Bitternis (eBook)

Roman | Ein Epos über starke, zornige Frauen | Eine deutsch-polnische Familiengeschichte, von 1938 bis heute

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
829 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77734-3 (ISBN)

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Bitternis -  Joanna Bator
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Kalina Serce, jüngster Spross einer Frauendynastie, Erforscherin einer düsteren Familiengeschichte, betritt eine Villa, die lange Zeit unbewohnt war. Sie tastet nach dem Ebonit-Schalter aus der Vorkriegszeit, um Licht zu machen - eine Ankunft im Unvertrauten.

Mit diesem Haus, der früheren Pension Glück im schlesischen Langwaltersdorf, hat es seine eigene Bewandtnis. Hier traf sich Kalinas Urgroßmutter Berta mit ihrem Geliebten. Berta träumt von einer Flucht mit ihm nach Prag, die der Vater verhindert. Der Hass auf ihn wird so groß, dass sie zu einer ungeheuren Tat schreitet.

Joanna Bators neuer Roman erzählt von weiblichen Lebensentwürfen. Und wie sie scheitern. Im drängenden, sarkastischen, an Elfriede Jelinek erinnernden Ton entfaltet sich das Drama der zornigen Frauen, die ihr Geheimnis durch die Generationen weitergegeben haben. Krieg, Gewalt und privates Unglück haben die Angst und Bitternis hervorgebracht, aus deren Bannkreis erst die Jüngste, Kalina, heraustritt, indem sie davon erzählt. Mit Macht fordert sie das Glück ein, das den Frauen ihrer Familie versagt war.



<p>Joanna Bator, 1968 geboren, publizierte in wichtigen polnischen Zeitungen und Zeitschriften und forschte mehrere Jahre lang in Japan. Die deutsche Übersetzung ihres Romans <em>Sandberg</em> durch Esther Kinsky war ein literarisches Ereignis. Seither gilt Joanna Bator als eine der wichtigsten neuen Stimmen der europäischen Literatur. Für <em>Dunkel, fast Nacht</em> (2012) wurde sie mit dem NIKE, dem wichtigsten Literaturpreis Polens, ausgezeichnet. Joanna Bator ist Hochschuldozentin und lebt in Japan und Polen.</p>

Ich


Letzten Herbst habe ich mir in einem niederschlesischen Dorf ein hundert Jahre altes Haus gekauft. Zu dem Haus gehört auch ein Hund; sein Kopf sieht nach Wolf aus, sein Körper wie ein angestaubter Eisbär. Ein Ohr schwarz, das andere weiß, beide spitz und wachsam. Außer dem Hund haben die Vorbesitzer mir ein paar Sachen hinterlassen, eine Küchenkredenz, ein Himmelbett mit Säulen und einen Eichentisch; in die Platte sind unzählige Schnitte eingegraben – Schriftzeichen, die ich jeden Tag aufs Neue zu entziffern versuche.

Zu deutschen Zeiten hieß der Ort Görbersdorf und rühmte sich des weltweit ersten Sanatoriums für Tuberkulosekranke, die ein Doktor Hermann Brehmer und seine Nachfolger mit Hilfe des zuträglichen Klimas und einer entsprechenden Kost kurierten. Heute trägt der Ort den Namen Sokołowsko, zu Ehren eines polnischen Pulmologen, der einige Jahre Doktor Brehmers liebster, aber auch äußerst kritischer Assistent war; er beharrte darauf, dass kalte Güsse und weite Spaziergänge bei fortgeschrittener Schwindsucht nicht das Mittel der Wahl sind. Diesen Ort, an dem ich bleiben möchte, kann man leicht übersehen, so klein ist er; von oben erinnert er an eine schmale, mit Wald überwuchernde Narbe. Das alte Sanatorium ist nur noch eine Ruine, die meisten kleineren Erholungszentren und Pensionen sind seit Jahren geschlossen, und die Altbauten aus der Vorkriegszeit stehen leer, sie verfallen. Es ist der kleinste Ort, in dem ich je gewohnt habe. Zum Ausgleich ist dieser riesige Hund in mein Leben getreten; sein Zottelfell ist so dicht, dass ich es nur mit einem Pferdestriegel entwirren kann. Unter dem Fell ist seine Haut rosa, von Narben gezeichnet, zart wie bei einem Kind. Die ausgekämmte Unterwolle verströmt einen warmen Duft, der mich an Ahornsirup und Torf erinnert, und sie ist so weich, dass man Garn daraus spinnen könnte. Der Hund war an meinem dritten Tag hier aufgetaucht und hatte sich in der kühlen Stunde kurz vor Morgengrauen einfach neben der Hundehütte niedergelassen, würdevoll, erhaben und unwirklich. Sein Atem dampfte, und als ich die Haustür öffnete, blickte er mich unverwandt an.

