Hesperus oder 45 Hundposttage -  Jean Paul

Hesperus oder 45 Hundposttage (eBook)

Bearbeitet von Bille Imfluss

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
426 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-5557-8 (ISBN)
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Nachdem Jean Paul (1763-1825) 1794 den Roman Hesperus geschrieben hatte, wurde er sofort berühmt. - Freundschaft, Liebe und Tod, Irrungen und Wirrungen sind die zeitüblichen Zutaten zum Handlungsablauf. Seine "Mischung von bürgerlicher Tugendhaftigkeit, Gefühlsseligkeit, scharfer Gesellschaftskritik und revolutionärem Geist trifft so genau den Nerv der Zeit, daß die gebildeten Kreise Deutschlands sich, oder vielmehr ihre Träume von sich, wiedererkennen können." (Günter de Bruyn) - Jean Paul wird Besseres schreiben, doch niemals mehr soviel Beifall bekommen wie für den Hesperus. Schon im Hesperus liebt er es, den Handlungsstrang ein wenig durchzukneten und mit bunten Nebenstoffen spielerisch zu verweben. Wenn er dann zwischendurch das Fremdeln seines Lesepublikums bemerkt, tut er erstaunt und fragt sich: "Aber warum fährt, bellt, schnaubt und schnauzt denn irgendein kritischer Schoßhund mich an, wenn ich statt des eignen Lesens nichts wiederhole als zuweilen eigne Gedanken?" Der Korrespondenz-Hund Spitzius hat Jean Paul höchstens mal ansatzweise angeschnaubt, aber niemals angeschnauzt. Er wollte nur alles verstehen und stellte Fragen, und auch diese behielt er manchmal für sich: z.B. die auf Seite 149 nach dem ,dünnen spitzigen Augenblick'. Doch genaugenommen hat Spitzius Hofmann auf keine seiner Fragen eine Antwort bekommen - ohne sich je beirren zu lassen. Wir sollten es ihm nachtun: auf unsere Fragen keine Antworten erwarten und uns einfach in diesen überschäumenden Sprachfluß hineinplumpsen lassen! Geben wir uns der Sogwirkung hin und nicken wir einvernehmlich, wenn Jean Paul davon spricht, dass er der deutschen Sprache die Zunge gelöst habe. Jean Paul: "Ich schrieb und schrieb, und meine Augen wurden dunkel, weil ich die tiefe Sonne auf dem Rücken und überhaupt weniger Licht als Wasser in den Augen hatte." Und er schrieb: "... und trat in den Garten voll alter Szenen und legte in der bekannten Laube das glühende Haupt und das bekämpfte Herz in den Tau des Morgens zu einer kühlenden Ruhe nieder. O ruhe, ruhe!" Bille Imfluss

HUNDPOSTTAG 2


Beim Tor des ersten Kapitels fragen die Leser die Einpassierenden: „Wie heißen Sie? – Ihren Charakter? – Ihre Geschäfte?“

Der Hund nimmt für alle das Wort. Vom H.Januar – d.h. Herrn Januar, nicht heiligen Januar, sondern der flachsenfingische Fürst hieß so – wurde in den jüngern Jahren die große Tour oder Reise um die schöne und die große Welt gemacht. Er teilte überall an Fremde Geschenke aus, die ihn ein einziges non gratuit seiner Untertanen kostete, und unterstützte und bedauerte viele gedrückte Bauern in Frankreich, die es so schlimm hatten wie seine in Flachsenfingen. Für das wehrlose weibliche Geschlecht tat er, wie alle reisende Fürsten, fast noch mehr: man kann von der größten Zahl derselben sagen, daß sie, wie Titus oder wie ein östlicher Weltumsegler, zwar zuweilen einen Tag verlieren, aber selten eine Nacht, ohne glücklich zu machen und folglich zu – werden.

Der Regent muß überhaupt die jetzige Entvölkerung Frankreichs vorausgesehen haben; denn er setzte sich ihr bei Zeiten entgegen und hinterließ in drei gallischen Seestädten drei Söhne, und auf den sogenannten sieben Inseln nur einen. Der erste hieß der Walliser, der zweite der Brasilier, der dritte der Asturier, der auf den sieben Inseln der Monsieur oder Mosje: wahrscheinlich sollten die Namen auf Prinzen von Wallis, von Brasilien und Asturien hinspielen. Er ließ die Kinder bloß in der Unwissenheit ihres Standes und in keiner schlimmern erziehen: man sollte sie zu künftigen Mitarbeitern seiner Regierung formen. Januar war zwar sinnlich und ein wenig schwach, aber – außer wo er fürchtete – äußerst menschenfreundlich.

