Der Große Gopnik (eBook)
614 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0936-8 (ISBN)
Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen und in 27 Sprachen übersetzten Roman Die Moskauer Schönheit. 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Literaturanthologie Metropol mit von der Zensur verbotenen Texten verschiedener Autoren aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab er diesen von ihm als »Röntgenapparat, der die ganze Gesellschaft durchleuchtete« bezeichneten Almanach in einer Reihe neu heraus. Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe. Er schreibt regelmäßig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ und DIE WELT und gilt als kritischer Intellektueller wie auch als einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren.
Viktor Jerofejew, 1947 in Moskau geboren, wurde weltweit bekannt durch seinen 1989 erschienenen und in 27 Sprachen übersetzten Roman Die Moskauer Schönheit. 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung an der Literaturanthologie Metropol mit von der Zensur verbotenen Texten verschiedener Autoren aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab er diesen von ihm als »Röntgenapparat, der die ganze Gesellschaft durchleuchtete« bezeichneten Almanach in einer Reihe neu heraus. Zudem ist er Herausgeber der ersten russischen Nabokov-Ausgabe. Er schreibt regelmäßig für die New York Times Book Review, DIE ZEIT, die FAZ und DIE WELT und gilt als kritischer Intellektueller wie auch als einer der bekanntesten russischen Gegenwartsautoren. Beate Rausch, 1955 geboren, studierte Slawistik und Germanistik in West-Berlin und Leningrad, arbeitete viele Jahre an Universitäten in Moskau und St. Petersburg. Heute lebt sie in Ulm, St. Petersburg und Triest. Sie übersetzt russische Literatur ins Deutsche, u.a. Viktor Jerofejew, Anton Tschechow, Daniil Charms.
2
Der Duft von Buchsbaum
»Majestät!«
Die Nachfahren aristokratischer russischer Familien, die Grafen und Fürsten Scheremetjew, Schachowskoi, Trubezkoi und andere, die eingeladen waren zur Pariser Konferenz anlässlich der Hundertjahrfeier der Oktoberrevolution, sprachen das Wort »Majestät!« mit derart klangvoller Stimme aus, dass es schien, Seine Majestät trinke im Nebenzimmer starken Tee mit einem Zitronenscheibchen und der Teelöffel klimpere am silbernen Teeglashalter. Allein, dann erhöre er den Ruf, betrete in Stiefeln den Saal, erklimme die Rednertribüne und erkläre das Vergangene zu nicht Vergangenem.
Letzten Endes, so verkündeten die Nachfahren aristokratischer Familien, stattlichen Gänsen mit weiten Schwingen gleich, sei Russland das Opfer eines Kindsmords geworden. Hernach wechselten sie über in die ihnen eher wesenseigene französische Sprache und fügten hinzu, dass in Russland infolge der Revolutionen von 1917 bis 1953 hundert Millionen Einwohner ums Leben gekommen seien, was im Übrigen schon Fjodor Michailowitsch in den Dämonen prophezeit habe.
Abseits der Konferenz teilten sich die Grafen und Fürsten in zwei Gruppen. Die eine gab obszöne Wörter mit der gleichen trötenden Elefantenstimme von sich wie das Wort »Majestät«, die andere, die Ultra-Patrioten, welche unermüdlich gegen die weltweite Russophobie ankämpften, priesen die Weisheit des neuen Sultans.
»Was hat hier ein Sultan verloren!«, empörten sich die, die gern unanständig fluchten. »Er ist der erste Volkspräsident in der gesamten Geschichte Russlands.«
»Nicht zufällig wird er im Volk der Große Gopnik genannt!«, stimmten die ultrapatriotischen beschwingten Gänse ehrfürchtig ein. »Er spiegelt sich im Volk wider, und das Volk spiegelt sich wider in ihm.«
»Aber Gopnik, das klingt nicht gerade positiv, das ist der Proll aus dem Hinterhof«, meldete ich meine Zweifel an.
»Na, hören Sie mal! Die Gopniks – das ist der neue russische Hofadel.«
»Hat beides mit Hof zu tun«, ließ ich nicht locker. »So tief sind wir gesunken.«
»Nestbeschmutzer!«, regten sich die Adligen auf.
