Paraiso -  Florian Scheibe

Paraiso (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-29531-8 (ISBN)
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Last Exit Ehetherapie - ein Paar kämpft um sein Überleben: erschütternd, fesselnd, gnadenlos ehrlich
In Aldea Paraiso, einem abgelegenen Dorf in Südspanien, haben zehn Paare ein exklusives Beziehungs-Coaching gebucht. Unter ihnen sind auch Manon und Thomas, die hier den letzten Versuch unternehmen, ihre Ehekrise in den Griff zu bekommen und ihre Familie zu retten. Anfangs sind sie befremdet von dem seltsamen Setting und dem unkonventionellen Ansatz, den der Leiter, Professor Blumberg verfolgt. Aber die Therapie scheint zu fruchten. Sie kommen einander wieder näher. Doch je länger ihr Aufenthalt dauert, desto mehr Fragen bedrängen sie: Woher weiß der Therapeut so gut über ihre Gefühle Bescheid? Was ist mit den Drohnen, die ständig über dem Dorf kreisen? Und was hat es mit dem Paar auf sich, das sie eines Abends zu sich einlädt? Noch ahnen sie nicht, dass die Nacht, die auf diesen Abend folgt, alles verändern wird ...

Florian Scheibe, geboren 1971 in München, hat Kulturwissenschaft, Geschichte und Filmregie studiert. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er als freier Autor arbeitet. Nach »Der Biss« erschien bei btb zuletzt sein vierter Roman »Paraiso«.

Eins


Alles beginnt mit dem Boot. Aber noch ist es kein Boot, sondern nur ein dunkler Fleck am Horizont.

Manon liegt auf der Luftmatratze, ihr Körper mit einem offenen Schlafsack bedeckt, und blinzelt gegen das Licht. Sie ist noch halb in ihrem Traum. Sie hört das Rauschen der Wellen, spürt die Wärme der Sonne und den Wind, der vom Meer herkommt. Aber vor allem spürt sie, dass sie allein ist. Gerade eben war er noch da, ganz nah, so nah wie seit Jahren nicht mehr. Und nun ist er weg. Wie verschluckt von der Sonne, dem Wind, den Wellen.

Sie hebt den Kopf. Betrachtet die kleine Bucht, den weißen Sand, die schützenden Felsen rechts und links und die steilen Klippen in ihrem Rücken. Vor sich sieht sie das offene Meer und an der Grenze zum Himmel diesen dunklen, tanzenden Fleck.

»Thomas?«

Entgegen ihrer Gewohnheit ruft sie seinen Namen auf Französisch. Ihre Muttersprache, die genau genommen die Sprache ihres Vaters ist, kommt von tief innen, ihre Stimme ist weich und vibriert in ihrem Brustkorb. Der Wind und die Wellen ersticken den Klang nach wenigen Metern. Sie ruft noch einmal, diesmal auf Deutsch, mit kurzem A und scharfem S, und nun schneidet der Name durch die Elemente – militärisch. Eine Befehlstonsprache, wie Manon sie oft nennt.

Keine Antwort.

Thomas bleibt verschwunden.

Plötzlich fühlt sie sich nackt in ihrem Slip und dem Unterhemd. Sie überlegt, ob sie sich anziehen soll. Stattdessen legt sie sich den Schlafsack um die Schultern, steht auf und geht auf das Meer zu. Der Sand ist warm, nur wenn sie die Zehen hineinsteckt, spürt sie noch den kühlen Morgen vor dem Sonnenaufgang, als Thomas und sie ihr kleines Lager in der Bucht aufgeschlagen haben.

Erst jetzt fällt ihr auf, dass Thomas’ Kleidung nicht mehr auf dem großen Stein liegt. Er hat sich angezogen und ist gegangen.

Der Fleck am Horizont ist näher gekommen. Manon beschattet ihre Augen mit der flachen Hand, kneift sie gegen die Sonne zusammen. Und mit einem Mal ist da kein Fleck mehr, sondern das Boot. Es ist ein Schlauchboot. Dicht gedrängt sitzen Menschen darin, schwarze Männer, mit dunklen Jacken, Kapuzen und orangefarbenen Schwimmwesten. Die meisten von ihnen sind ihr abgewandt. Aber einer steht aufrecht und schwenkt etwas, das aussieht wie eine schwarze Fahne.

