Jeder ist wer -  Josef Brustmann

Jeder ist wer (eBook)

Menschenwege in Herzgegenden
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2023 | 1. Auflage
140 Seiten
Allitera Verlag
978-3-96233-401-7 (ISBN)
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Josef Brustmann wächst in großer Armut als achtes von neun Kindern auf. Zwei sterben viel zu früh, die anderen wärmen einander mit Singen, Lachen und Musizieren. Der Vater, für 8 Jahre von Krieg und Kriegsgefangenschaft verschluckt; dass er Josef liebt, zeigt sich erst ganz spät, aber auch, dass es dafür nie zu spät ist. Josef gibt alle Liebe weiter an seine Kinder und Enkelkinder. Seine eigenen Großväter kürzten unglücklich ihr Leben ab. Trauer, die lange nachhallt in den nächsten Generationen. Vertrieben werden aus der Heimat, zufällig stranden im »gelobten« Land Bayern, in Waldram bei Wolfratshausen, ehemals Föhrenwald, ehemals Displaced-Persons-Lager und jüdisches Schtetl. Wie schnell die einen »vergessen« können, die anderen nie; was ist der Mensch, was ist das Leben? Für beides gibt es keine Generalprobe.

JOSEF BRUSTMANn, wurde 1954 als achtes von neun Kindern geboren und wuchs in Waldram bei Wolfratshausen unter ständigem Singen, Musizieren und Lärmen auf. Daraus resultierend - sozusagen aus Notwehr - entwickelte er eine kräftige Stimme und erlernte zahlreiche große und möglichst laute Instrumente (Tuba, Kontrabass, Klavier, Cello). Seit 2004 ist er als Solokabarettist unterwegs und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, u.?a. den »Deutschen Kabarettpreis«, die »Tuttlinger Krähe« und den »Gutedel-Kabarettpreis«.

JOSEF BRUSTMANn, wurde 1954 als achtes von neun Kindern geboren und wuchs in Waldram bei Wolfratshausen unter ständigem Singen, Musizieren und Lärmen auf. Daraus resultierend – sozusagen aus Notwehr – entwickelte er eine kräftige Stimme und erlernte zahlreiche große und möglichst laute Instrumente (Tuba, Kontrabass, Klavier, Cello). Seit 2004 ist er als Solokabarettist unterwegs und erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, u. a. den »Deutschen Kabarettpreis«, die »Tuttlinger Krähe« und den »Gutedel-Kabarettpreis«.

DUIN

Deutsch-tschechischer Geburts- und Taufschein meiner Mutter Valerie Brustmann, geb. Huber, aus dem Jahr 1917

Meine Mutter war die älteste Tochter des Josef Huber und der Maria Denk. Zwei jüngere Schwestern hatte sie und einen älteren Bruder, der Walter hieß und nicht mehr aus dem Krieg heimkam.

Kodau, 30. April 1945, sechs Jahre nach ihrer Heirat, da zerschlugen russische Soldaten die Eingangstür des Bauernhauses meiner Eltern und befahlen meiner Mutter kalt, am nächsten Tag den Bauernhof zu verlassen. Mit ihren drei kleinen Kindern und der alten Schwiegermutter (mein Vater war schon in Kriegsgefangenschaft) wurde sie anderntags in einen überfüllten Viehwaggon gepfercht, mitnehmen durfte man nur, was man mit eigenen Händen tragen konnte, die Kinder waren ein, zwei und vier Jahre alt.

Die schwere Rolltür des Viehwaggons schnappte zu, niemand wusste vom Ziel der Reise. Vor Sibirien hatte man die größte Angst. Als die Tür am nächsten Tag wieder aufgeschoben wurde, strahlte der Himmel blau, in den Bergen hing noch reichlich Schnee, man war in Teisendorf, in Oberbayern, aufgeschlagen. Am Bahndamm ein bizarres Gewirr von Menschen. Die heimatlosen Flüchtlinge mit Kindern und all ihrer kümmerlichen Habe, dazwischen die Einwohner von Teisendorf, Bauern und Handwerker meist, von den amerikanischen Besatzern gezwungen, Flüchtlinge aufzunehmen. Nur meine Mutter mit den drei kleinen Kindern und ihrer schon reichlich alten Schwiegermutter blieb am Ende übrig. Weinend saßen sie auf ihren Armutsbündeln. »Jetzt kummts mit mir«, erbarmte sich der Feldl-Bauer aus Oberteisendorf kurzsilbig der fünf Unglücklichen und nahm sie gottlob in seinen schönen Einödhof auf. Als mein Vater drei Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft dorthin entlassen wurde, lebte man noch sieben weitere Jahre auf diesem Gehöft im ersten Stock eines kleinen Austragshäusels. Zwanzig Quadratmeter Wohnfläche, kein Strom, kein fließend Wasser, Plumpsklo im Freien, das war im Winter schneeverschneit. Unter unserer Kammer im Parterre befanden sich der Brotbackofen und die Waschküche der Bäuerin; im Winter zogen die heißen Dämpfe von unten zu uns nach oben und legten sich als dünne Eisschicht an Innenwände und Fenster, Eisblumen waren noch nicht ausgestorben. Das Einvernehmen aber mit den Bauersleuten war gut und man musste nicht hungern, musste nicht frieren.