Im Dorfladen sagte man mir, er sei der Gefährte Bazyl Ochęduszkos gewesen, eines Hellsehers und Heilers, der das Haus einem Wrocławer Geschäftsmann verkauft hatte, aus Unglück und Verzweiflung; danach verlor sich seine Spur in dem dichten Nebel, der über dem Talkessel hing. Angeblich lebt er nicht mehr, er soll ertrunken sein, doch seine Leiche wurde nie gefunden. Der neue Hausbesitzer hatte den Hund irgendwo ausgesetzt, weit weg, sogar zweimal, doch das Tier war zurückgekommen und hatte knurrend das Haus umrundet. Schließlich hatte der Städter ihm gestattet zu bleiben, wohl eher aus Angst als aus Sympathie. Er hielt ihn an einer Kette bei der Hundehütte, die er vom Dorfschreiner zusammenzimmern ließ. Der Mann, jener Städter, von dem ich das Haus gekauft habe, wurde abfällig »der Dingens« genannt, weil allen gleich klar war, dass er trotz der gezimmerten Hütte und der guten Miene zum bösen Hund mehr nicht verdiente. Orte wie Sokołowsko sind gnadenlos und unberechenbar – von einer unergründlichen Logik geleitet, nehmen sie Neuankömmlinge entweder königlich auf oder spucken sie aus wie Obstkerne. Jedenfalls war der Hund einige Monate später spurlos verschwunden, und der Dingens ging suchend durchs Dorf und fragte herum, wer ihn von der Kette gelassen haben könnte, denn diese war, wie er behauptete, durchtrennt worden. Er beklagte sich über wiederkehrende Strom- und Wasserausfälle, die umso ärgerlicher waren, als Strom und Wasser jeweils kurz vor Erscheinen des Kundendienstes wieder zu fließen begannen, um direkt nach der Visite erneut zu versiegen. Schließlich bot er das Haus zum Verkauf an. Der Hund blieb mehrere Monate verschwunden und kehrte erst zurück, nachdem der Dingens ausgezogen war.

Vielleicht hatte der Hund mich schon von ferne beobachtet und überlegt, ob man mir vertrauen könne, ja, vielleicht hatte er sogar gesehen, wie ich zum ersten Mal Licht in der Küche machte und die Tischplatte berührte. An diesem Tisch hatte Bazyl Ochęduszko mit Wasser aus seiner Quelle geheilt, Geister herbeigerufen, meiner Großmutter Barbara und Tausenden anderen die Zukunft geweissagt und auch die Vergangenheit, was eine mindestens so hohe Kunst ist. Für jeden fand er die richtige Sprache und dadurch den Zugang zu ihren Herzen. Für die Rationalisten gab es Quantenenergie, für Marienverehrerinnen die Tränen der Muttergottes, für aufgeklärte Katholiken den Hauch des Heiligen Geistes und für die Anhänger leichtverdaulicher Esoterik New Age und Paulo Coelho. Bazyl Ochęduszkos Therapien halfen bedauerlicherweise nur bei wenigen Auserwählten – ein Heiler, dem die Heilung nur bei jedem zehnten Krebspatienten gelingt, und ein Hellseher, der nur jede fünfte lebendige oder tote Person auffindet, ist wenig vertrauenerweckend. Geister aber erschienen immer in seinen spiritistischen Séancen, zumindest darin waren sich alle einig.