Eine Welle überspült Manons Füße und greift nach ihren Knöcheln. Manon erschrickt, macht einen Schritt zurück. Zugleich will sie nach vorn, will winken und rufen, auf einen Felsen klettern und sich bemerkbar machen. Sie will sich hinter den Klippen unter ihrem Schlafsack verstecken und die Luft anhalten. Sie will sich ins Meer stürzen. Sie will zur Straße rennen, Hilfe holen, will fliehen.

Sie will, dass Thomas endlich zurückkommt.

»Thomas! Thomas!«

Sie steht hinter einem der großen Felsen und schaut hinauf zu der Steilküste. Sie sucht den Weg ab, den sie am frühen Morgen von der Straße gekommen sind. Aber Thomas ist nirgendwo zu sehen. Als sie sich wieder dem Meer zuwendet, ist das Boot verschwunden, und einen Moment lang glaubt sie, sie hätte sich das alles nur eingebildet. Dann taucht das Boot kurz noch einmal auf. Sie erkennt, dass es sich bei der Fahne um eine Jacke oder ein Sweatshirt handelt. Die beiden Ärmel sind an einem Ruder festgebunden, der Rumpf bläht sich im Wind. Kurz darauf ist das Boot wieder aus ihrem Blickfeld verschwunden, verdeckt von der großen Felsformation, die die Bucht nach Osten hin einfasst.

Manon geht zu dem Stein, auf dem ihr Kleid und die Sandalen liegen, und zieht sich an.

Unschlüssig steht sie neben der Luftmatratze. Sie greift nach ihrem Handy. Thomas’ Mutter hat über den Familienchat ein Foto vom Frühstück geschickt. Léonie hat noch mehr Haare verfilzen lassen, ihr Lächeln ist gezwungen, es sagt: Ich hasse es, hier zu sein, vielleicht sogar: Ich hasse alles. Noahs Lächeln ist schief, offenbar hat er den Mund voll. Auf seinem Teller liegt ein angebissenes Schinkenbrötchen, eine Wespe sitzt darauf.

Sie wischt zu Thomas’ Nummer, ihr Daumen schwebt darüber. Aber sie kann sich nicht überwinden und tatsächlich darauf tippen.

Also lässt sie das Handy sinken und schaut erneut aufs Meer. Ein leerer Horizont, nur die Wellen und die Sonne, die auf ihnen glitzert.

Am liebsten würde sie sich auf die weiche Luftmatratze fallen lassen, in den Schlafsack kriechen und den Reißverschluss nach oben zuziehen.

»Manon!«

Sie dreht sich um.

Thomas kommt mit seinem kleinen Rucksack von Westen die Bucht entlang. Das Fleece hat er sich um die Hüften gebunden. Sein Gesicht ist gerötet, Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Er lächelt.

»Ich wollte dich gerade anrufen«, sagt sie.

»Ich bin ein wenig über die Klippen geklettert.«

Etwas Jungenhaftes umspielt seine Augen, einen Moment lang sieht er aus wie Noah.

Sie will ihm von dem Boot erzählen, von den orangefarbenen Rettungswesten, dem im Wind geblähten Sweatshirt. Von ihrem Gefühl, helfen zu müssen und zugleich wegrennen zu wollen. Doch bevor sie die richtigen Worte findet, wühlt er in seinem Rucksack und hält ihr etwas hin.

»Schau mal!«

Im ersten Moment sieht sie den Schädel eines Tieres, einer Katze oder eines Marders. Dann erkennt sie, dass es sich um eine Muschel handelt. Eine Schneckenmuschel, weiß und erstaunlich groß.

»Für mich?«

»Ja.«

Seine Augen leuchten. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Er schenkt ihr oft etwas. Aber es ist Ewigkeiten her, dass er ihr etwas Gefundenes mitgebracht hat.

»Danke.«

Sie nimmt die Muschel, dreht sie in der Hand, die Oberfläche ist rau. Kleine Stacheln stehen in alle Richtungen. Einen Moment lang ist sie ganz ergriffen von dem Wunderwerk, das die Schöpfung hier vollbracht hat. Dann denkt sie an ein Spielzeug, das Thomas ihr vor ein paar Monaten aufs Bett gelegt hat – ein kleiner spitz zulaufender Vibrator mit Noppen.

»Ist das nicht herrlich?« Thomas schaut aufs Meer.

Manon denkt an das Gefühl des Alleinseins, als sie aufgewacht ist. Vor ihrem inneren Auge sieht sie noch einmal das Boot.

»Ja«, sagt sie.

Er tritt von hinten an sie heran und legt seine Arme um ihren Bauch.