Der Lord Horion war dem Fürsten Januar zweimal auf seiner Reise begegnet; das erste Mal durchschnitt er die fürstliche Planetenbahn als Haarkomet, das zweite Mal als sonnennaher Schwanzkomet. Ich will sagen: Horion sah gerade, als er eine Abkömmlingin aus Januars Haus liebte, die in London wohnte, den Fürsten zum zweiten Mal und nahm ihn und den Hofstaat desselben in seinem Hause zu London auf. Über diese sehr weitläufige Verwandte des Fürsten werfen meine Nachrichten – aus zu großer Rücksicht auf Staats- und Familienverhältnise - - einen unzeitigen Schleier. Sie war bei der Vermählung mit dem Lord 22 Jahre alt, und ihr ganzes Wesen war (wenn ich den kühnen Ausdruck eines Londner Lobredners derselben nehmen darf) nichts als ein einziges stilles blaues Auge. Das ist alles, was man dem Publikum zuwendet. – Der Fürst ließ sich gern vom Lord besiegen und beherrschen, den eine sonderbare Mischung von Kälte und Genie zum uneingeschränkten Monarchen und Kommandeur der Seelen machte.

Der Lord hatte noch eine schöne Nichte im Hause, deren Reize in den fürstlichen Augen einen solchen geistigen Alten vom Berge, wie er, sowohl jünger als ebener machten. –

Aber die Totenglocke warf ihre Mißtöne in diese Wohllaute des Lebens. Die Geliebte des Lords flog aus der rauhen Erde und ließ ihr seinen ersten Sohn als Andenken und Herzpfand zurück; sie starb im 23sten Jahr gleichsam am Leben des Kindes, einige Tage nach dessen Geburt, und der zarte dünne Zweig brach unter der reifen Frucht zusammen. Lord Horion schwieg vor dem Geschick. Er hatte sie fürchterlich geliebt, ohne es zu zeigen; er betrauerte sie ebenso, ohne sein tiefes schwarzes Auge zu benetzen.

Der Fürst fand an der Nichte, d.h. an einer wahren Engländerin, darum Geschmack, weil er vorher einen ebenso großen an den Französinnen gefunden hatte; und aus diesem Grunde hätt’ er umgekehrt diese geliebt, hätt’ er vorher jene gekannt. Der nachherige Obrist-Kammerherr Le Baut hatte dieselbe Gesinnung, und was noch mehr ist, gegen dieselbe Person; und wie die indischen Hofleute alle Wunden ihres Herrn nachahmen, so machte Le Baut mit einem Amors-Pfeil die des seinigen nach und versetzte sich eine der stärksten damit.

Diese Londoner Historien können nicht lange mehr dauern, und wir langen dann alle in unserm St.Lüne fröhlich wieder an. –

Ein hitziges Fieber befiel den Regenten, das sein Arzt Doktor Kuhlpepper bloß für Kreuz- und Querzüge einer unsteten Gichtmaterie hielt. Es war mir bisher noch nicht möglich, es auszumitteln, ob dieser Kuhlpepper mit seinem bekannten Namenvetter und medizinischen Mitmeister in London etwan näher verwandt ist. Das Fieber heizte Januarn so sehr ein, und der Beichtvater machte bei dessen Gewissen statt der Löschanstalten so viele Brennanstalten, daß er in der Todesnot einen förmlichen Schwur ableistete, bei keinem Mädchen mehr an Entvölkerung und Revolution zu gedenken. Dieselbe Schwäche, die seinen Aberglauben und Kinderglauben stärkte, diente seiner Sinnlichkeit; als er wieder auf war, wußt’ er gar nicht, was er machen sollte.

Die Nichte und seine Eidleistung waren in seinen Gehirnkammern Wandnachbarn. Ein geschickter Exjesuit aus Irland, der bloß für Gewissenszweifel lebte und selber conscientiam dubiam hatte, sprang dem Zweifler bei und macht’ ihm faßlich: „sein Gelübde müss’ er, zumal vor der Lossprechung davon, gewissenhaft halten, ausgenommen den sündlichen und unmöglichen Punkt, der darin sei, den nämlich, den er ohne Einwilligung seiner Gemahlin weder geloben dürfte, noch erfüllen könnte.“ Mit andern Worten, der Jesuit verhielt ihm nicht, er habe im Fieber nur dem unverheirateten Geschlechte abgeschworen und sein Zölibat lediglich auf Nonnen eingeschränkt, mithin verbiet’ ihm sein Gelübde zwar nicht den doppelten Ehebruch (den hebe der Beichtstuhl), aber äußerst streng den einfachen. Januar war zu fromm, um sich nicht des einfachen gänzlich zu enthalten.

