'Ich bin maßlos in allem' (eBook)
455 Seiten
Wallstein Verlag
978-3-8353-8578-8 (ISBN)
Christine Lavant, (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag. Klaus Amann, bis 2014 Professor fu?r Neuere Deutsche Literatur, Gru?nder und langjähriger Leiter des Robert-Musil-Instituts fu?r Literaturforschung der Universität Klagenfurt sowie des Kärntner Literaturarchivs. Zahlreiche Buchpublikationen und Aufsätze. Mitherausgeber der Gesamtausgaben von Robert Musil und Christine Lavant. Brigitte Strasser, Studium der Germanistik und Pädagogik an der Universität Klagenfurt, Hochschullehrgang Kulturmanagement an der Johannes Kepler Universität Linz. 2006-2018 Mitarbeit an der Werkausgabe Christine Lavant, Mitherausgeberin der Bände 2 und 4 (Erzählungen).
Christine Lavant, (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag. Klaus Amann, bis 2014 Professor für Neuere Deutsche Literatur, Gründer und langjähriger Leiter des Robert-Musil-Instituts für Literaturforschung der Universität Klagenfurt sowie des Kärntner Literaturarchivs. Zahlreiche Buchpublikationen und Aufsätze. Mitherausgeber der Gesamtausgaben von Robert Musil und Christine Lavant. Brigitte Strasser, Studium der Germanistik und Pädagogik an der Universität Klagenfurt, Hochschullehrgang Kulturmanagement an der Johannes Kepler Universität Linz. 2006–2018 Mitarbeit an der Werkausgabe Christine Lavant, Mitherausgeberin der Bände 2 und 4 (Erzählungen).
Klaus Amann
Vorwort
Christine Lavants Eigenart und Stärke als Lyrikerin und als Erzählerin ist ihr unbestechlicher Blick auf diejenigen, mit denen das Schicksal es weniger gut gemeint hat. Es ist ihre eigene Welt und es sind ihre eigenen Erfahrungen und Empfindungen, über die sie schreibt. Sie weiß, wovon sie spricht. Sie wurde – als Lyrikerin – mit Preisen und Ehrungen überhäuft, erhielt schon früh eine kontinuierliche finanzielle Unterstützung durch das Land Kärnten und den österreichischen Staat, wurde von Ministern und Präsidenten hofiert – und übernahm nicht die Vorstellungen und Sichtweisen ihrer bürgerlichen Freundinnen und Förderer, die ihre Nähe suchten. Christine Lavant ist und bleibt zeitlebens Teil dessen, worüber sie schreibt. Die Basis dafür ist die Erfahrung am eigenen Leib, und eine beinah schon gespenstisch zu nennende Fähigkeit des sich Einfühlens in andere. Ihr Blick auf die Menschen und die Welt ist immer auch ein Blick der Reflexion, des Wissens und der Distanz. Und er schließt Selbstironie und Humor mit ein. Dem entspricht die unerhört freie und bewegliche, ja virtuose Form ihres Schreibens; augenfällig im Wechsel der Perspektiven, in den Gedankenstimmen, den lakonischen Kommentaren und dem ironischen Dazwischenreden, im Ineinanderschieben von Außen- und Innensicht, der metaphorischen Umdeutung religiöser Symboliken u. v.a. m. Mit Christine Lavant beginnt die Literatur von Frauen in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg – so wie auf je eigene Weise wenig später mit Friederike Mayröcker, Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann.
Christine Lavant war, nach dem Zeugnis derer, die sie kannten, eine äußerst belesene, kluge und schlagfertige, in Gesellschaft, je nach Situation und Laune, auch freche und vorwitzige Frau. Zuweilen wohl auch ein bisschen berechnend und ›durchtrieben‹, wie Thomas Bernhard, der mit ihr befreundet war, sie nennt (und der es wissen musste); und wie auch sie selbst sich bezeichnet – in einem Brief an ihren Innsbrucker Mentor Ludwig von Ficker. Bedenkt man ihre Lebensumstände, könnte man auch von Selbstschutz und sozialer Intelligenz sprechen. Und sie war mitfühlend, hilfsbereit, freigiebig und großherzig, war nicht ungern selbstironisch und hatte, wenn es ihr gut ging, eine ausgeprägte Neigung zum Schelmischen. Jahrzehntelang hat jedoch das erbarmungswürdige Bild des leidgeprüften, vom Stricken lebenden, in seinen Gedichten mit Gott hadernden, kopftuchtragenden Weibleins vom Lande die öffentliche Wahrnehmung bestimmt.
