Mängelexemplare 5: Hinter den Fenstern (Anthologie) -  Vincent Voss,  Faye Hell,  Carolin Gmyrek,  Lilly Rautenberger,  Stefan Radoi,  Sanjina Karma,  Stefanie M

Mängelexemplare 5: Hinter den Fenstern (Anthologie) (eBook)

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2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Amrûn Verlag
978-3-95869-540-5 (ISBN)
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Horror trifft Erotik! Die legendäre und mehrfach prämierte Anthologiereihe Mängelexemplare meldet sich mit einer neuen Ausgabe zurück. In diesem Haus pulsiert das Leben. Hier wird geliebt, gefeiert und gelacht. Die geräumigen Wohnungen werden von wärmenden Sonnenstrahlen gekitzelt und die Dachschindeln funkeln im Licht. Alles scheint gut in diesem Haus in Deiner Nachbarschaft. Zumindest, solange niemand einen Blick hinter die blankgeputzten Fenster wagt ... Denn dort warten Trauer, Wut, zerplatzte Träume, unerfüllte Wünsche und wilde sexuelle Fantasien. Mängelexemplare: Hinter den Fenstern Das sind zehn erotische Horrorgeschichten und eine verlorene Seele, die ihr Fernglas auf die Bewohnerinnen und Bewohner legt, um ihren eigenen Abgründen zu entfliehen. Mit Tobias Bachmann, Carolin Gmyrek, Arthur Gordon Wolf, Faye Hell, Sanjina Karma, Sonja Rüther, Vincent Voss, Stefanie Maucher, Stefan Radoi, Lilly Rautenberger, Stefan Cernohuby und Constantin Dupien.   ----   Mängelexemplare V ist eine Anthologie-Dilogie. Der Schwesternband Am Ende der Zeit ist ebenfalls im Amrûn Verlag erschienen.

Die Standuhr

Carolin Gmyrek

Sie hatten sich die Wohnung im vierten Stock des alten Mehrfamilienhauses eher unbewusst ausgesucht. Beinahe hätte man annehmen können, dass es Zufall gewesen war. Als Vera die kleine Anzeige neben ihrem Angebot für kosmische Führungen im Tagesblatt entdeckt hatte, war sie erst skeptisch gewesen, bis ein Kaffeefleck in Form eines Uhrzeigers ihre Meinung änderte. Also war es Schicksal.

Es gab keine Besichtigung, keine Bilder, keine Absprachen, bevor sie den Vertrag unterschrieben und den Schlüssel per Post zugesendet bekommen hatten. Der Verwalter hatte lediglich mit ihr telefoniert und dann per Brief die Formalitäten geklärt. Der Mietvertrag passte auf drei Seiten.

»Ungewöhnlich«, hatte Simon gesagt. Dabei fand er es genauso aufregend, wie sie. Kaum eine Woche später hatten sie vor dem Haus gestanden und zu den Fenstern hochgeschaut, die sie bald weit öffnen würden. Sie waren dreckig gewesen.

»Es ist perfekt«, meinte sie mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Sie spürte die Schwingungen, die dieses Haus verbreitete. Sie sah die vielen bunten Schatten und hörte die Klänge der tausend Leben. Hier würde sie sich wohlfühlen. Mit der angebrachten Ehrfurcht schob sie den Schlüssel in das Schloss und betrat den Hausflur. Simon folgte ihr.

Veras Schritte knarrten auf dem alten Holz der Treppen. Staub wirbelte in den letzten Lichtkegeln des Tages. Ob das Flurlicht funktionierte? Sie würde es nicht testen. Die Schatten erzählten ihr Geschichten und sie wollte sie ungern vertreiben. Irgendwo tickte eine Standuhr.

»Sie lachen uns aus, mein Schatz.« Simon betrachtete ein altes Gemälde, das an der Wand zwischen dem dritten und vierten Stockwerk hing. Es zeigte ein Wiesenidyll mit blauem Himmel, weißen Wolken und einem Häuschen in der Ferne. Hübsch, ölig, langweilig. Es erinnerte ihn ein wenig an seine alte Heimat, an sein früheres Zuhause. Doch sein kleines Idyll war bis auf die Grundmauern abgebrannt und zurückblieb nur noch Vera. Sie nickte. »Ich weiß«, sagte sie und trat in ihr neues Leben.

