Chor der Erinnyen (eBook)
188 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77747-3 (ISBN)
In ihrer Parallelgeschichte zum Bestseller Die Kieferninseln schreibt Marion Poschmann humorvoll, poetisch und höchst originell über Kontrollverlust, aufdringliche Freundinnen und aufbegehrende Mütter, über den Frevel an der Natur und ihre fragile Schönheit, über die Dämonisierung von Frauen und die Kraft der Verbundenheit.
Mathildas Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, ohne Erklärung. Ob ihr das Sorge bereitet, lässt sie sich nicht anmerken. Sie, die Studienrätin für Mathematik und Musik, betrachtet die Dinge mit nüchterner Gelassenheit. Als eine Freundin aus Kindertagen auftaucht, ihre sonst so zurückhaltende Mutter plötzlich über eine geheimnisvolle Macht zu verfügen scheint und sie selbst von Visionen heimgesucht wird, kippt jedoch ihre rationale Welt ins Unheimliche. Hat sie von ihrer Mutter das Zweite Gesicht geerbt? Es kommt zu Waldbränden und skurrilen Heilritualen, es kommt Wind auf, dessen Flüstern ihr seltsam vertraut erscheint. Hört sie tatsächlich den Chor der Erinnyen?
Marion Poschmann wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband <em>Nimbus</em> und im selben Jahr mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.
Magnetsinn
Mathilda goss den Tee auf und nahm eine zweite Tasse aus dem Schrank. Sie war froh, ausnahmsweise eine der alten Sammeltassen in Gebrauch zu haben, dünnes Porzellan, farbiges Art-déco-Muster, Goldornamente. Sie griff ein Exemplar mit nostalgischen Ranken, das Birte gefallen würde. Sonst benutzten sie das einfache weiße Geschirr, das man in die Spülmaschine stellen konnte. Birte öffnete eine Brottüte aus braunem Packpapier, die sie selbst zusammengeklebt hatte, und rollte den Rand so weit herunter, dass die Croissants sichtbar wurden, die sie selbst gebacken hatte, allerdings am Vortag. Sie saß auf der Kante des Küchenstuhls und hielt sich sehr gerade. Der selbstgestrickte Wollpullover, der verwaschene lange Rock, die klobigen Sandalen, die ausgeleierten Ringelsocken – sämtliche Kleidungsstücke hingen seltsam unverbunden an ihrem Körper, als probe eine Ballerina die Rolle der Landstreicherin. Birtes Kleidungsstil war seit ihrer gemeinsamen Schulzeit nahezu unverändert geblieben. Sie ging praktisch in Lumpen, legte aber großen Wert auf schadstoffarme Materialien, gedeckte Farben, ressourcenschonendes Verhalten.
Es waren gebrauchte Teile vom Flohmarkt, gerüschte Erbstücke aus ihrer Verwandtschaft, ländliche Arbeitstrachten, gleichzeitig hochwertig und verschlissen. Und egal was sie trug, die theatralisch inszenierte Einfachheit übte auf Mathilda noch immer einen Zauber aus, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Ich wusste ja, dass du früh aufstehst, hatte Birte in ihrem vertraulichen Ton zur Begrüßung geflüstert, und Mathilda hatte nur zustimmend genickt, denn selbstverständlich war sie eine tätige Person, die auch am Wochenende nicht lange schlief, sondern zeitig ihren Tageslauf begann, und sie wollte von sich selbst glauben, sie fände durchaus nichts dabei, morgens um halb sechs von einer alten Freundin aufgesucht zu werden, die sie jahrelang nicht gesehen hatte. Birte spielte auf eine Gemeinsamkeit an, ein intimes Wissen, wer wann wach wurde, und sofort lag Mathilda etwas daran, an dieser Gemeinsamkeit festzuhalten, auch wenn sie selbst sich daran überhaupt nicht erinnern konnte.
Offenbar gab es da etwas von früher, eine Stunde der Nähe und Verschworenheit, Kissenschlacht, raschelnde Bettdecken, Gruselgeschichten, Hand in Hand einschlafen, Mathilda schien solch eine Innigkeit sehr weit entfernt, aber es rührte sie, dass Birte ohne weiteres daran anknüpfen konnte. Sie versuchte dem nachzuspüren, nur für einen Moment, fast reichte sie bis dorthin, aber dann entglitt ihr alles. Und überhaupt: Wollte sie wirklich, dass Birte sie immer noch als kleines Mädchen im Schlafanzug vor sich sah?
Aber dein Mann, hatte Birte nachgesetzt, ist er auch schon wach? Und Mathilda dachte, dass er spätestens von Birtes Klingeln wach geworden wäre und dass es lächerlich war, jetzt zu flüstern.
Er ist auf einem Kongress, sagte sie knapp und führte Birte in die Küche, damit sie das Thema nicht weiter vertiefte.
Birte war mit dem Nachtzug gekommen und brauchte Geld. Sie betrieb ein Keramikcafé in Nordfriesland, was bedeutete, dass sie in einer ausgebauten Scheune biologisch-dynamischen Kuchen auf selbstgetöpfertem Geschirr servierte. Sie verwendete dafür eine blassblaue Glasur, die dem groben Steinzeug einen melancholischen Reiz verlieh, und ihre Gäste stellten überrascht fest, dass Öko auch schön sein konnte.
Das Café lief prinzipiell gut, im Winter aber verschlang die Beheizung der Scheune solche Unsummen, dass die paar Besucher, die nach einem Schneespaziergang bei ihr einkehrten, die Kosten nicht wettmachen konnten.
