Heimlich im Kalten Krieg (eBook)
299 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3425-4 (ISBN)
Eine wahre Liebesgeschichte aus den Wirren des Kalten Krieges.
Da wäre zunächst ein Amerikaner in Berlin. Der ehrgeizige junge Oberstleutnant Bill Heimlich aus Ohio bereitet schon im Februar 1945 die militärische Einnahme der Reichshauptstadt vor. Dort angekommen, führt ihn seine erste Mission in die unterirdischen Gänge des Führerbunkers. In den verkohlten Ruinen der zerstörten Stadt findet er die Tagebücher Goebbels', verhört Rudolf Heß und verbrennt ein Schwein im Grunewald, um zu beweisen, daß Adolf Hitler nicht verbrannt sein kann. Er pflegt Kontakte zu Kurt Schumacher, Willy Brandt und Ernst Reuter und späht mit archaischen Observierungsmethoden die Sowjets aus, die freilich auf ebenso unfeine Art zurückschlagen. Als amerikanischer Geheimdienstchef und erster RIAS-Direktor erteilt er den Deutschen Nachhilfe in Demokratie und lanciert im RIAS schon nach kurzer Zeit ein 24-Stunden-Programm, das in allen vier Sektoren der Stadt gehört wird. Selbst die Russen haben höchste Hochachtung vor dem 'unheimlichen Mr. Heimlich'.
Und dann gibt es da ein Mädchen - bildschön, blond, langbeinig und ein komödiantisches Naturtalent. Während der letzten Kriegsjahre feiert sie an der Seite von Grete Weiser, Erik Ode und Georg Thomalla erste Bühnenerfolge und macht sich in der Nachkriegszeit mit der RIAS-Sendung 'Die Stimme Berlins' einen Namen als antikommunistische Kabarettistin. Fräulein Ohlsen lernt Bill Heimlich am 6. Oktober 1945 bei Kaffee und Steinhäger kennen, und Amors Pfeile treffen beide mitten ins Herz. Doch dann reist Bill Heimlichs Gattin aus Ohio an, und die Nachkriegswirren machen ihnen das Leben und die Liebe zusätzlich schwer.
Tamara Domentat hat die Geschichte von Bill Heimlich und Christina Ohlsen anhand von privaten Aufzeichnungen und Tonbändern rekonstruiert. Aus den authentischen Zeugnissen hat sie ein temporeiches, spannendes Buch geschrieben, an dem nichts erfunden ist. Denn die besten Geschichten schreibt noch immer das Leben selbst.
Tamara Domentat, 1959 in Berlin geboren, ist Schriftstellerin und Journalistin. Studium an der Freien Universität Berlin und an der Indiana University. Tätigkeit als Übersetzerin und Sprachlehrerin, zahlreiche Beiträge für den Tagesspiegel, die Financial Times Deutschland, GEO, das Berliner Stadtmagazin zitty sowie den RIAS. 1993 erhielt sie den Ullstein-Preis.Beim Aufbau-Verlag sind erschienen: Hallo Fräulein. Deutsche Frauen und amerikanische Soldaten (1998) und Heimlich im Kalten Krieg. Die Geschichte von Christina Ohlsen und Bill Heimlich (2000).
Christina
Schrauben drehen bei Siemens & Halske
Berlin, Herbst 1944
Das Rasseln des Weckers riß mich unsanft aus dem Tiefschlaf. Ruckartig fuhr ich hoch, fest davon überzeugt, daß in der nächsten Sekunde das geisterhafte Licht der Flakscheinwerfer quer über die Wand ziehen würde. Doch um mich herum blieb es finster. Ich streifte die Wolldecken ab und erhob mich von dem altersschwachen Sofa, auf dem ich schon seit mehr als zwei Wochen kampierte. Klappernd vor Kälte zog ich mich an und marschierte zur Straßenbahn. Im Dunkeln wirkte die Ruinenlandschaft noch gespenstischer als am Tag. Wie mit Röntgenaugen suchte ich den Weg zur Haltestelle auf versprengte Mauersteine, Kabel, geborstene Rohre oder zerbombte Wohnungseinrichtungen ab. Von dem ewigen Gestolper über das herumliegende Gerümpel bekam man nicht nur wunde Füße. Ein falscher Schritt, und man ruinierte sich das letzte Paar Schuhe an einer rostigen Sprungfeder oder stürzte in einen Granatentrichter.