Dieses neue Leben bestand aus drei Zimmern, die sie innerhalb weniger Tage eingerichtet hatten, und einem Bad. Es gab ein riesiges Wohnzimmer mit angrenzender, offener Küche. Das Schlafzimmer war groß genug für das Futonbett, das sie seit Jahren besaß, einen Kleiderschrank, sowie zwei Bücherregale. Das reicht, dachte sie. Was soll schon anderes in ein Schlafzimmer?

Das dritte Zimmer war ein winziger Raum, den Vera sich als Arbeitszimmer auserkoren hatte. Ein Schreibtisch und ein kleiner Schrank fanden darin Platz. Notgedrungen sogar ein Bürostuhl, der jedoch immer sorgfältig unter den Tisch geschoben werden musste, wenn sie die Tür schließen wollte. Merkwürdig war dieses Zimmer schon, dachte sie. Der Raum wirkte nicht wie eine Abstellkammer – immerhin hatte er ein Fenster, aus dem sie nur zu gerne auf die Straße hinausschaute. Die schwüle Luft und das träge Ticken der Standuhr, die sie schon beim ersten Betreten des Treppenhauses gehört hatte, wiegten sie regelmäßig in den Schlaf, sobald sie sich erlaubte ihre Gedanken schweifen zu lassen. Tick ... Tack ... Tick ... Tack ... Die Uhr musste sich direkt auf der anderen Seite der Wand befinden. Sie fühlte Poe, fühlte den Raben und lächelte.

»Es hat eine besondere Aura«, meinte Simon, der sich an den Türrahmen lehnte und ihr beim Arbeiten zuschaute.

»Hat es das?«, fragte sie. »Also haben Räume Auren?«

»Was weiß ich?« Simon ergriff die Lehne ihres Bürostuhls und zog sie aus dem winzigen Arbeitsbereich heraus. Sie hatte kaum noch Zeit gehabt, nach ihren Aufzeichnungen zu greifen und das Handy auf ihren Schoß zu legen. Er rollte sie über das alte Parkett zur ausladenden Couch in der Mitte des Wohnzimmers.

»Du hast genug gearbeitet«, sagte er lächelnd. Er drehte sie auf dem Stuhl zu sich herum und strich ihr sanft über das Gesicht, sowie durch das schwarze Haar. Eigentlich war es blond, doch sie wollte sich gerne den Vorstellungen ihrer Kunden anpassen. Er fuhr durch jede einzelne Strähne, bis er an ihrem Nacken angekommen war, ihre gefärbten Haare ergriff und ihren Kopf zurückzog. Sie blickte ihm direkt in die Augen, ihre Miene unverändert, dann leckte sie sich über ihre Lippen. »Küss mich«, sagte sie. Langsam beugte er sich nach vorn, seine Lippen leicht geöffnet und sein Blick voller Lust, da klingelte das Handy. Sie seufzte. Er seufzte. Dann ließ er sie los und ging einen Schritt zurück.

»Eine wichtige Kundin«, informierte sie. Er war längst weg. »Ein Polterer.« Vera raffte ihre Notizen zusammen, die auf den Boden gefallen waren, holte aus dem Arbeitszimmer die Geisterbox und griff nach ihrem vorbereiteten Koffer mit allen notwendigen Materialien. »Ich beeile mich.«

»Ja.« Simons Stimme hallte im Wohnzimmer wider. Dann verließ sie die Wohnung.

Vera schaute fassungslos auf das Chaos, das sich vor ihr ausbreitete. Ihr kleines Büro war leergeräumt. Schreibtisch, Schrank und Bürostuhl waren grob vor dem Raum gestapelt, während ihr Rechner und die Unterlagen irgendwo auf der Couch platziert worden waren.

»Was ist denn passiert?« Eine Antwort bekam sie nicht. Sie ließ ihren Koffer neben der Eingangstür stehen und trat vorsichtig an die aufgeschichteten Möbel heran. Ihre Fingerspitzen glitten über das Holz und zogen die Kratzer nach, die durch das unbedachte Auftürmen entstanden waren. War das Simon gewesen? Es gab keine andere Möglichkeit. Er neigte durchaus zu Überreaktionen, doch Vera glaube nicht, dass in ihrer Abwesenheit etwas derart Schlimmes geschehen war, dass es ihn zum Herumwirbeln der Möbelstücke animiert hätte. Oder hatten die Nachbarn geklingelt? War etwas Böses in ihre neue Wohnung eingedrungen? Oder hatte sich Simon so über ihre viele Arbeit geärgert, dass er ihre Grundlage einfach zerstören wollte?

