Erdling (eBook)

Roman | »Glaubst du an Außerirdische, Oskar?« | Ein Heimatroman der fantastischen Art
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2023 | 1. Auflage
425 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77729-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erdling -  Emma Braslavsky
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Eine Spurensuche nach verschütteter deutscher Mentalität

Emma Erdling ist notorisch pleite. Nur dank der Unterstützung ihrer kinderlosen Großtante konnte sie sich als Privatdetektivin unter dem Pseudonym »Andreas von Erdling« im teuersten Viertel der Stadt selbstständig machen, auch wenn sie nie vorhatte, echte Fälle zu lösen. Stattdessen inszeniert sie ihr Leben als Soap einer knallharten, linksideologischen Ermittlerin in den sozialen Netzwerken, bis unvorhergesehene Ereignisse ihre gemütlich eingerichtete Existenz erschüttern und ein Shitstorm ihr virtuelles Dasein vernichtet. Doch schon tags darauf soll sie ihren ersten, wenngleich unlösbar scheinenden Auftrag übernehmen: Oskar Lafontaine sucht ihr Büro auf. Seine Frau sei entführt worden, von Außerirdischen, er wolle sie zurück, Geld spiele keine Rolle.

Die Suche nach der entführten Sahra Wagenknecht entpuppt sich bald als Reise in ein verdrängtes Bewusstsein, zu Teilen einer Identität, die Emma Erdling zu Beginn der Geschichte so fern war wie eine Galaxie jenseits der Milchstraße. Zugleich nimmt uns der Roman mit auf eine Odyssee zu den hellen und dunklen Mächten deutscher Geschichte, bis hinaus ins Weltall, alle Grenzen von Zeit und Raum mühelos überschreitend.



Emma Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, lebt seit 1999 als freie Autorin und Kuratorin in Berlin. Ihr Deb&uuml;troman, <em>Aus dem Sinn</em>, wurde 2007 mit dem Uwe-Johnson-F&ouml;rderpreis ausgezeichnet. Mit ihrer Erz&auml;hlung <em>Ich bin dein Mensch </em>lieferte sie die Vorlage f&uuml;r den gleichnamigen Film von Maria Schrader, der 2022 mit vier Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet und als deutscher Kandidat f&uuml;r die Oscars ausgew&auml;hlt wurde.

1 (Ich)


Ohne einen Schatten ist auch mein Selbst nicht wirklich

»Bin mit meinem Deutsch am Ende, dears!«, schrieb ich in fetten weißen Buchstaben (diesmal unter spontanem Stirnrunzeln) mit dem Textwerkzeug von Photoshop auf das schwarze Rundhals-T-Shirt in dem Selfie, das ich eben, vorm Spiegel posierend, von mir gemacht hatte. Darauf halte ich mit der linken Hand lässig meinen abgewetzten braunen Ledermantel über der Schulter. Meine Miene ist ernst und mit knallrotem Lipgloss betont. Gleich danach tippte ich noch meine zwei Lieblings-Hashtags in die Bildunterschrift: #MeinHerzSchlägtLinks und #NieWiederDeutschland. Gerade wollte ich den Post abschicken, da hielten mich auf einmal seltsame Bedenken zurück. Eine Sekunde lang durchfuhr mich das Gefühl einer Verschwommenheit, einer Unschärfe. Das Klopfen der Regentropfen draußen am Fenster, die seit geraumer Zeit aus einem düsteren, benebelten Himmel stürzten, machte sich plötzlich als Omen bemerkbar: Sie prasselten und tänzelten nicht, sie zerplatzten bedeutungsschwer und tragisch an meiner Scheibe vorm Schreibtisch. Kam ich auf dem Foto etwa nicht authentisch rüber? Fehlte ein Ausrufezeichen am zweiten Hashtag? So was in der Art postete ich doch immer an solchen Tagen, an denen ich nicht dazu kam, mich mit den Aufregern meiner Gegenwart zu beschäftigen, um sie vereinnahmen und kommentieren zu können. So was in der Art kam mir immer in den Kopf, wenn ich meine inzwischen riesige Audience bei der Stange halten wollte, aber eigentlich gerade nichts Wichtiges zu sagen hatte. Denn so was in der Art hatte bei mir doch immer gut funktioniert. Dann war ich cool, ich war safe und kassierte Tausende hearts, hugs, kisses, thumbs-ups. Also wieso dieses Grummeln im Magen plötzlich?