Mathilda hatte kalte Füße, aber sie kam nicht dazu, Birte zu unterbrechen. Sie schob die Zehen übereinander, versuchte, den Fliesenboden nur an einer Stelle zu berühren, sie saß verdreht und verkrampft in ihrer eigenen Küche.
Sie wollte ihr raten, im Winter zu schließen und in dieser Zeit in Ruhe zu töpfern, aber sie konnte schon absehen, dass Birte sich darauf nicht einlassen würde.
Im Winter müsse das Café unbedingt geöffnet bleiben. Ein ganz anderes Licht auf den Glasuren, das den Himmel tief ins Innere bringe, eine Gemütlichkeit, nicht anbiedernd heimelig, sondern von kühler Klarheit, so dass der Besuch in ihrem Café eine letztlich reinigende, wenn nicht therapeutische Wirkung habe, die einige ihrer Gäste besonders schätzten. Nur zu frostig dürfe es nicht werden, weil die Leute ihre Mäntel ablegen wollten, daher gehe es darum, die Scheune entweder noch mehr zu beheizen als bisher oder, und das wäre die umweltfreundlichere Variante, sie vollständig zu dämmen. Dafür gebe es schon ein Konzept, nur der Finanzierungsplan stünde noch nicht.
Birte nippte vorsichtig am Tee, ihre Croissants rührte sie nicht an. Sie redete unentwegt, sie hielt die Tasse so locker, dass Mathilda fürchtete, sie würde sie fallen lassen. Aber sie fragte nicht, ob Mathilda ihr Geld leihen konnte, auch wenn sie stillschweigend davon ausging, dass Mathilda, kinderlos und doppelverdienend, ausreichend Rücklagen gebildet hatte, für die sie keine Verwendung fand.
Mathilda zog die Füße unter sich und hockte sich auf die Fersen. Es war sehr unbequem und keine Verbesserung.
Im letzten Brief von Birte, den sie unbeantwortet gelassen hatte, war es auch um die Scheune gegangen. Birte wollte das Anwesen kaufen und brauchte Kapital. Warum sie ausgerechnet auf Mathilda verfiel, war unverständlich. Birte stammte aus einer wohlhabenden Familie, ihre Eltern und sämtliche Verwandte besaßen ein erhebliches Vermögen, aber sie unterstützten Birte nicht unendlich, wahrscheinlich aus pädagogischen Gründen und weil sie genau wussten, wo sich eine Investition lohnte und wo nicht.
Mathilda hingegen war diejenige aus einfacheren Verhältnissen gewesen. Das Kind, das in der Schule gute Noten haben musste, weil dies das einzige Kapital war, mit dem die Familie wuchern konnte. Sie hatte dementsprechend die besten Noten gehabt und einen sicheren Beruf ergriffen, den sie nicht liebte, aber ohne große Mühe auszuüben imstande war. Mathematik fiel ihr allzu leicht, Musizieren konnte jeder, sie war kein Risiko eingegangen. Das hatte Birte ihr über Jahre hinweg vorgehalten. Birte sprach nicht darüber, aber Mathilda wusste genau, dass Birte sie zu streberhaft fand, und sie hatte damals ihre hochmütigen, fast verächtlichen Blicke gesehen, die auf der Einrichtung von Mathildas Eltern ruhten, wenn Birte bei ihr Hausaufgaben machte, sich helfen ließ, das meiste abschrieb und dann doch in Tränen ausbrach, weil sie nicht einmal die Aufgabenstellung verstanden hatte.
Birte nippte am Tee und betonte, wie glücklich sie sei, Mathilda nach längerer Zeit endlich wiederzusehen. Sie sprach von alter Freundschaft, sogar von Sehnsucht, Sehnsucht nach Mathilda, das musste man erst einmal wagen!, dann schilderte sie umständlich ihre Anreise mit dem Nachtzug von der Nordsee, und Mathilda begann zu begreifen, dass Birte in der Stadt irgendeine Absicht verfolgte, der Zug aber so früh angekommen war, dass sie noch etwas Zeit überbrücken musste. Und dazu war ihr ausgerechnet Mathilda eingefallen?
Die Sache ist die, sagte Mathilda. Sie müsse gleich aufbrechen, sie sei für das Wochenende verabredet. Birte blickte betreten in ihre Tasse. Dann fing sie sich plötzlich, setzte ein Lächeln auf und beschied, sie habe in der Stadt noch etwas zu erledigen, aber dann käme sie gern mit.
Mathilda hieb die Zähne in das pappige Croissant, nickte mechanisch und ärgerte sich, dass sie sich noch nicht einmal gekämmt hatte. Hier war der Punkt, an dem sie Birte vor die Tür setzen musste, an dem Abgrenzung gefragt war, ein klares Nein, wie es ihr in jedem anderen Zusammenhang leicht von den Lippen kam, aber sie erinnerte sich an die Erscheinung vom Vortag, das wässrige und, wie es aussah, bedürftige, geradezu hilfesuchende Bild, und ihr wurde klar, dass sie Birte vielleicht wegschicken, aber sich des Bildes von ihr nicht erwehren konnte. Dass es sie heimsuchen würde, in den Wahnsinn treiben, dass es ein Zeichen war, auf das sie wohl oder übel reagieren musste, und so legte sie Birte dar, was sie in diesen Tagen vorhatte. Erstens kurzer Besuch bei ihrer Mutter, zweitens und mit Übernachtung verbunden ein Besuch bei Olivia in ihrem Wochenendhaus. Sie wollten wandern gehen, lange Touren, nicht gerade Extremsport, aber Birte mit...
Erscheint lt. Verlag | 11.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-518-77747-5 / 3518777475 |
ISBN-13 | 978-3-518-77747-3 / 9783518777473 |
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