In der leeren Straßenbahn wäre ich beinahe wieder eingenickt, so unendlich langsam ruckelte sie an Mietskasernen vorbei durch stille, dunkle Straßen. Ganz Berlin schien eine der kostbaren Nächte ohne Sirenengeheul auszunutzen, um endlich einmal wieder durchzuschlafen. Nur ich blickte einem weiteren verhaßten Arbeitstag bei Siemens & Halske entgegen. Um Punkt fünf, wenn vierzig Frauen in zwei Reihen antraten, um Maschinenteile für Kampfflugzeuge zu präparieren, begann mein eintöniges Tagewerk. Stunde um Stunde drehten wir Schrauben in Metallstücke mit vorgestanzten Löchern. Nie zuvor war ich eine derart ermüdenden und geisttötenden Beschäftigung nachgegangen. Vielleicht mangelte es mir auch nur am nötigen Patriotismus. Gegen Mittag wollte ich mir die Beine vertreten und schlenderte auf die gegenüberliegende Seite. Ich rechnete damit, daß die zweite Gruppe die von uns bearbeiteten Maschinenteile weitermontierte, mit Gravuren versah oder wenigstens ordentlich stapelte. Daher traute ich meinen Augen nicht, als ich entdeckte, daß meine Leidensgenossinnen sämtliche Schrauben, die wir gerade in die Flugzeugteile reingedreht hatten, eifrig wieder rausdrehten. Ich lief die Reihe hinunter und blickte allen Kolleginnen ungläubig über die Schulter, bis ich absolut sicher sein konnte, daß mein Verdacht berechtigt war.
Da begann ich innerlich zu kochen. Wegen dieser Farce hatten wir monatelang kein Tageslicht gesehen und nach Feierabend mit unseren Lebensmittelkarten vor verschlossenen Ladentüren gestanden! Mit einem Pochen in den Adern kehrte ich zurück an meinen Platz. Ich weiß nicht, ob es das Ausmaß dieser absurden Situation war, das mir plötzlich ins Bewußtsein stieg, oder der langgehegte Groll gegen diese sinnlose Beschäftigungstherapie – jedenfalls spürte ich, wie flammender Zorn mich durchzuckte und sich blitzartig in einen heftigen, ja unerträglichen Schmerz verwandelte. Kurz darauf wurde mir schwindlig, ich krümmte mich und verlor das Bewußtsein.
Im Krankenhaus kam ich wieder zu mir. Ich blickte in das überarbeitete Gesicht des diensthabenden Arztes. Er erzählte mir etwas von einem gallensteinbedingten Kreislaufkollaps und prophezeite eine chronische Entzündung für den Fall, daß man die Steine nicht umgehend herausoperierte. Als er ankündigte, mich an Ort und Stelle in Vollnarkose zu versetzen, richtete ich mich panisch auf. Was, wenn plötzlich der Strom ausfiel oder die nächsten Kampfflieger über uns hinwegdonnerten? Wollte ich hilflos auf einem Operationstisch liegen, während ringsherum die Granaten niederprasselten? Was bedeuteten ein paar Gallensteine im Vergleich zu der tödlichen Fracht der alliierten Luftwaffengeschwader? Wie alle Berliner lebte ich in ständiger Angst vor den alltäglich gewordenen Bombardements. Wenn sie vielen schon nicht den Tod gebracht hatten, so bestimmten sie doch auf alptraumhafte Weise unser Leben.