Es ist schwer, die Verbindung zu untersuchen, in welcher seine jetzo größere Liebe gegen seine vier Groß- oder Kleinfürsten in Gallien mit seinem erfüllten Gelübde stand; kurz, er gab dem Lord das Geschäft und die Vollmacht, die vier Menschen aus Gallien abzuholen nach London, weil er seine geliebte anonyme kleine Nachwelt mit nach Deutschland nehmen wollte. Es war ungewiß, liebt’ er in den Müttern die Kinder so herzlich – oder in den Kindern die Mütter.

Der Lord ging nach dem Untergange der Geliebten nach Frankreich. Endlich kam, nicht von ihm, sondern von den Hofmeistern des Wallisers, des Brasiliers, des Asturiers, die trübe Nachricht, daß in einer Nacht, wahrscheinlich nach einem gemeinschaftlichen Plane verbundner Prinzenräuber, die drei Kinder entführt worden – nicht lange darauf wurde vom Lord diese Trauerpost nicht nur bestätigt, sondern auch mit der neuen vergrößert, daß der Monsieur oder Mosje auf den sieben Inseln nicht mehr – auf ihnen sei.

Das Schicksal gibt dem Menschen oft den Wundbalsam früher als die Wunde: Januar erhielt den fünften Sohn, den ich allezeit bloß den Infanten nennen will, noch eher als die Nachricht seines eingebüßten Kindersegens. Der Obrist-Kammerherr von Le Baut hatte sich mit der Mutter des Infanten (der Nichte des Lords) vermählt; aber er datierte seine Vermählung um drei Quatember zurück, anstatt sie um einen später anzusagen. Ich habe nie den Zusammenhang dieses Anachronismus (Zeitverrechnung) mit dem fürstlichen Gelübde einzusehen vermocht. Übrigens so gefährlich Jenner den Eheherren seines Hofes durch sein Votum wurde, und so unschädlich den Vätern: so war doch das tugendhafte Vertrauen, das die Eheherren auf die ihnen ankopulierte weibliche Tugend setzten, so unbegrenzt, daß sie ohne Anstand diese Tugend in sein entbundnes Feuer führten. Ja sie setzten sich sogar über den Verdacht hinweg, daß sie es etwan täten, damit sie, wenn er seine Krone auf den Putztisch ihrer Gemahlinnen ablegte, mit der blanken Mauer-Krone (corona muralis) wie mit einem Joujou spielen und mit ihrem Glanze Leuten in die Fenster blenden könnten; denn lieber will ein Hofmann seine Gemahlin bewähren als bewahren.

Es wird gleich angehen, rufen die Puppenspieler; es wird gleich auswerden, ruf’ ich.

Als endlich der Lord mit leeren Händen ankam, war er sehr betroffen – nicht von der Gegenwart des Infanten, sondern – von der Adoption desselben, nämlich von der Vermählung Le Bauts. Aber dieser Obrist-Kammerherr war – und das bedachte niemand weniger als Horion – ein feuriger Freund des Fürsten: das machte ihn fähig, für diesen sogar das zu begehen, was er nie für sich begangen hätte – etwas wider die Ehre. Es ist überhaupt für einen Hof- und Weltmann, dessen Ehre der hohe Posten oft der schlimmsten Witterung bloßstellt, ein ungemeines Glück, daß diese Ehre, sei sie auch noch so empfindlich bei kleinen Stößen, doch große leicht verwindet, und wenn nicht mit Worten, doch mit Taten ohne Nachteil anzutasten ist [...] Der Fürst wurde durch einen dreifachen Bast an Le Baut geknüpft, durch Dankbarkeit, durch Sohn und Frau: der Lord zausete den Bast auseinander. Er entblößete nämlich vor seiner Nichte das kammerherrliche...

Erscheint lt. Verlag 6.11.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7583-5557-5 / 3758355575
ISBN-13 978-3-7583-5557-8 / 9783758355578
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