»Das war schön vorhin«, sagt er. Sein Mund ist nah an ihrem Ohr.

Sie nickt. »Das fand ich auch.«

Es stimmt, es war tatsächlich schön, sehr schön sogar. Aber sobald sie es ausgesprochen hat, kommt es ihr vor wie eine Lüge.

Thomas drückt sich von hinten an sie heran. Sie umgreift die Muschel etwas fester.

»Am liebsten würde ich noch einmal auf die Matratze.« Seine Stimme ist sanft.

Sie muss ein Stöhnen unterdrücken, so schmerzhaft sind die Muschelstacheln an ihrem Handballen.

Thomas löst sich von ihr. »Ich spring kurz ins Meer, kommst du mit?« Er sagt es leicht, ohne jeden Vorwurf.

Sie schüttelt den Kopf. »Aber ich setze mich auf einen Felsen und schau dir zu.«

Er lächelt. »Das klingt gut.«

Obwohl Thomas nach wie vor schlank ist, hat er um die Hüfte etwas angesetzt: ein kleiner Schwimmring. Sein Schwanz ist noch leicht erigiert von der Berührung mit ihrem Hintern. Das Schamhaar ist grau geworden.

Er läuft bis zur Wassergrenze und lässt seine Füße von den Wellen umspülen.

»Uh«, sagt er. »Kälter, als ich dachte.«

Er geht ein paar Schritte zurück, schiebt seine Fußsohlen in den Sand, stellt sich in eine Art Startposition.

Manon hebt den Arm. »À vos marques!«

Thomas macht einen übertrieben fokussierten Gesichtsausdruck und stützt seine Hände mit abgespreizten Fingern in den Sand.

»Prêts!«, sagt sie.

Thomas reckt seinen nackten Hintern in die Höhe. Seine Hoden baumeln zwischen den Beinen. Manon muss lachen, es kommt von tief innen. Sie verzögert, verharrt in dem Gefühl. Dann holt sie tief Luft und sagt: »Et … par…tez!«

Sie lässt den Arm fallen. Thomas rennt los. Sein Schwimmring bebt. Sein Schwanz tanzt willenlos hin und her, fliegt links und rechts gegen die Hüfte und nach oben in Richtung Bauchnabel. Manon will weiter lachen, aber das Komische ist verschwunden.

Als Thomas den Ausläufer einer Welle erreicht und das kühle Wasser seinen Bauch berührt, schreit er. Noch drei, vier Schritte gegen die Strömung, dann taucht er mit einem Hechtsprung unter und schwimmt davon.

Von ihrem Felsen aus schaut Manon in die Richtung, in der das Boot verschwunden ist, doch sie ist nicht hoch genug, um die nächste Bucht und den weiteren Küstenverlauf sehen zu können. Thomas schwimmt auf dem Rücken, die Wellen schwappen ihm ins Gesicht. Er lacht und winkt ihr zu. Sie winkt zurück.

Wieder muss sie an Noah denken. Und dann an Léonie. Daran, wie sie mit ihr in einem nach Chlor stinkenden Hallenbad beim Babyschwimmen waren: Thomas auf dem Rücken, Léonie auf seiner behaarten Brust, die damals noch nicht grau war.

Vor vierzehn Jahren.

Eine halbe Ewigkeit.

Und doch erst gestern.

Erst jetzt bemerkt Manon, dass sie die Muschel noch in ihrer Hand hält. Sie überlegt, sie ins Meer zu werfen, dorthin, wo sie hergekommen ist, wo sie hingehört. Sie verlagert ihr Gewicht, streckt ihren Arm nach hinten und holt aus. Dann denkt sie an das Leuchten in Thomas’ Augen und bricht die Bewegung ab.

Hinter den Klippen haben die Wellen noch keine Richtung. Sanfte Hügel und breite Täler, die sich scheinbar ziellos hin und her bewegen.

Thomas krault inzwischen. In seinen Bewegungen erkennt man den geübten...

Erscheint lt. Verlag 12.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Berlin • Beziehungscoaching • Beziehungsroman • Doomscrolling • doomsurfing • eBooks • Ehekrise • Ehepaar • Flüchtlingskrise • Klimakrise • Liebesromane • Neuerscheinung • Paartherapie • Roman • Romane • Sex • Spanien • Südspanien
ISBN-10 3-641-29531-9 / 3641295319
ISBN-13 978-3-641-29531-8 / 9783641295318
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