss. Pierre hat Jeans mit roten Hosenträgern, eine grüne Jacke aus schwerem Wollstoff im großkarierten Holzfällermuster der fünfziger Jahre, eine rote Pudelmütze, einen beneidenswert stilvollen rosa Morgenrock mit Ahornblattmuster und dunkelgrünen Aufschlägen. In seiner Hütte gibt es Kastenfenster, in deren Sprossenecken sich der Schnee poetisch sammelt, hölzerne Fußbodendielen, zyklopische Deckenbalken, silberne Kerzenhalter, eine himmelblau emaillene Kaffeekanne, große Bodenvasen mit Meissener Zwiebelmuster. Das niedrig und langgestreckt Rustikale bringt sich neben dem altmodisch Eleganten zur Anschauung: Frank Lloyd Wrights Prairie-Style hat Richard Scarry für dieses Interieur vorgeschwebt. Pierre Bear schläft auf dem Boden unter einem anheimelnden Berg von Fellen, während vor dem Fenster der Polarstern über einer verschneit schweigenden Ebene leuchtet. »Viele der Little Golden Books befassen sich mit der unmittelbaren Umgebung des Kindes und geben ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit. Andere machen es mit dem Leben der Menschen in seiner Nähe bekannt und erweitern sein Gefühl für die Welt«, steht als literaturpädagogisches mission statement auf den Rückseiten dieser Buchreihe. Die Moral der Geschichte, die Patsy und Richard Scarry mit »Pierre Bear« – sozialphilosophisch abgesegnet durch Margaret Mead und John Dewey – ihrem jungen Leser nahebringen wollten, bestand darin, dass man in der Einsamkeit nur ein halber Mensch ist. Die Geschichte von Pierre Bear ist ein Familienroman. Die Scarrys idealisieren den Weg vom narzisstischen Ich zum familiären Wir. Aber bei mir kam das Buch als das Gegenteil seiner manifesten Botschaft an. So dass ich gezwungen war, aus den erzählerischen, innenarchitektonischen und modischen Anregungen der Scarrys mein eigenes, eine Art Geheimbuch, herzustellen.
Pierre Bear verlässt seine Hütte, um in der entfernten Trapper-Handelsniederlassung seine Felle zu verkaufen. Auf dem Markt gesellschaftlicher Zwecke stößt ihm zu, was für den dreijährigen Betrachter seines Bilderbuchs dann gleich das entscheidende Ärgernis war: Pierre kommt als verheirateter Bär in seine Blockhütte zurück. Für mich, das weiß ich noch genau, war die Geschichte mit dieser Wendung der Dinge, kaum dass sie ihre pädagogische Pointe erreicht hatte, schon ruiniert. Es fing damit an, dass mir »the pleasant lady bear«, die jetzt in das Leben meiner Identifikationsfigur eingedrungen war, überhaupt nicht gefiel. Sie ist von Richard Scarry im female american frontier style aufgefasst: ein weites, bettjäckchenartig kurzes rosa Bustier, bodenlange dunkelblaue Petticoats, eine weiße Schürze. Eine großmutterhaft weiße Haube mit violettem Band saß auf dem Bärinnenkopf. Und sie strickte Wollstrümpfe vor dem Kamin, während Pierre Bear, statt wie zuvor heldenhaft Elche zu jagen oder in Ruhe sein Buch zu lesen, ihr jetzt zur Gitarre vorsingen musste. Sein Hüttenleben würde nie mehr dasselbe sein. Und überhaupt hatten für mich weibliche, speziell mütterliche Bezugspersonen, egal ob im Bilderbuch oder im wirklichen Leben, prinzipiell nicht auszusehen und zu sein wie der westernmatronenhaft gestylte »pleasant lady bear«. Sie sollten sein und aussehen wie meine Mutter, wenn sie zu ihren Reisen nach New York oder Chicago aufbrach oder aus diesen Fernen zu mir zurückkam: das rotbraune Kostüm, ihre goldenen Lieblingsohrringe, Make-up, frische Dauerwelle. Auch sollten Mütter mit einem neuen »Little Golden Book« zu mir zurückkommen. Und so außeralltäglich gut riechen. Mütter sollten, fand ich, um in dieser faszinierenden Weise wiederkommen zu können, überhaupt öfter mal weggehen. Sie mussten durchaus nicht immer da sein. Meine mit mir zu Haus verbliebene Tante war ein fast so gut riechender, mich durchaus ausreichend verwöhnender und glaubwürdig wundervoll findender Ersatz. Mit dieser wollstrumpfstrickenden Bärenlady dagegen war es wirklich nicht das Richtige, und wenn ich mir mein Lieblingsbuch nach dem...
Erscheint lt. Verlag | 24.1.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ampel-Koalition • Anspruchsvolle Literatur • Autobiographie • Berlin • Bratislava • Ein Buch von S. Fischer • Erinnerungsbuch • Goethe-Institut • Krakau • Krieg in der Ukraine • Lebensbuch • Lebenserinnerungen • Lebensreise • Liberalismus • London • Minsk • New York • Pragmatismus • Richard Rorty • Tbilisi • Ukraine |
ISBN-10 | 3-10-491864-3 / 3104918643 |
ISBN-13 | 978-3-10-491864-8 / 9783104918648 |
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Größe: 4,6 MB
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