Die Wirklichkeit ist komplexer. Christine Lavant – geboren als Christine Thonhauser – ist eine gleichsam aus dem Nichts auftauchende literarische Naturbegabung aus der tiefsten, bäuerlich-katholischen und zu ihren Lebzeiten stark nationalsozialistisch kontaminierten Kärntner Provinz; neuntes Kind einer Bergarbeiterfamilie aus St. Stefan im Lavanttal, in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen, Schulabbrecherin aus gesundheitlichen Gründen, chronisch krank, beschäftigungslose Außenseiterin im Dorf, suizidgefährdete Psychiatriepatientin, manische Leserin, Strickerin aus Not, die mit ihrer Hände Arbeit auch den 36 Jahre älteren Ehemann, einen nicht unbegabten, erfolglosen Maler, miternährte – und die, ohne formale Bildung und ohne die geringste Berührung mit dem Kulturbetrieb und mit gebildeten Kreisen, scheinbar voraussetzungslos, Gedichte schrieb, die von der Kritik in einem Atemzug mit jenen Rainer Maria Rilkes und Georg Trakls genannt wurden. Parallel dazu hat sie beinahe zweitausend Seiten erzählende Prosa geschrieben, die stets im Schatten ihrer Lyrik stand, und deren Qualität und Bedeutung jahrzehntelang nicht angemessen erkannt und gewürdigt wurden. Von beidem, von ihren Gedichten und von den Erzählungen, wurden zu ihren Lebzeiten jeweils nur etwa ein Drittel veröffentlicht. Erst die vierbändige Werkausgabe ließ – vierzig Jahre nach ihrem Tod – den Umfang ihres literarischen Werks erahnen.
1948 und 1949 erschienen ihre ersten Bücher, zwei Erzählungen und ein Gedichtband, in einem neugegründeten, wirtschaftlich schwachen Ein-Mann-Verlag in Stuttgart, dessen Verleger durch einen Zufall auf sie gestoßen war. Er erkannte spontan ihr großes Talent und hatte Großes mit ihr vor, scheiterte jedoch an den ökonomischen Gegebenheiten. Davor hatte sie (mit Ausnahme dreier Gedichte in einem Kärntner Provinzblatt Mitte der 1930er Jahre) keine Veröffentlichungen und auch so gut wie keine Verbindung zu literarischen Kreisen. Durch die politisch gewollt komplizierten deutsch-österreichischen Handels-, Zoll- und Verrechnungsbestimmungen der unmittelbaren Nachkriegszeit brauchte es beinahe zwei Jahre, bis ihre Bücher in Österreich wahrgenommen wurden. Als sie im November 1950 die erste Einladung zu einer literarischen Veranstaltung erhielt, wurde sie im Publikum von niemandem erkannt. Man hielt die Rezitatorin, die ihre Gedichte vortrug, für die Autorin. Sie selbst saß unerkannt in der letzten Reihe – mit einem weißen Kopftuch.
Ihre Herkunft, ihr Lebensweg, ihre körperliche Erscheinung, ihre Gebrechlichkeit, ihr Nichtdazugehören, das Geheimnis ihres literarischen Talents, das Unerklärliche ihres Schreibens, das Kopftuch – alles das förderte nicht nur das Interesse an ihr, sondern auch männliche Entdecker-, Protektions- und Beschützerinstinkte – nicht zuletzt in der Beamtenschaft auf lokaler und staatlicher Ebene, was ihr, vor allem finanziell, das Leben ab der Mitte der 1950er Jahre merklich erleichterte. Sie passte, als Person, die keiner Gruppe, keiner Clique, keiner Partei, keiner Tradition angehörte, aber auch mit ihrer Literatur – von der überregional nahezu ausschließlich die Lyrik wahrgenommen wurde – gut zu den Stimmungen und Erwartungen der Nachkriegszeit. Ihr Auftauchen aus dem Nichts war überraschend und unerklärlich, aber auch unbelastet von Tausendjährigen und anderen Hypotheken. Die unmittelbare Nachkriegszeit war das lyrische Jahrzehnt und Christine Lavants Gedichte ließen die Kundigen an literarische Säulenheilige vor dem Sündenfall des Nationalsozialismus denken. Ihre Gedichte standen damit in einer großen Tradition, aber zugleich auch für einen Neubeginn. Im Zusammenspiel all dessen wurde aus ihr das unverhoffte, mysteriöse weibliche Literaturwunder aus der Provinz.
