Im Dunkeln verwechseln wir uns alle -  Till Ipsum

Im Dunkeln verwechseln wir uns alle (eBook)

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(Autor)

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2023 | 1. Auflage
245 Seiten
neobooks Self-Publishing (Verlag)
978-3-7565-6651-8 (ISBN)
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Dass wir Leute miteinander verwechseln, wenn die optischen Bedingungen widrig sind, geht schon klar. Aber es gibt auch eine Dunkelheit, in der ein Mensch sich selbst verwechselt. In diesen Geschichten geht es um Liebe, Lust, Hölle und chronisch unzuverlässige Selbstwahrnehmungen. Eine Kinderbuchfigur hält sich für einen Menschen (oder umgekehrt). Tote verwechseln sich mit Lebenden, Engel und Dämonen ihre Rollen. Ein Retter ist vielleicht nur ein Zerstörer.

Bevor er mit dem überbordenden Romanwerk DIE NACHT IM ADAM als freier Schriftsteller reüssierte, arbeitete Till Ipsum als Bauwerker, Sozialbetreuer, Lagerarbeiter und Werbetexter. Zwischenzeitlich war er Langzeitstudent. Am liebsten hält er sich in fahrenden Zügen auf, aber für Wohnungstipps ist er immer dankbar.

Bevor er mit dem überbordenden Romanwerk DIE NACHT IM ADAM als freier Schriftsteller reüssierte, arbeitete Till Ipsum als Bauwerker, Sozialbetreuer, Lagerarbeiter und Werbetexter. Zwischenzeitlich war er Langzeitstudent. Am liebsten hält er sich in fahrenden Zügen auf, aber für Wohnungstipps ist er immer dankbar.

Wuschel



Einige Wochen lang verhielt sich die Welt planmäßig. Das war toll. Robert fühlte sich in dieser Zeit vom Universum begehrt.

Wenn ein Zustand absolut zu empfehlen ist, dann der, ein Geliebter des Kosmos zu sein.

Wenn er sich am Abend einen dünnen Pulli rauslegte, so wurde der nächste Tag warm, sonnig und trocken. Bekam er Hunger auf Eis, war die nächste Eisdiele garantiert gleich um die Ecke. Überlegte er, es könnte vielleicht Spaß machen, einen nächtlichen Exzess zu starten, dann rief noch am selben Tag in den frühen Abendstunden unweigerlich sein bester Freund Johannes an. Und sollte sein sexueller Appetit die kritischen Grenzen überschreiten, innerhalb derer er sich noch selbst genügte, dann spürte Philipp, ein guter Freund plus, plötzlich einen intensiven Impuls, sich in seine Nähe zu begeben und die Nacht mit ihm zu verbringen.

Alle Ampeln, denen er sich näherte, sprangen auf Grün um. Das war manchmal schon abenteuerlich unwahrscheinlich. Die wenigen Male, die er an einer roten Ampel stand, hatte er zudem das sichere Gefühl, ganz gezielt gebremst worden zu sein, damit ihm nichts Schlimmes zustoßen würde, eine Kollision mit einem Auto etwa, einem TT, in dem ein wegen des Verlusts seines Jobs mittelschwer suizidal aufgelegter Investmentbanker kurz darauf um die Ecke bretterte, das Augen-auf-Augen-zu-Spiel seiner beruflichen Konventionen auch auf den Straßenverkehr übertragend.

Oder es ging darum, ihn zu stoppen, weil etwas sehr Tolles ihm begegnen sollte, was sonst unwiederbringlich in den Schluchten der Stadt und der Zeit verloren wäre.

So begegnete Robert Pauline.

Und verlor sie, als die Zeit der kosmischen Harmonie wieder ihrem Ende entgegenging und die Welt ihre Widerborstigkeit, Tücke, Massenschwere oder wahlweise Teilnahmslosigkeit nach vorne fuhr. Dann erst begriff Robert, wie großartig die vorangegangenen Wochen gewesen waren und wie grausam das Leben einen doch langweilen konnte, wenn man gerade nicht der Liebling der Götter war und, wer konnte das wissen, dieses Glück vielleicht niemals wieder erleben würde.