»Der Große Gopnik hat uns allen russische Pässe ausgestellt«, riefen die fluchenden Fürsten von Herzen dankbar aus.
»Das Volk selbst will in einer mystischen Eingebung der kollektive Große Gopnik sein«, fügten die Ultra-Patrioten hinzu.
Und einmütig alle zusammen: »Ein Großer Gopnik, ein Land, ein Sieg! Es lebe Russland!«
Dank der Konferenz hatte ich Gelegenheit, mich in der Pariser Rue de Grenelle einzuquartieren, in eben jenem Herrenhaus, in dem ich einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte. Damals war die Botschaft, heute die Residenz des russischen Botschafters, für mich das vertraute Nest. Meine verstorbenen Eltern schienen wie eh und je die Gartenwege entlangzuspazieren oder an dem alten Springbrunnen mit den Goldfischen darin zu sitzen, umgeben von grauem Kies wie umzuckert. Dank der langen Freundschaft mit dem Botschafter kehrte ich in meine Kindheit zurück, ich logierte im rechten Flügel des Herrenhauses, wo ich auch seinerzeit gewohnt hatte. Bevor ich Quartier nahm, führte mich der Botschafter in die Garage der Residenz und deutete auf den asphaltierten, ölfleckigen Boden.
»Weißt du, wie viele Leichen hier vergraben sind?«
Als ich klein war, hatte ich mit den anderen Botschaftskindern hier Verstecken gespielt.
»Wir wissen es selbst nicht. Tschekisten brachten in den 1920er- und 1930er-Jahren weißgardistische Leutnants und Generäle hierher, die sie auf den Pariser Straßen einkassiert und mit Chloroform betäubt hatten, schleiften sie aus den Autos, liquidierten und vergruben sie.«
Er wurde finster und begann plötzlich hysterisch zu lachen. Dann hakte er mich unter und führte mich über den Hof zur Einfahrt. Ich betrat die mir großzügig zur Verfügung gestellte Wohnung, in der Nikita Chruschtschow während seiner Parisbesuche immer wohnte, ging zu dem hohen französischen Fenster, öffnete es – das Wetter in diesem Pariser Herbst war sommerlich –, und in die Nase stieg mir der Duft, der mich schon mein ganzes Leben verfolgt.
Ein Duft, beinahe so penetrant wie das Wort »Majestät« – Seine Majestät, die den Duft des Buchsbaums in der Sommerresidenz Liwadija gerochen hat. Und ich begriff, irgendwie mit weichen Knien, dass dieser Duft, den ich überall intensiv wahrgenommen habe, von Japan bis Amerika, von Polen bis Spanien, und den ich in Moskau so sehr vermisste, mich aus dem russischen Schmuddelwetter, dem niedrigen Himmel der Oktoberrevolution, diktiert von klimatischer Schwermut, herausgerissen hatte wie eine Seite aus einem Schulheft.
Mit den Platanen und Kastanien an den Uferpromenaden der Seine und im Jardin du Luxembourg, trug mich der Buchsbaum, der für Uneingeweihte nach Katze riecht, genauer gesagt nach Katzenpisse, in eine andere Welt, in der die Revolution eine Magenverstimmung zu sein schien, nur ein kurzes Verstummen der Singvögel. Wegen dieses beschissenen Buchsbaums bin ich niemals »einer von uns« geworden, habe keinen Kreis von Freunden mit klaren Standpunkten um mich versammelt, mich weder der Obrigkeit noch deren Feinden zugesellt, die sich in ihren pöbelhaften Wesenszügen nur wenig voneinander unterscheiden.
Der Buchsbaum – auf Russisch samshit, was für englische Ohren eher unappetitlich klingt – hat mich aus der Bahn geworfen. Am offenen Fenster stehend, diesen Duft einatmend, der stärker war als ich selbst, verstand ich: Genau aus diesem Grund bin ich wieder hier, in der Rue de Grenelle, weil ich in der Kindheit den Buchsbaum bis zum Überdruss gerochen habe. Nur dass ich in der Kindheit mit all meinen buchsbaumigen Wachträumen den Namen »Buchsbaum« gar nicht kannte. Übrigens gibt es nichts, worauf man besonders stolz sein könnte, wenn man bloß Günstling eines Kindheitsgeruchs ist, eine Geisel immergrüner gestutzter Büsche.