Auf den ersten Blick lässt das Vokabular vieler ihrer preisgekrönten Gedichte aus den 1950er Jahren eine Nähe zum Katholischen assoziieren: von Abgott, Andacht, Dreifaltigkeit, Engel, Erhörung, Fegefeuer, Gebet, Gott, Gottesanbeter, die Gottbereite, die Gottesmagd, gottgesandt, Gotteslächeln, Gottesleib, gottverlassen, Lamm Gottes bis zu Heiland, Heilige, Jüngster Tag, Kreuzweg, Schweißtuch, Tempel, Teufelshaar und Verheißung fehlt in ihrer Lyrik kaum ein religiös einschlägiger und geläufiger Begriff zwischen Himmel und Hölle. Das war im schwarz restaurierten Nachkriegsösterreich kein Nachteil. Die Gedichte in Die Bettlerschale (1956), ihr zweiter Lyrikband, doch der erste, der ein breiteres Publikum erreichte, standen mit ihrer religiösen Metaphorik zwar in einem vertrauten Kontext, schlugen gleichzeitig jedoch in ihrer emotionalen Vehemenz, ihrem Aufbegehren und ihrer herausfordernden Direktheit einen völlig neuen Ton an. Dies kam dem verbreiteten und politisch gestützten Wunsch nach einem Neubeginn und dem Vergessen der noch allenthalben präsenten, ›unseligen‹ Nazizeit entgegen.
Die Zuschreibung der Lyrik Christine Lavants zum Katholischen, was nach dem Krieg auch als Beitrag zu einer austriakischen Wiederauferstehung empfunden und gedeutet werden konnte, forcierte vor allem ihr Salzburger Verlag, zu dem sie Mitte der 1950er Jahre gewechselt war, weil ihr deutscher Verleger nicht vom Fleck kam. Ihr Hadern mit Gott und auch die schnell zur Marke gewordene Klassifizierung ihrer Lyrik als ›Lästergebete‹ (so Ludwig von Ficker) ließen sich im Rahmen der tonangebenden konservativen Richtungen der 1950er Jahre als traditionsbewusst und modern zugleich wahrnehmen und vermarkten. Nicht zufällig aber hat ihr Verlag bei einer ganzen Reihe von Gedichten, die Christine Lavant für Die Bettlerschale bestimmt und ausgewählt hatte, den Abdruck verweigert. Das betraf vorwiegend solche, in denen die ans Blasphemische grenzende Auflehnung des lyrischen Ich gegen ›Gott‹ oder in denen das Körperliche und das Erotische aus der Sicht des Verlags zu massiv und zu offensichtlich waren; wo also beispielsweise hinter dem Namen und der Anrufung Gottes unverkennbar eine konkret diesseitige Mannesgestalt zu erahnen war.
Das Fundament ihrer Literatur – der autobiographische Kern als thematische Voraussetzung ihres Schreibens – und zwar in der Prosa ebenso wie in der Lyrik, war für Christine Lavant Segen und Fluch zugleich. Auf der einen Seite garantierte die biografische Fundierung Glaubwürdigkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität, also die Möglichkeit, von dem zu sprechen, was sie am besten kannte; auf der anderen Seite, so ihr Empfinden und auch ihre konkrete Erfahrung, machte sie das literarische Von-sich-selbst-Reden schutzlos und angreifbar; es stellte sie bloß. Dies umso mehr, als ihr Pseudonym, hinter dem sie sich zu verbergen und unkenntlich zu machen gehofft hatte, schon 1950, in einer der ersten heimischen Besprechungen ihrer in Deutschland erschienenen Bücher aufgedeckt worden war. Die ihr von Kind auf nicht unbekannte Erfahrung des Ausgesetzt- und Ausgeliefertseins machte sie in besonders schmerzlicher Form mit ihrer autobiographischen Familienerzählung Das Krüglein (1949), ihrem zweiten Prosa-Band. Er trug...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2023 |
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Co-Autor | Brigitte Strasser |
Mitarbeit |
Kommentare: Klaus Amann |
Verlagsort | Göttingen |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50. Todestag • Autorin • Belletristik • Biographie • Briefwechsel • Dichterin • Dokumente • Erzählende Literatur • Fotografie • Lebenserzählung • Literatur • Lyrik • Lyrikerin • Österreich • Porträt • Rezensionen • Texte • unveröffentlicht • Werner Berg • Zeichnung • Zeitungsberichte |
ISBN-10 | 3-8353-8578-X / 383538578X |
ISBN-13 | 978-3-8353-8578-8 / 9783835385788 |
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