Lang ignorierte ich diese Gleichgültigkeit, nein, eher diese Verwirrung, die bei mir mit dem Wort links aufkam. Ich ignorierte, dass in mir bei all dieser bundesdeutschen Links-Romantik nichts brannte, ich fühlte nichts. Wie auch? Unter Lebensgefahr war ich aus einem versumpften, selbsternannten »linken« Knast geflohen, wo für mich das einzig Menschliche die Kirche gewesen war, die sich unter der autokratischen Herrschaft des so genannten real existierenden Sozialismus alternativ und cool anfühlte, anders als später in Bayern. Wenn du in der DDR im Widerstand warst, hast du dir ein Kreuz um den Hals gehängt und Jesuslatschen angezogen. Wo rechts immer nur der feindselige Westen war (weil dort noch die Ex-Nazis in leitenden Funktionen seien), der mit seiner »Scheinaufarbeitung« und der »verlogenen Vergangenheitsbewältigungs-Show« das neue deutsche Narrativ an sich zu reißen drohte. Dieser Rechts-und-links-Denkmodus im »Westen« sei pures Ablenkungsmanöver von den Tatsachen. In der BRD gebe es überall Nazis in den Kadern. Im Osten hingegen gebe es nur Linke.

An dem Tag, als ich diesen Post abschicken wollte, aber nicht konnte, war ich schon gute zwanzig Jahre in BRDeutschland, schon mehr als die Hälfte meines Lebens damals. Und weil ich mit Sicherheit nicht rechts fühlte, weil ich jung war und progressiv dachte, war ich natürlich links. Ich reihte mich ein und flog mit dem Schwarm. Mein Verstand war wie betäubt von dieser Unbeschwertheit, die überall wie Frischeduft von Lenor aus den Köpfen dampfte, dabei erschien mir die Welt hohl und seelenlos. Außerdem war ich arm. Jedenfalls arm genug, um mir mit Mitte dreißig noch Ideale leisten zu können. Zu der Zeit war Wohlstandsverwahrlosung auch das Schlimmste, was einer in meinem Alter passiert sein konnte.

Damals wachte ich morgens noch mit diesem beruhigenden Gefühl auf, dass in meinem Leben nichts Weltbewegendes mehr passieren würde. Nichts Krasses. Weltbewegendes oder Krasses, auch Bescheuertes streamte oder mimte ich, mehr nicht. Das Krasseste, was sich damals in meinem Leben ereignete, war ein vernichtender Hashtag, weil ich dachte, das Härteste bereits hinter mir gelassen zu haben. Ich spreche jetzt nicht nur von meiner Flucht aus dem Ostblock oder vom Fall der Mauer und dem scheinbaren Ende des endlos scheinenden Kalten Kriegs, nein, wegen des Schwunds der Ozonschicht hatten wir 1987 in meiner Schule über Nacht auf Haarspray und Deo verzichtet! Auch die Punks unter uns. Es leuchtet ein, warum der Emo-Style in den 1990ern nur eine logische Folge des Ozonlochs sein konnte.

Mein Geist eierte also gut zwei Jahrzehnte lang durch dieses lauwarme bundesdeutsche Wohlfühl-Universum, in dem ich das Deutschsein auf feine linke Art gekonnt hinter englischen Begriffen verschwinden ließ, obwohl ich vom Deutschsein, wie ich heute weiß, nicht mehr verstand als jedes rechte Arschloch hier. Die ganze Zeit über habe ich nicht mal bemerkt, dass ich bei Ausdrücken wie grab her by the pussy eigenartigerweise nichts fühlte. Und das sind gute englische Waffen, sie schaffen bei den Deutschen Abstand zwischen Herz, Magen und Hirn, damit die nichts fühlen müssen. Sie gehen leicht über die Lippen, schmiegen sich an Hashtags. Mir bedeuteten sie nichts, also plapperte ich sie so dahin. Doch wenn jemand Muschigrabschen sagt, sticht es sofort im Magen, als würde das Wort handgreiflich. Plötzlich echte Gefühle zwischen Ekstase, Peinlichkeit und Empörung. Es war eine Zeit mit viel Fake-Geilheit, Fake-Identität, Fake-Abenteuern, manchmal Fake-Empörung, meistens aber Fake-Attitude. Meine Welt war voll von irgendetwas Vorgetäuschtem, das nur real wurde, weil’s jemand nachfragte und dir abkaufte.

