Geschichten der Nacht (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
510 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0940-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichten der Nacht -  Laurent Mauvignier
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In einem abgelegenen Weiler irgendwo in der französischen Provinz wohnen vier Menschen eng beieinander und erleben trotzdem ganz unterschiedliche Realitäten. Das eine Haus bewohnen Marion und Patrice gemeinsam mit ihrer Tochter Ida, im anderen wohnt Christine, die fast schon wie eine Verwandte zur Kleinfamilie gehört. Sie alle hüten ihr eigenes Geheimnis, zu Marions vierzigsten Geburtstag aber überwinden sie ihre Differenzen und kommen zum Feiern zusammen. Doch schnell wird die seltene Eintracht getrübt, als drei fremde Männer auf dem Hof auftauchen und die Bewohner gefangen nehmen. Was als geselliger Abend geplant war, entwickelt sich zu einer Nacht des Schreckens und eine Spirale der Gewalt setzt sich in Gang. Mit geschärften Sinnen nimmt jede der Geiseln die beängstigenden Geschehnisse auf ganz eigene Weise wahr und wird auf essenzielle Fragen zurückgeworfen: Kann man jemandem vertrauen, ohne seine Vergangenheit zu kennen? Was macht eine Familie wirklich aus und kann nur eine einzige Wahrheit das gesamte Leben verändern? Ein sprachmächtiger Roman, der die Vielschichtigkeit der Zeiten auffächert, aus denen das Leben der Protagonisten besteht, und sich in die biografischen Abgründe jedes Einzelnen stürzt, um mit scharfem Blick fürs Detail die Spannung beim Lesen auf die Spitze zu treiben.

Laurent Mauvignier, 1967 geboren in Tours, studierte bildende Kunst. Seit 1999 hat er mehrere Romane veröffentlicht, für die er vielfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Prix des Libraires (2009). Zuletzt auf Deutsch erschien sein Roman Mit leichtem Gepäck. Er lebt in Toulouse.

Laurent Mauvignier, 1967 geboren in Tours, studierte bildende Kunst. Seit 1999 hat er mehrere Romane veröffentlicht, für die er vielfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Prix des Libraires (2009). Zuletzt auf Deutsch erschien sein Roman Mit leichtem Gepäck. Er lebt in Toulouse. Claudia Kalscheuer, 1964 in Berlin geboren, studierte Romanistik, Linguistik und Philosophie in Berlin und Toulouse. Sie übersetzt seit 1994 aus dem Französischen, u.  a. Marie NDiaye, Jules Verne und Sylvain Tesson.

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Dieses Blau, dieses Rot, dieses Orangegelb, die Fließspuren, die deckenden oder durchscheinenden grünen Flecken und die verworrenen, brodelnden Formen, diese Körper und Gesichter, die aus einem dunklen, tiefbraunen Grund auftauchen, aus einem gleichsam strahlenden lila Lichtkreis oder im Gegenteil aus einer gebürsteten, rauen, holprigen Finsternis, diese durch farbige Blitze dem Dunkel entrissenen Formen; Landschaften und Körper, Körper, die Landschaften sind, Landschaften, die nicht nur Landschaften sind, sondern organische, mineralische Lebewesen, die wuchern und den Raum ausfüllen, sich über die sehr großen Leinwände ausbreiten, die sie bemalt – meistens quadratische Formate von zwei Metern, manchmal weniger, oder rechteckige, dann aber im Hochformat, niemals quer. Als sie jung war, hat sie Kirkeby und Pincemin sehr bewundert, ihre erdverbundenen, farbenreichen Gemälde, aber das ist so lange her, dass ihr ist, als wäre sie diese junge Frau, an die sie sich erinnert, nie gewesen.