Ausweisungsbescheid vom 15. März 1946 / 10 Uhr

Mohnmühle aus dem Fluchtgepäck Südmährens

in den räumen meiner träume
will ich wachen
wachschlafen und wachträumen
will ich mich
mit den eisblumen
in der frühmesse
des wintertages

Mein Geburtshaus, das Austragshäusel des Feldl-Bauern in Unterwiesen / Oberteisendorf in Oberbayern / Deutschland

als achtes von neun kindern bin ich geboren
in schuld scham armut und schönheit
nur darum weiß ich so viel davon

Nach zehn Jahren ärmlichsten Hausens erhielten meine Eltern eine staatliche Flüchtlingsentschädigung, Lastenausgleich genannt, und erstanden ein Reihenhaus in Waldram, einem Ortsteil von Wolfratshausen, südlich von München. Die damit verbundenen Schulden machten meinen Vater für alle Zeit zu einem zähen, eisernen Sparer. Waldram hieß kurz vorher noch Föhrenwald und war nach dem Zweiten Weltkrieg größtes europäisches Auffanglager für Juden gewesen, die den Holocaust überlebt hatten.

Da, wo meine Mutter später in Waldram jahrzehntelang an ihrem Küchentisch bei der Arbeit gestanden hatte, da war eines Tages eine »Duin« im Stragula, eine Delle im Linoleum. Und als meine Mutter dann gestorben und so für immer weg war, war da nur noch diese Duin im Boden, diese kleine Spur ihres fast nur aus Arbeit bestehenden Lebensverflugs. Meine Mutter war eine einfache, fleißige Frau. Durchaus intelligent war sie, aber bei dem fest umrissenen Wirkungsbereich ihres Lebens floss dieses Gescheitsein immer nur in tägliche Haushaltsaufgaben und lebenskluge Kindererziehung, aber was heißt da schon »nur«.

Meine Mutter hat unablässig gearbeitet. Und die Arbeit ging ihr nie aus. Als sie mit vierzehn Jahren auf dem Bauernhof ihres Onkels als Dienstmagd »einstand«, war das wohl eine harte Zeit. Zum ersten Mal weit weg von den Eltern und Geschwistern. Und dann die durchaus harte, schwere, oft überschwere Arbeit auf dem Hof, auf den Äckern. Und wie sie einmal als junges Mädchen regendurchnässt beim Pflügen in einer tiefen Ackerfurche zu Fall kam mit zerrissener Schürze und in dieser Ackerfurche erschöpft liegen blieb und bitterlich weinte, das wusste sie auch später immer und hat es oft erzählt. Zehn Kinder hatte meine Mutter, zwei kleine Kinder starben ihr schon nach wenigen Tagen weg, das letzte Kind, das Zehnte, konnte sie nicht bis zum Ende austragen. Die anderen sieben hat sie sorgen- und liebevoll großgefüttert. Man kann sagen, dass sie für ihre Kinder ihr Leben gegeben hat. Das klingt in der Rückschau übergroß, war aber für sie selbstverständlich und nichts Besonderes, auch weil viele andere Mütter es damals nicht anders machten, und wenn die Stare in unserem Garten unermüdlich und pausenlos im Vogelhaus ein- und aussausen, um ihre Jungvögel zu füttern, denke ich immer an sie. Die Kinder, die häusliche Arbeit und der Garten waren ihr ganzes Leben. Meine Mutter hatte keine Hobbys, keine »Suchten«, wie sie solch sündhaften Zeitvertreib genannt hätte, schon das Wort »Hobby« wäre ihr nicht über die Lippen gegangen. Meine Mutter sang sehr gerne und sehr schön. Natürlich sang sie nur bei der Arbeit, nur keine Zeit vertun.