Alter, in Wind und Sonne verblichener Kot in einem Winkel des Trottoir, in den sich nie ein Fuß verirren würde, geschweige denn Schöneres, eine Hand oder Lippen. Aus dem Arsch und für den Arsch. Belanglos wie die Fußnote einer Arbeit zur Erforschung der literarischen Bearbeitungen der Biographie Peters des Wirren (1809 – 1894). Ein graues Stück Regenhimmel, gespiegelt in einer Pisspfütze am Morgen nach einer Partynacht im Industrierevier.

 

Pauline.

Als die Ampel auf Rot umsprang, beobachtete Robert, wie ein kleines Straßenkätzchen, abgemagert und schmutzig, auf die Fahrbahn tapste, ohne mit den verklebten Augen auf den heranbrausenden TT zu achten. Voll blöde das kleine Viech, total stumpf. Robert sah das Unheil kommen, genau wie Pauline, die im dritten Stock aus dem Fenster blickte, dieweil sie eine Streichholzschachtel zurück ins Regal stellte. Sie beide sahen das traurige kleine Kätzchen, das gerade noch so am Leben war, unter den brutalen Breitreifen des TT zu Blut- und Knochenmatsch werden. Und das wäre noch die schnellere, gnädigere Variante des bösen Unfallschicksals, der hässliche, aber gutmütige Bruder der Barbarei.

Beide, Pauline und Robert, wollten das verhindern. Nur einer von ihnen hatte die Chance. Es gab ein Quieken und Quietschen, die Fahrertür des TT wurde aufgerissen, ein Strom echt unflätiger Worte ergoss sich über Robert, der mit frisch zerkratzten Händen und einem von seinen Unterarmen mit ausgefahrenen Krallen sich abstoßenden Fellsack im Griff so perplex war, dass er vollkommen vergaß, das Tier wieder laufen zu lassen.

Stattdessen trat er einige Schritte auf den Mann zu, der sich aus dem TT zwängte, beeindruckend groß war und einen teuren deutschen Anzug trug, das blütenweiße Hemd legere geöffnet über der breiten, haarigen Brust.

Robert bemühte sich, sachlich zu bleiben, wies auf das Kätzchen, das sich jetzt mit spitzen Zähnen in seinem Zeigefinger verbiss, und beschrieb die psychische Notlage, in die er sich durch die bloße Möglichkeit, ein Leben retten zu können, gebracht gesehen hatte.

Viel mehr als „Fotzenidiot“ wollte oder konnte der gewaltige TT-Mann verbal zum Fall nicht weiter beitragen, und sicher wäre die Sache ungut eskaliert, wenn es nicht in diesem Augenblick grauenhaft gescheppert hätte. Ein rostig-roter Polo, an dessen Steuer ein übernächtigter, nicht unverdrogt wirkender Frühzwanziger mehr kauerte als saß, penetrierte den TT mit brutaler Heftigkeit rektal. Der Schreck war groß, aber noch immer hielt Robert das Kätzchen, das sich zu beruhigen schien, ganz fest.

Pauline hatte längst das Fenster aufgerissen, stand da in einem unheimlich schönen, smaragdgrünen Brokatkleid, nicht teuer, aber mit sicherem Geschmack der neuen Westwood-Kollektion von H&M entnommen, und sie herrschte ihrerseits den TT-Mann an, er sei nichts als ein herzloser Wichser und solle umgehend mit seiner hässlichen Onanistenkarre gegen den nächsten Baum fahren.

Der TT-Mann hatte dafür nur gerade überhaupt kein Ohr, weil er damit befasst war, den irgendwie zu stoischen Frühzwanziger, einen Studenten der Ernährungswissenschaft, aus der Fahrgastzelle des Polos zu zerren, was daran scheiterte, dass einerseits der Fensterspalt, durch den sehr unfreundlich kommuniziert wurde, zu schmal war, als dass der TT-Mann seine rüsseldicken Finger hindurchzwängen konnte, andererseits die Tür bei aller Hinfälligkeit des Volksschrottwagens doch nicht so einfach aus der Verankerung zu reißen oder zu treten war. Aber natürlich musste es versucht werden.

An dieser Stelle sollte erwähnt werden: Es war ein früher Sonntagmorgen im April, mild, denn der Frühling war schon voll im Gange und schwere Blütendüfte hingen in der Luft, selbst hier, in dieser von Vegetation relativ bereinigten Industrieidylle. Eine angenehme Feuchtigkeit, herrührend von einem nächtlichen Regen, weckte Erwartungen unbestimmter Art.