In La Bassée sagen die Namen der zeitgenössischen Maler niemandem etwas. Ja, die Malerei, die sie liebt oder geliebt hat, sagt hier niemandem etwas und sie kann mit niemandem darüber reden, aber umso besser, denn sie will nicht über das reden, was sie macht, sie redet nicht gern über Malerei oder Kunst, es ist immer sehr ermüdend und fruchtlos, über Kunst zu reden, immer die gleichen hohlen und austauschbaren Betrachtungen zu wiederholen, Dinge, die ein schlechter und ein guter Maler gleichermaßen sagen könnten, weil sie beide gleicherweise aufrichtig und intelligent sind, auch wenn nur einer von beiden Talent hat, eine Kraft, eine Form, einen Sinn für Material und Ideen, eine Vision, denn für sie sind Künstler dazu da, Visionen zu haben, weshalb sie einmal eine Kassandra-Serie gemacht hat, gemalt, als wäre sie die Zerbrechlichkeit und die Wahrheit, die sich in eine Welt verirrt hätte, in der Brutalität und Lüge die Regel sind, mit dem Gedanken, dass Künstler die Wahrheit sagen oder eben schweigen, und dass sie sie sagen, solange sie nicht wissen, dass sie sie sagen, während niemand ihnen glaubt und weil niemand ihnen glaubt. Nicht reden, sondern malen, keine kostbaren Kräfte damit vergeuden zu räsonieren, um die gleichen Banalitäten von sich zu geben wie die anderen, sondern malen, was Worte an Versprechen nicht halten können; eine Vision dessen haben, was noch nicht ist, beim Anblick des blühenden Apfelbaums den Apfel malen, den Vogel anstelle des Eis, sich der Zukunft zuwenden und diese um ihres Geheimnisses willen begrüßen, statt so zu tun, als wisse man vor den anderen und besser als die anderen Bescheid, bloß nicht, nicht so, wie sie es allzu lange getan hat, als sie jung war und über alles, was ihr am Herzen lag, philosophierte und palaverte, und alles, was sie tat, mit mehr Worten zukleisterte, als es braucht, um zehn Generationen Künstler zu ersticken – daher also nein, kein Wort mehr, genug, seit vierzig Jahren hobelt sie die Sprache ab, um ihre Wahrnehmung zu öffnen, um sich selbst ihrer Vision zu öffnen, um ihren Blick zu zwingen, tiefer zu dringen, so wie man versucht, in der Nacht zu sehen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sie hat das Glück, eine Kunst zu haben, die sprechen kann, ohne das Maul aufzureißen, das nutzt sie aus, sie hat den richtigen Ort dafür gefunden, als sie dieses Haus gekauft hat, das sich keineswegs dafür anbot, ein Malatelier zu beherbergen. Sie hätte ein geeigneteres Haus aussuchen können, aber dieses hier hatte ihr gefallen, Bergogne Vater als Nachbarn zu haben beruhigte sie, die Entfernung vom Dorf ebenso, und sie hatte genug Geld gehabt, um die Wand zwischen Wohn- und Esszimmer einreißen zu lassen und das Ganze in einen riesigen Raum zu verwandeln, die Wände glattspachteln und Leisten und Platten anbringen zu lassen, um die Fläche zu vergrößern, wo sie Leinwände aufstellen konnte, und den Raum optimal zu nutzen, sie ließ auch spezielle Lampen anbringen, ein ganzes System, um ein perfektes weißes, natürliches Licht zu erhalten, das weder aggressiv war noch die Farben verfälschte, um sich die böse Überraschung zu ersparen, ein Gelb zu entdecken, wo sie meinte, ein Weiß aufgetragen zu haben, sobald sie ein Bild aus ihrem Atelier herausholte. Es war ihr völlig egal, ihr Esszimmer und ihr Wohnzimmer zu demolieren, alles auseinanderzunehmen, was Bergogne Vater für die früheren Mieter aus dem Haus gemacht hatte; sie hatte für das Recht bezahlt, diese Räume zu zerstören, die dafür gedacht waren, Gäste zu empfangen, Essenseinladungen und Feste zu beherbergen oder ein Familienleben zu führen, um Beziehungen zu pflegen, alles, was sie nicht mehr hatte, was sie nicht mehr wollte oder nicht hatte haben wollen, ja genau dafür hatte sie in klingender Münze bezahlt: ein Haus zu haben, das ihr Atelier war, denn es ging ihr gerade darum, dass das Atelier im Haus war und nicht daneben.