Die Dorfbewohner erinnerten sich an Bazyl Ochęduszko, doch keiner kannte den Namen des Hundes, als hätte das Tier vor meiner Ankunft sämtliche ihm vom Menschen verliehenen Benennungen abgestreift. Beim Einzug in eine neue Welt, wie sie das Dorf für mich war, lässt es sich kaum überleben, ohne die Umgebung wenigstens vorläufig zu benennen und sie damit zu einer Vertrauten zu machen. Ich ordnete die Namen ihren mutmaßlichen Designaten zu, so wie man einem fremden Tier eine Schüssel Futter vorsetzt – frisst es, ist alles gut, frisst es nicht, wartet man ab und versucht es mit etwas anderem. Bruno war der erste Name, der mir in den Sinn kam, als der Hund und ich uns im grauen Morgendämmer ansahen. Ringsum roch es nach Wald, nach Erde und nach verbrannter Kohle, deren Partikel mir im Hals kratzten, und mich ergriff eine Traurigkeit, gegen die es kein Mittel gibt. In einer plötzlichen Aufwallung dachte ich, das Tier sei vielleicht ein Geschenk, das Bazyl Ochęduszko mir zum Trost geschickt hatte. Ich weiß nicht, was der Hund dachte – ich zumindest fühlte mich beschenkt. Ein seltenes und schönes Gefühl, das ich ihm gern ebenfalls bereitet hätte.

Komm, Bruno, wir gehen auf ein Bier. Gewiss erwartet man uns schon, pflegte meine Mutter Violetta mit V und Doppel-t einen Dichter zu rezitieren, den heute kaum noch jemand liest. Als sie jung war, sang man seine traurigen Texte, die sich auflehnten gegen die Schlechtigkeit der Welt und zugleich enthusiastisch von verschlungenen Pfaden und weiten Heiden sprachen, auf denen man wandeln konnte, um all das andere zu vergessen. Meine Mutter Violetta las und summte Edward Stachuras Texte vor sich hin, und ich glaube, sie liebte ihn auf ihre Art, bevor sie mit der Fähigkeit zu lieben auch den Glauben verlor, dass sie ihren eigenen verschlungenen Pfad finden würde. Wir sterben nicht so bald, wie der Tod es wünschen mag! Wir finden uns noch im Menschendschungel, zitierte sie, von aufkeimender Hoffnung beflügelt. Es ist zu spät, nein, noch ist es nicht zu spät! Sie zögerte, um schließlich doch zu handeln und eine neue Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, die sich dann als ebensolcher Reinfall entpuppen sollte wie ich, ihre Tochter. Mein Gott, du bohrst in mich all deine Messer!, rief sie nach jedem Misserfolg, um dann nach einer Trauerphase ein neues Drehbuch zu entwerfen, das sie auf demselben Weg in die nächste Niederlage führen sollte. Mein Gott, du bohrst in mich all deine Messer! – das war ihr Lieblingszitat, als sie nach sechs Jahren Abwesenheit wieder in mein Leben trat; sie erinnerte fast an den heiligen Sebastian oder an die Mater dolorosa, so viele Klingen steckten in ihr.

Sobald ein Spiegel in der Nähe war, ein Augenpaar, eine Pfütze, überprüfte sie den Sitz der Messerspitzen, rückte hier eine Klinge ins rechte Licht, schob dort ein Messer tiefer in die Wunde. Violetta mit V und Doppel-t hatte für jede Gelegenheit ein passendes Zitat – nur für mich, sagte sie, fehlten ihr die Worte. Ich bin eine Tochter, zu der sich nur schwer etwas Passendes finden lässt, sowohl in der polnischen als auch in der internationalen Literatur, allerdings las Violetta Serce am liebsten Schundromane und schwelgte gern in Träumen, sie selbst könnte eines Tages die Heldin eines solchen Romans sein. Wir teilten die Faszination für Ufos – Violetta war tief beeindruckt von einem Artikel über eine Frau aus Ohio, die in einer fliegenden Untertasse gefangen ...

Erscheint lt. Verlag 29.10.2023
Übersetzer Lisa Palmes
Sprache deutsch
Original-Titel Gorzko, gorzko
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Eichendorff-Literaturpreis 2022 • Fleischkonserve • Flucht • Frauen • frauengenerationen • Gefängnis • Generationenroman • Gorzko gorzko deutsch • Häusliche Gewalt • Liebesbeziehung • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur 2024 • Osteuropa • Prag • Preis der Leipziger Buchmesse 2024 • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2022 • Schlesien • Schwangerschaft • Widerstand • Woiwodschaft Niederschlesien
ISBN-10 3-518-77734-3 / 3518777343
ISBN-13 978-3-518-77734-3 / 9783518777343
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