Geschlossene Gesellschaft (eBook)

Stück in einem Akt
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2023 | 1. Auflage
80 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01879-2 (ISBN)

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Geschlossene Gesellschaft -  Jean-Paul Sartre
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«Geschlossene Gesellschaft»: Drei Personen, die im Leben einander nie begegnet sind, werden nach ihrem Tod für alle Ewigkeit in einem Hotelzimmer zusammensein. Das ist die Hölle. «Wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in die totale Abhängigkeit von anderen. Und dann bin ich tatsächlich in der Hölle. Und es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen.» (Jean-Paul Sartre)

Geboren am 21.06.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931-1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.Am 02.09.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Geboren am 21.06.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931-1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte. Am 02.09.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris. Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Erste Szene


Garcin. Der Kellner

 

Ein Salon im Second-Empire-Stil. Eine Bronzefigur auf dem Kamin.

Garcin tritt ein und sieht sich um: Da sind wir also.

Der Kellner: Da sind wir.

Garcin: So ist das …

Der Kellner: So ist das.

Garcin: Ich … Ich nehme an, daß man sich auf die Dauer an die Möbel gewöhnen soll.

Der Kellner: Das kommt ganz auf die Leute an.

Garcin: Sind alle Zimmer so?

Der Kellner: Wo denken Sie hin? Zu uns kommen Chinesen, Inder. Was sollen die denn mit einem Empire-Stuhl anfangen?

Garcin: Und ich, was soll ich damit anfangen? Wissen Sie, wer ich war? Na ja, was macht das schon. Schließlich habe ich immer mit Möbeln gelebt, die ich nicht mochte, und in schiefen Situationen; das machte mir Spaß. Eine schiefe Situation in einem Louis-Philippe-Eßzimmer, toll, was?

Der Kellner: Sie werden sehen: In einem Second-Empire-Salon ist es auch nicht so übel.

Garcin: So? Gut. Gut, gut, gut. Er sieht sich um. Trotzdem, das hätte ich nicht erwartet … Sie wissen bestimmt, was man da unten erzählt?

Der Kellner: Worüber?

Garcin: Na … Mit einer unbestimmten, weit ausholenden Gebärde: über das alles.

Der Kellner: Glauben Sie etwa an diesen Blödsinn? Von Leuten, die nie ihren Fuß hierhergesetzt haben. Denn schließlich, wenn sie hierhergekommen wären …

Garcin: Richtig.

Sie lachen beide.

Garcin plötzlich wieder ernst werdend: Wo sind die Pfähle?

Der Kellner: Was?

Garcin: Die Pfähle, die Roste, die Ledertrichter?

Der Kellner: Sie machen wohl Witze?

Garcin sieht ihn an: So? Aha. Nein, ich mache keine Witze. Pause. Er geht umher. Keine Spiegel, keine Fenster, natürlich. Nichts Zerbrechliches. Mit plötzlicher Heftigkeit: Und warum ist mir meine Zahnbürste abgenommen worden?

Der Kellner: Da haben wir es. Die Menschenwürde macht sich wieder bemerkbar. Phantastisch.

Garcin schlägt wütend auf die Armlehne: Bitte keine Vertraulichkeiten. Ich kenne meine Lage durchaus, aber ich dulde nicht, daß Sie …

Der Kellner: Schon gut! Entschuldigen Sie. Aber das ist einfach so, alle Gäste stellen dieselbe Frage. Sie kommen hereingerauscht: «Wo sind die Pfähle?» In dem Augenblick, das schwöre ich Ihnen, denken sie überhaupt nicht an ihre Toilette. Und dann, wenn man sie beruhigt hat, kommt die Zahnbürste. Aber um Gottes willen, können Sie denn nicht mal nachdenken? Denn wozu, frage ich Sie, wollen Sie sich denn die Zähne putzen?

Garcin beruhigt: Ja, richtig, wozu? Er sieht sich um. Und wozu sollte man sich im Spiegel sehen? Aber die Bronzefigur, das ist natürlich was ganz andres … Ich kann mir vorstellen, daß ich sie in bestimmten Augenblicken mit aufgerissenen Augen anstarren werde. Mit aufgerissenen Augen, was? Machen wir uns nichts vor, es gibt nichts zu verbergen; ich sage Ihnen, daß ich meine Lage durchaus kenne! Soll ich Ihnen erzählen, wie sich das abspielt? Man erstickt, man geht unter, man ertrinkt, nur die Augen bleiben über dem Wasser, und was sehen sie? Eine Barbedienne-Figur. Was für ein Alptraum! Na ja, man hat Ihnen sicher verboten, mir zu antworten, ich will Sie nicht weiter behelligen. Aber merken Sie sich, daß man mich nicht überrumpeln kann, behaupten Sie bloß nicht, daß Sie mich geschockt hätten; ich sehe der Situation ins Gesicht. Er geht wieder umher. Also keine Zahnbürste. Auch kein Bett. Denn man schläft natürlich nie?

Der Kellner: Logisch!