So kann sie ihre Zeit im Atelier verbringen und durch einen Durchgang von der Größe eines Tischs in die Diele und die Küche hinübergehen; im oberen Stock hat sie ihr Schlafzimmer eingerichtet und eines der beiden Gästezimmer behalten, denn manchmal kommen noch alte Weggefährten aus ihrer Jugend vorbei, die sie nicht vergessen haben, die ihre Gemälde anschauen kommen, die sich nach ihr erkundigen oder ihr Neuigkeiten erzählen, die Bilder mitnehmen und sie für sie verkaufen, auch wenn sie nicht mehr viel verkauft – man sagt ihr, sie sei nicht kompromissbereit oder gefügig genug gegenüber dem Markt, sie sollte sich ein bisschen öfter auf den Kunstmessen zeigen, das heißt zumindest hin und wieder einmal, da sie es nie tue, da sie nicht einmal auf Anfragen von Galeristen antworte, denen ihre Arbeit doch gefallen habe, ebenso wenig wie auf Briefe von ihren früheren Käufern oder Mäzenen, es sei schade, dass sie sich keine Mühe gebe und allen den Rücken kehre, schade für sie und ihre Malerei, vor allem aber schade für ihr Publikum, sie sei es ihrem Publikum schuldig, denn sie habe eines gehabt, das sie durch ihre Nachlässigkeit schließlich verloren habe, wirklich ein Jammer – ja, wahrscheinlich, antwortet sie, wahrscheinlich, aber was soll’s, es geht ihr gut und sie denkt einfach nicht daran, sie ist gewiss etwas unbeugsam und nimmt sich ihre Malerei zu sehr zu Herzen, sicher. Tatsächlich ist es einfach so, dass sie beim Malen vergisst, dass sie die Rolle der Malerin spielen sollte, die ihre Arbeit sehr gut verkauft – was sie machen könnte, denn sie weiß, was sie tut, was sie malt, auch wenn sie sich mitreißen und überraschen lässt von den Bildern, die unter ihren Fingern entstehen, sie weiß auch, dass die Inspiration niemanden aus heiterem Himmel überfällt und dass man arbeiten, lesen, sehen, nachdenken, seine Arbeit reflektieren muss, und wenn die intellektuelle Arbeit vollzogen ist, muss man diese vergessen können, sie auslöschen, loslassen und in diese konzeptuelle, reflektierte Welt etwas einbrechen lassen, das aus der Tiefe kommt oder von der Seite und bewirkt, dass das Bild über das Programm hinausgeht, das man ihm zugedacht hat, bis das Gemälde plötzlich intelligenter, lebendiger, oft auch grausamer ist als der- oder diejenige, die es gemalt hat.

Sie weiß das, sie strebt nach dem Moment, in dem das Gemälde zurückschaut und sie sieht, diesen Moment, in dem die Begegnung stattfindet zwischen ihr und dem, was sie malt, zwischen dem, was sie malt, und ihr, und das ist natürlich etwas, worüber sie nicht redet. Es ist ihr lieber, dass Bergogne ihr jeden Tag, wenn er zum Mittagessen bei ihr auftaucht, berichtet, was er auf den Feldern macht, ihr von den Kälbern erzählt, von der laufenden Arbeit oder von seiner Frau Marion und von Ida – vor allem von Ida, mit der sie viel Zeit verbringt, denn sie kommt fast jeden Tag nach der Schule zu ihr, um eine Kleinigkeit zu essen und auf ihre Eltern zu warten, die oft spät heimkommen.

Heute wird Ida gegen siebzehn Uhr da sein; sie wird erzählen, was sie in der Schule gemacht hat, sie selbst wird ihr hingegen nicht sagen, dass ihr Vater sie an diesem Morgen zur Gendarmerie gefahren hat, genauso wie sie die Worte des Gendarmen Filipkowski für sich behalten wird – dieser Name, Filipkowski, ist ihr nicht etwa wieder eingefallen, sie hat ihn einfach von der Visitenkarte abgelesen, die er ihr am Ende ihrer Unterredung gereicht hat und auf die er unter seinen Namen mit Kugelschreiber seine Handynummer geschrieben hatte, wobei er zwei- oder dreimal sagte,

Beim kleinsten Problem rufen Sie mich an,

und nachdrücklich betonte, dass sie ihn anrufen müsse, sollte sie einen weiteren anonymen Brief bekommen, vor allem, wenn dieser unter der Tür durchgeschoben wurde, ja, so wie der braune Umschlag, den sie am Tag zuvor gefunden hatte, spätabends, und von dem sie Bergogne am Morgen nicht ängstlich, sondern gereizt berichtet hatte, mit einem Zorn, den sie immer weniger zügeln konnte,

Diese Idioten gehen mir langsam echt auf den Senkel.

Der Gendarm...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2023
Übersetzer Claudia Kalscheuer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dorfleben • Entführung • Familie • Frankreich • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Haneke • Krimi • Literarischer Thriller • Spannung • Splatter • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-7518-0940-6 / 3751809406
ISBN-13 978-3-7518-0940-5 / 9783751809405
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