Robert kam aus dem Club, hatte gezappelt zu manischem Deep House, getrunken und auch eine kleine Phiole Tetra konsumiert. Das Gemisch in seinem Blut erzeugte Schlafschwere, aber auch Wachtraumbereitschaft.

Pauline hingegen hatte in ihrem schönen Kleid die Nacht alleine verbracht, weil ihre Verabredung, ein lausiger Wichsknochen aus ziemlich wohlhabender Tiermörderfamilie industrieller Ausprägung, ganz kurzfristig und mit kränkenden Worten ihre Beziehung beendet hatte, worauf sie zunächst Bäche weinte und dann mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wusste, als Kerzen anzuzünden und wieder auszublasen. Jetzt wollte sie ins Bett.

„Geht es ihm gut?“, rief sie zu Robert hinunter.

Er blickte das Kätzchen an, registrierte es genau genommen erst jetzt als lebendige Entität in seinen Händen. Es war ganz ruhig geworden, vielleicht in Angststarre.

„Ich glaube, ja.“ Blut lief an seinem linken Unterarm hinab.

„Hat es ein Halsband?“

„Äh, nein.“

„Ist es gechippt?“

„Ich weiß nicht. Woran erkennt man das?“ Intuitiv nahm er die kleinen Ohren in Augenschein. Eins war ausgefranst und schorfig. Die Katzenwelt war nicht freundlicher als die der Menschen.

Der Student drohte dem testosterongesättigten TT-Mann, die Polizei zu rufen, falls der nicht aufhöre, auf seinen Polo einzutreten. Der TT-Mann lachte hysterisch und trat in den Scheinwerfer. Er war der Meinung, der Student wüsste genau, was passieren würde, sollte die Polizei kommen. Scheinwerfersplitter sausten durch die Luft.

„Alle voll auf Drogen“, murmelte Robert, während er das Nackenfell des Kätzchens inspizierte. Es war rührend weich. Das ganze Tier war so erbarmungswürdig verletzlich.

„Das ist bestimmt eine Straßenkatze“, rief Pauline. „Die vegetieren zu Hunderten beim alten Krankenhaus.“

„Oh. Soll ich sie wieder laufen lassen oder müssen wir sie ins Tierheim bringen?“

Das wir klang nach dieser Nacht atomischer Vereinzelung seltsam in Paulines Ohren. „Du kannst sie ja erstmal zu mir hochbringen.“

Ein runtergekommenes Treppenhaus. Der Putz bröselte. Eine Wand hatte ein tiefes Loch, aus dem Glaswolle quoll; sah aus, als würde die Wand spucken.

Paulines Zimmer hingegen war sehr schön. Eine alte Chaiselongue, ein überquellendes Bücherregal, viele buschige Pflanzen. Noch schöner fand Robert aber Pauline selbst. Die langen, blassen Arme, die sich aus den kurzen Ärmeln des smaragdgrünen Kleides irgendwie herausträumten, berührten ihn an einem bislang unbekannten ästhetischen Punkt. Er kam sich vor wie bei der Betrachtung eines Gemäldes, nur dass er sich niemals in ein Gemälde ernsthaft hätte verlieben können.

Hätte er die Geschichte von Paulines Lover gekannt, wäre er vom Glauben an die Macht der Schönheit abgefallen. Wieso Pauline sich überhaupt mit einem Fick-Trophäen jagenden Berufssohn und BWL-Spacko in Barbourjacke eingelassen hatte, war durch dessen Familienreichtum eventuell grade noch so zu erklären, auch wenn das wenig schmeichelhaft für Paulines Charakter wäre. Dass sie um den moralfreien Tierquäler aber sogar bittere Tränen vergossen hatte, Mann, wie absurd, zu unwirklich, um es an irgendeine innere Struktur von Wirklichkeit anzudocken und erinnerbar werden zu lassen. Er hätte es sofort wieder vergessen.

Hat er es vergessen? Hat sie ihm an diesem Morgen davon erzählt? Er war sehr müde.

Pauline beugte sich über das Kätzchen. „Aww.“

„Das Kätzchen ist okay, nur ich habe was abgekriegt“, sagte Robert und ließ das Tier von seinen zerschundenen Armen in Paulines gleiten. Dort fühlte...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Hölle • Identität • Liebe • Lust
ISBN-10 3-7565-6651-X / 375656651X
ISBN-13 978-3-7565-6651-8 / 9783756566518
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