Was mein persönliches Schicksal angeht, so wurde ich allein im letzten Sommer zweimal ausgebombt. Das erste Mal saß ich mit Freunden im Haus meiner Tante Lotte, als sich wie aus heiterem Himmel ein Dachbalken aus der Verankerung löste und auf meinen Sitznachbarn fiel. Der Ärmste kippte vornüber und war augenblicklich tot. Eine Sekunde später fiel das ganze Haus in sich zusammen. Wir waren verschüttet! Nur dank einer zweiten Bombe, die eine Lücke in die Wand riß, gelangten wir ins Freie. Ich zwängte mich durch die Öffnung, kletterte den Schuttberg hoch, den unser Haus hinterlassen hatte, und trat dabei auf meine Tanzfotos, einzelne Schuhe und die Scherben des Porzellans, von dem wir gerade gegessen hatten. Hinter mir kroch ein junger Leutnant aus den Trümmern. Er war auf Heimaturlaub und verstand die Welt nicht mehr. »O Gott, o Gott«, rief er sichtlich schockiert, »an der Front ist es ja sicherer als hier!«
Das mochte ja sein, doch inzwischen knallten und pfiffen die Bomben mal wieder über Berlin, und wir mußten uns irgendwo in Sicherheit bringen. »Folgen Sie mir«, brüllte er gegen den Krach an. »Ich weiß, wo der nächste Luftschutzkeller ist!« Sein Wort in Gottes Gehörgang, dachte ich und hastete ihm hinterher in den Grunewald. Zweige peitschten uns ins Gesicht, und jedesmal, wenn eine Bombe niedersauste, schrie er galant: »Hinschmeißen, gnädige Frau!« Selbst am Waldboden vergaß er seine gute Kinderstube nicht. Doch als unser Fluchtpunkt in greifbare Nähe rückte, erwartete uns bereits der nächste Schock. Schnöde wies man uns beim Bunker ab, angeblich wegen Überfüllung. Frustriert schleppten wir uns weiter durch Gestrüpp und Unterholz, bis eine Detonation den Waldboden erzittern ließ und wir der Länge nach hinstürzten. »Fürchte dich nicht«, beschwichtigte ich meine Angst und mein Entsetzen. »Wenn du einen Knall hörst, mußten die anderen daran glauben. Wenn es dich trifft, dann hörst du nichts mehr.« Vorsichtig hoben wir die Köpfe und blickten uns um. Die Bombe war exakt dort eingeschlagen, wo wir vor wenigen Sekunden noch unsere Rettung vermutet hatten – im Luftschutzkeller! Später hörten wir, daß keiner der Bunkerinsassen den Angriff überlebt hatte.
Irgendwann nahmen uns wildfremde Leute in der Nähe der Heerstraße in ihr Haus auf. Nach einer schlaflosen und sorgenvollen Nacht wanderte ich quer durch Berlin zum »Kabarett der Komiker«. Ich mochte obdachlos sein, aber es wartete noch Arbeit auf mich. Als Zweitbesetzung für Jo Wiedenhaupt war ich angetreten, um Grete Weisers Bühnentochter zu spielen in dem Stück »Wenn’s dem Esel zu wohl wird«. So stand ich keine 24 Stunden nach dem Inferno im Wald zitternd und mit geschundenen, schmerzenden Füßen auf der Bühne und trällerte: »Mein Herz geht auf die Reise, das Glück wohnt nebenan, ich singe nur ganz leise: ›Ich fahr ins Märchenland.‹« Wie lange, dachte ich, wird es wohl dauern, bis ich den Verstand verliere?
Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. »Wo Christina hingeht«, witzelten meine Kollegen nach der Vorstellung, »da knallen die Bomben.« Irgendwie schienen alle zu glauben, daß ich das Unglück magisch anziehe, denn ich wartete umsonst auf Angebote für ein Nachtlager auf irgendeiner Wohnzimmercouch. Da erbarmte sich Grete Weiser, die ich sehr bewunderte, weil sie im Gegensatz zu mir Selbstbewußtsein ausstrahlte und sich durchzusetzen wußte. Ich fand, sie war von Kopf bis Fuß ein Star. »Christinchen«, befahl sie also, »du kommst heute abend mit zu mir.« Und so machten wir es uns bei einer Flasche Wein und einem Brathuhn in Grete Weisers Wohnstube gemütlich. Sie geizte nicht mit Lob, und da ich an meinen schauspielerischen Fähigkeiten noch immer zweifelte, war ich für ihre aufbauenden Worte mehr als empfänglich. Mitten in unserer Unterhaltung heulten plötzlich die Alarmsirenen auf. Ein paar Atemzüge später sausten die Kampfflieger mit Getöse über uns hinweg, und das Unvermeidliche geschah: Eine alliierte Bombe krachte auf Gretes Haus. Fluchtartig stürzten wir auf die Straße, und nach der ersten Schreckstarre organisierten wir mit den Nachbarn eine Eimerkette. Mit vereinten Kräften kippten wir stundenlang Wasser in die Flammen, doch Gretes Haus war einfach nicht...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | BRD • DDR • Familiengeheimnisse • Geheimdienst • Heimliche Liebe • Heirat • Intrigen • Kalter Krieg • RIAS • Spionage • verdeckte Operationen • Verrat • West-Berlin |
ISBN-10 | 3-8412-3425-9 / 3841234259 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3425-4 / 9783841234254 |
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Größe: 443 KB
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