Als sie nichts mehr arbeiten konnte, war das nicht leicht für sie, trug sie schwer daran. »Wie hab ich gern gearbeitet, so gern gearbeitet, immer so gern gearbeitet«, war eine ihrer wenigen Klagen, die aber durchaus freudiges Sichzurückerinnern an die eigene Kraft und Ausdauer, Geschicklichkeit und hauswirtschaftliche Meisterschaft mit einschlossen. Zum Geburtstag buk sie mir meinen Lieblingskuchen, einen Kakaokuchen, der dunkel und fein duftend in dem noch aus der alten Heimat stammenden »Bratscherben« lag. An Weihnachten strickte sie mir Socken oder Handschuhe, ich habe immer noch welche, sie werden mir bis zu meinem Lebensende nicht ausgehen. Vor allem die gestrickten Handschuhe waren von spezieller Qualität, da sie diese mit Überresten ihrer alten, lachsfarbenen Unterwäsche zu füttern pflegte. Nur nix verkommen lassen, nur nix wegschmeißen, »nur net urassen«, was so viel wie verschwenden hieß und sich wohl vom lateinischen »urgere« ableitete. Als sie sich, schon bettlägerig, in ihren letzten Lebenstagen mit weit umherschweifenden Gedanken zum Sterben anschickte, sagte sie zu mir: »Jetzt lieg ich da so nutzlos herum, dabei wollt ich dir doch noch unbedingt einen Kakaokuchen stricken.«

»Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder«, schrieb Ingeborg Bachmann in einem ihrer letzten Sehnsuchtsgedichte. Aus Böhmen kam auch meine Mutter, wie für Böhmen so reichte es auch für sie nicht bis ans Meer, ohnehin konnte sie nicht schwimmen. Nie war sie im Urlaub, nie in Italien, nie saß sie in einem Flugzeug. Es fiel ihr nicht schwer, und der schöne Gemüse- und Blumengarten hätte eine längere Abwesenheit auch gar nicht zugelassen. Einziges »Ausspannen« von der Arbeit waren der tägliche Kirchgang und die alljährliche Pilgerfahrt nach Altötting. Meine Mutter war immer zufrieden mit ihrem Leben, sicher ab und an auch glücklich, natürlich auch unglücklich, selbstverständlich. Die Liebe zu ihren Kindern versuchte sie möglichst gerecht und gleichmäßig zu verteilen.

Meinen Vater hatte sie kennengelernt, als sie mit sechzehn Jahren das erste Mal zum Kirchweihtanz gehen durfte: ahh  – die böhmische Musik. Allen Männern, die meine Mutter zum Tanz aufforderten, hatte sie vor lauter Scheuund Jungsein einen Korb gegeben. Zum Schluss Damenwahl. Allen Mut nahm sie da zusammen. Sie wählte meinen Vater, den »Kürschnerloisl«, wie dieser nach seinem Hofnamen genannt wurde. Sie waren beide fesch, tanzten schön miteinander, mein Vater brachte sie nach Hause, das Zuhause lag lediglich auf der dem Wirtshaus gegenüberliegenden Straßenseite. Natürlich keine Spur von Kuss oder Zärtlichkeit oder Zutraulichkeit am Hoftor, um Gottes willen. Und doch, schon am nächsten Tage hieß es: »Loisl, wen hast du denn da gestern hoamgweist (heimgebracht)? Aha, die Waltschi«, wie man meine Mutter beim Namen rief, der eigentlich Valerie bedeuten sollte. Dabei blieb es. Den ersten Mann, den sie anfasste in ihrem Leben, hat sie geheiratet. Später neun Kinder, sechsundzwanzig Enkelkinder, siebzehn Urenkelkinder. Was für eine Lebensernte. Mein Vater allerdings blieb für immer ein Einzelkind.

Nur einmal stand meine Mutter in der Zeitung. Es war die Sterbeannonce. Es wäre ihr sicher unangenehm und nicht recht gewesen. Dass meine Mutter mir den Namen ihres Vaters gegeben hatte und ich meiner Tochter später den meiner Mutter, war so blindnah, dass mir diese enge Verknüpfung erst sehr spät...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Berchtesgadener Land • Displaced-Persons-Lager • Josef Brustmann • Judentum • Kabarett • Kabarettist • Kindheit • Krieg • Kriegsgefangenschaft • Musiker • Oberbayern • Schtetlleben • Vertreibung • Waldram
ISBN-10 3-96233-401-7 / 3962334017
ISBN-13 978-3-96233-401-7 / 9783962334017
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