Am nächsten Morgen hörte ich wieder Vorträge, in denen man der Oktoberrevolution gar den Namen wegnehmen und sie zu einem Oktoberumsturz machen wollte. Die einen nahmen ihn weg, die anderen stritten.
Und da erinnerte ich mich, dass mein Vater 1944, noch keine vierundzwanzig Jahre alt, von Stockholm nach Moskau abberufen wurde, wo er als dürrer, etwas linkischer Attaché bei der Kollontai gearbeitet hatte. Molotow machte ihn zu Stalins persönlichem Dolmetscher für Französisch. Sein Vorgänger hatte beim Dolmetschen französischer Militärpiloten Probleme mit Begriffen aus der Luftfahrt gehabt, und Stalin hatte zu ihm gesagt: »Es scheint, ich kann besser Französisch als Sie.«
Von da an ward der Dolmetscher nicht mehr gesehen. An seiner Stelle nahm man meinen Vater. Molotow sagte ihm, Stalin wolle ihn kennenlernen.
»Denken Sie daran, Stalin mag es gar nicht, wenn man nachfragt.«
Papa begab sich in den Kreml. In dem riesigen Arbeitszimmer, in dessen Mitte Lenins Totenmaske auf einer Etagere lag, nahm Papa, die Hände an der Hosennaht, Haltung an und stellte sich vor. Der Große Führer stand links neben seinem Schreibtisch und stopfte sich die Pfeife. Er war klein, mit einem schwachen linken Arm, das Gesicht voller Pockennarben. Er sah meinen jugendlich hageren Papa an und stellte die erste Frage.
Zu seinem Entsetzen verstand Papa nicht, was ihn Stalin fragte. Der Krieg war zu Ende, Stalin war der Sieger, die Welt applaudierte ihm, und Papa verstand nicht, was Stalin ihn gefragt hatte. Stalin sprach mit starkem kaukasischem Akzent und zudem sehr leise. Papa versuchte sich fieberhaft zusammenzureimen, was Stalin ihn gefragt haben mochte. Rote Ohren, Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben. Was konnte ihn der Große Führer gefragt haben? Und Papa dachte, wahrscheinlich hatte er gefragt: Wo haben Sie studiert? Genau, wo haben Sie studiert, vollkommen logisch. Und Papa, noch stärker Haltung annehmend, platzte heraus: »Staatliche Universität Leningrad, Genosse Stalin!«
Plötzlich geschah mit Stalin etwas Ungeheuerliches.
Er griff sich mit der rechten gesunden Hand an den Bauch, beugte sich vor, krümmte sich geradezu und fing an zu lachen. Er lachte so laut, geradezu wie ein Kind, dass es schien, als sei er irgendein fröhlicher Gott und nicht Genosse Stalin. Papa verstand, dass sich in diesem Moment sein Schicksal entschied. Immer noch lachend, Tränen in den Augen, fragte Stalin, ohne sich aufzurichten, meinen Vater: »Also direkt in der Universität sind Sie geboren?«
Wieder ein Lachanfall. Stalin winkte sogar mit der Hand ab: »Oh, ich kann nicht mehr!«
Als er wieder zu sich gekommen war, sagte er zu meinem Papa: »Ich habe seit dem Oktoberumsturz nicht mehr so gelacht.«
Und mein Papa, nach Luft schnappend, verstand, dass sich ihm eine geheime Wahrheit eröffnet...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2023 |
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Übersetzer | Beate Rausch |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Autofiktion • Proletkult • Putin • Russische Literatur • Russland • Stalin • Übersetzung • UdSSR • Ukraine • Zeitenwende |
ISBN-10 | 3-7518-0936-8 / 3751809368 |
ISBN-13 | 978-3-7518-0936-8 / 9783751809368 |
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