»Simon?«

Noch immer war es still. Nur das leise, träge Ticken dieser Standuhr war zu hören. Ein Kichern folgte; das einer jungen Frau, vertraut und zwanglos. Es erinnerte an weite Wiesen und blauen Himmel, irgendwie an das Bild draußen im Flur. Ölig, langweilig. Vera hob eine Augenbraue und blickte zu den weiten Fenstern. Im Dunkeln reflektierten die Scheiben ihr helles Gesicht. Sie sah alt aus. Oder müde. Durch das dunkle Make-up um ihre Augen wirkte sie wie ein Gespenst. Sie grinste. Irgendwie unheimlich, dachte sie. »Ich bin der Tod!«

»Nicht du, mein Schatz, aber jemand anderes«, antwortete Simon. Er kam aus dem ehemaligen Arbeitszimmer und verschränkte die Arme. Sein Blick war ernst und fest auf sie gerichtet. »Komm! Ich muss dir etwas zeigen.«

»Ist die Frau noch da?«, fragte Vera, während sie sich von ihrem Spiegelbild löste und zu Simon trat. Er runzelte die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Sie ist nicht da und war es auch nie. Oder doch? Ich bin mir nicht sicher.«

Er machte einen Schritt zur Seite und ließ sie einen Blick in das Zimmer werfen.

»Es ist leer«, sagte sie. »Wie zu erwarten ist, wenn du meine Möbel nach draußen wirfst!«

»Entschuldige!« Verlegen kratzte er sich am Kopf, bevor er in den Raum trat und sie mit sich zog. Sie standen sich fast direkt gegenüber. Sie konnte seinen Atem spüren. Lange schaute er sie an, mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, dann hob er den Arm und deutete zur Seite. »Da. Schau!«, raunte er ihr zu. Sie löste ihren Blick von seinen braunen Augen, bevor sie den Kopf zu der Wand drehte.

Sie starrte direkt auf ein faustgroßes Loch, das mittig in die Rigipsplatte geschlagen worden war. Sicherlich hatte Simon das nicht mit bloßer Hand gemacht und Werkzeuge besaßen sie auch nicht. Wehmütig dachte sie an ihren Schreibtisch, der noch immer im Wohnzimmer stand. Das war eben Simons Art, die Dinge anzugehen.

»Was ist das?«, fragte sie und deutete auf das Loch. Er grinste. »Ein Loch.«

»Oh«, machte sie und ging darauf zu. Sie hörte das Ticken der Standuhr, hörte es immer lauter in ihren Ohren, fast wie einen Trommelschlag.

»Hast du es zur Nachbarwohnung geschlagen?«

»Nein«, antwortete er und wartete geduldig. Sie stand direkt davor und lauschte. Das Ticken der Uhr war mittlerweile so laut, dass sie sich am liebsten die Ohren zuhalten wollte. Dann legte sie die Hände an die Raufasertapete, spürte die Wärme des Raumes und blickte durch das Loch.

»Eine Standuhr«, sagte sie wenig überrascht.

»Ja«, antwortete Simon. Er trat an ihre Seite und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und mehr. Die Wände haben keine Türen. Dieser Raum gehört zu uns, wie wir in diese Wohnung.«

»Mitsamt der Uhr.« Vera trat einen Schritt zurück und löste sich aus seinem Griff. Das Ticken der Uhr hatte Kopfschmerzen ausgelöst. Der Tag war anstrengend gewesen, die Kunden ebenfalls, und in diesem Moment wollte sie nichts lieber, als sich mit Simon ins Bett zu kuscheln. Dennoch war sie neugierig, was sich hinter dieser Wand noch verbergen könnte.

Also warf sie erneut einen Blick in den abgetrennten Bereich. Ein schmales Fenster an der rechten Wand ließ Mondlicht hinein, welches von dem Ziffernblatt und den metallenen Zeigern der Uhr reflektiert wurde. Dunkle Schatten umspielten die vielen Verzierungen an dem hölzernen Gehäuse und ein schweres Pendel tanzte mit dem nächtlichen Grau. Gespenstisch, dachte Vera. Ihr war das kleine Fenster von außen nie aufgefallen, oder hatte sie es einfach ignoriert?

»Läuft die Uhr rückwärts?«, fragte sie. Simon begann zu lachen. »Ernsthaft? Das fragst du mich? Aber nicht den, der...

Erscheint lt. Verlag 24.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95869-540-X / 395869540X
ISBN-13 978-3-95869-540-5 / 9783958695405
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