Mein Schlaf war in der Regel traumlos und steinhart. Ich flog in meiner Bahn und kannte meinen Weg. Und beseelt von dieser Gelassenheit schlug ich morgens meine Lider auf. Auch da erwartete ich nichts Krasses, weil ich schon mehr als mein halbes Leben lang in der Unschärfe wach wurde. Meine Brille lag genau eine Armlänge von mir entfernt auf einem Stapel Bücher, ich griff danach und setzte sie auf, um richtig anzukommen. Ja, und dann … schaute ich vom Bett aus in Shafts Visage, der mich in Lebensgröße und in Rolli und diesem scheißcoolen braunen Ledermantel von einem Original-1971er-Poster herab anblickte. Das hatte ich einer Händlerin auf dem Flohmarkt für zehn Euro abkaufen müssen, weil sie mir nicht erlaubte, einfach nur den Wahnsinns-Mantel darauf abzufotografieren. Aus Platzmangel an den Wänden hängte ich es an die Decke über mein Bett. Shafts sozial engagierter, kritischer Blick war lange das Letzte, was ich vor dem Lichtlöschen wahrnahm. Und so war ich nach dem Aufwachen auch gleich phänomenal gut drauf! Bei seinem Anblick fühlte ich mich motiviert und ausreichend gesellschaftlich engagiert, mehr Realität brauchte ich nicht. Mein Film war gestartet, Hayes’ Soundtrack zuckte durch meinen Körper. Das waren damals die Schwingungen am Morgen.

Ich wartete auf den dritten Schlag, mit dem die Wohnungstür ins Schloss fiel, alle aus meiner WG waren in den Tag gestartet, und jetzt wurde es auch Zeit für mich. Ich wollte nicht, dass sie mir mein cooles Gefühl am Morgen mit irgendeiner kritischen Bemerkung zu Shaft, von wegen sexistisch und so, kaputtmachten. Ich erhob mich, endlich konnte ich nackt durch die Wohnung laufen, meinen Hintern, die Hüfte im Beat. Vorm Spiegel. In der Küche. Ich stellte den Song an und drehte die Lautstärke hoch. Dazu einen doppelten Espresso und eine Zigarette. Diese viereinhalb Minuten machten mich glücklicher als die Fake-Dollars, die ich damals den Tag über im Las-Vegas-Solitär einspielte. Duschen, rasieren, Zähneputzen – die Morgentoilette folgte. Mein Outfit leger, aber ambitioniert, über alles zog ich meinen abgewetzten, shaftigen Dreiviertel-Ledermantel, nach dem ich lange auf Flohmärkten gesucht hatte. An warmen Tagen warf ich ihn mir über die Schulter. Kunstleder kam nicht in Frage. Ein echter toter Bulle musste es schon sein. So ein bisschen Protest-Image. Dazu verliehen mir einfache schwarze Pullover oder T-Shirts mit Rundhalsausschnitt diese schlichte Wichtigkeit, diese Schlichtheit der Milliardäre und Mächtigen, wenn sie in ihren betont bescheidenen...

Erscheint lt. Verlag 11.12.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Aliens • Außerirdische • Berlin • BSW • bücher neuerscheinungen • Bündnis Sahra Wagenknecht • Entführung • Ich bin Dein Mensch • influencer • Karl Marx • Neuerscheinungen • neues Buch • Oskar Lafontaine • Privatdetektivin • Sahra Wagenknecht • Shitstorm • Social Media • Soziale Medien • Versicherungsbetrug • Voltaire • Zeitsprünge
ISBN-10 3-518-77729-7 / 3518777297
ISBN-13 978-3-518-77729-9 / 9783518777299
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