Garcin: Ich hätte wetten können. Wozu sollte man auch schlafen? Der Schlaf packt einen hinter den Ohren. Man merkt, daß einem die Augen zufallen, aber wozu schlafen. Man legt sich aufs Sofa, und ssst … schon ist die Müdigkeit verflogen! Man braucht sich nur die Augen zu reiben und wieder aufzustehen, und schon fängt alles wieder an.

Der Kellner: Was für eine blühende Phantasie Sie haben!

Garcin: Halten Sie den Mund. Ich werde nicht schreien, ich werde nicht stöhnen, aber ich will der Situation ins Gesicht sehen. Ich will nicht von ihr überfallen werden, ohne daß ich sie hätte erkennen können. Blühende Phantasie? Also man hat nicht einmal das Bedürfnis nach Schlaf. Wozu auch schlafen, wenn man nicht müde ist? Großartig. Moment mal. Moment mal: Warum ist denn das so quälend? Warum ist denn das zwangsläufig quälend? Ich hab's: ein Leben ohne Unterbrechung.

Der Kellner: Was für eine Unterbrechung?

Garcin macht ihn nach: Was für eine Unterbrechung? Mißtrauisch: Sehen Sie mich an. Ich war sicher! Das erklärt die plumpe, unausstehliche Aufdringlichkeit Ihres Blicks. Tatsächlich, sie sind gelähmt.

Der Kellner: Wovon sprechen Sie denn?

Garcin: Von Ihren Augenlidern. Wir nämlich machen die Augenlider auf und zu. Zwinkern nannte man das. Ein kleiner schwarzer Blitz, Vorhang zu, Vorhang auf: Das war die Unterbrechung. Das Auge wird feucht, die Welt verschwindet. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erholsam das war. Viertausend Pausen in einer Stunde. Viertausend kleine Fluchten. Und wenn ich sage viertausend … Und jetzt? Ich werde also ohne Augenlider leben? Sehen Sie mich doch nicht so dämlich an! Ohne Augenlider, ohne Schlaf, das ist doch dasselbe. Ich werde nicht mehr schlafen können … Aber wie kann ich mich dann ertragen? Versuchen Sie mal, sich das vorzustellen, los, strengen Sie sich an: Ich bin ein Widerspruchsgeist, verstehen Sie, und ich … ich provoziere gern. Aber ich kann nicht pausenlos provozieren. Da unten gab es Nächte. Ich schlief. Ich hatte einen sanften Schlaf. Als Ausgleich. Ich gönnte mir einfache Träume. Eine Wiese … Eine Wiese, sonst nichts. Ich träumte, daß ich darüberging. Ist eigentlich Tag?

Der Kellner: Sie sehen doch, daß die Lampen an sind.

Garcin: Natürlich. Das ist Ihr Tag. Und draußen?

Der Kellner verdutzt: Draußen?

Garcin: Draußen! Hinter diesen Wänden?

Der Kellner: Da ist ein Flur.

Garcin: Und am Ende des Flurs?

Der Kellner: Da sind andre Zimmer und andre Flure und Treppen.

Garcin: Und dann?

Der Kellner: Das ist alles.

Garcin: Sie haben doch sicher mal einen freien Tag. Wo gehen Sie dann hin?

Der Kellner: Zu meinem Onkel, der Oberkellner ist im dritten Stock.

Garcin: Das hätte ich mir denken können. Wo ist der Schalter?

Der Kellner: Es gibt keinen.

Garcin: Man kann also das Licht nicht ausmachen?

Der Kellner: Die Direktion kann den Strom abschalten. Aber ich erinnere mich nicht, daß sie es in diesem Stock irgendwann mal getan hätte. Strom ist bei uns umsonst.

Garcin: Schön. Also man muß mit offenen Augen leben …

Der Kellner ironisch: Leben …

Garcin: Reiten Sie doch nicht auf einem Wort herum. Mit offenen Augen. Immer. Es wird heller Tag in meinen Augen sein. Und in meinem Kopf. Pause. Und wenn ich die Bronzefigur nach der elektrischen Lampe schmeiße? Geht sie dann aus?

Der Kellner: Sie ist zu schwer.

Garcin packt die Bronzefigur und versucht, sie hochzuheben: Sie haben recht. Sie ist zu schwer.

Schweigen.

Der Kellner: Also wenn Sie mich jetzt nicht mehr brauchen, lasse ich Sie allein.

Garcin zuckt zusammen: Sie gehen? Auf Wiedersehen. Der Kellner wendet sich zur Tür. Warten Sie! Der Kellner dreht sich um. Ist das da eine Klingel? Der Kellner nickt. Kann ich nach Ihnen klingeln, wenn ich will, und Sie müssen dann kommen?

Der Kellner: Im Prinzip, ja. Aber sie hat ihre Mucken. Irgendwas klemmt an ihrem Mechanismus.

Garcin geht zur Klingel und drückt auf den Knopf. Es klingelt: Sie...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2023
Übersetzer Traugott König
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Existenzialismus • Hölle • Huis clos • Klassiker • Philosophie
ISBN-10 3-644-01879-0 / 3644018790
ISBN-13 978-3-644-01879-2 / 9783644018792
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