Tasmanien (eBook)

Roman | Das Buch, das uns die Gegenwart erklärt
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
280 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77744-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tasmanien -  Paolo Giordano
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Tasmanien ist ein Roman über unsere Gegenwart. Über unsere Sehnsüchte und Verwundbarkeiten. Er erinnert uns daran, dass wir alle auf der Suche sind: nach einem Ort, der Rettung verspricht, einem Ort, an dem eine Zukunft möglich scheint und wir weniger allein sind.

Es gibt Momente, in denen sich plötzlich alles ändert und unser Leben eine Wendung nimmt. Paolo ist Anfang vierzig, Journalist und Autor von Romanen. Er lebt mit seiner Frau und seinem Stiefsohn in Rom, alles scheint in Ordnung zu sein. Bis er erkennen muss, dass er nie selbst Vater werden wird. Von diesem Moment an entgleist ihm sein Leben: sein Buchprojekt stagniert, sein bester Freund wendet sich von ihm ab, seine Frau scheint ihm fremd. Um seinen eigenen Dämonen zu entfliehen, beschäftigt sich Paolo immer eingehender mit der Welt, die ihn umgibt: dem Klimawandel, dem Terrorismus. Doch während er glaubt, die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, findet er schließlich Trost, wo er ihn nicht vermutet hätte ...



Paolo Giordano ist 1982 in Turin geboren und promovierter Physiker. Sein Deb&uuml;troman, <em>Die Einsamkeit der Primzahlen</em>, wurde zum internationalen Bestseller. Er schreibt Drehb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke und Kolumnen f&uuml;r den <em>Corriere della Sera</em>. Sein j&uuml;ngster Roman <em>Tasmanien </em>stand in Italien monatelang auf der Bestsellerliste und gilt als meistgelesenes Buch des Jahres 2022. Giordano lebt mit seiner Familie in Rom.

Im November 2015 fand ich mich in Paris wieder, um an einer Konferenz der Vereinten Nationen über den Klimawandel teilzunehmen. Ich sage, ich fand mich wieder, nicht weil ich mir diese Situation nicht ausgesucht hätte: Im Gegenteil, die Umweltfrage beschäftigte mich seit Längerem im Kopf und in meinen Lektüren. Aber hätte da nicht eine Konferenz übers Klima in Aussicht gestanden, hätte ich vermutlich einen anderen Vorwand gefunden, um aufzubrechen, einen bewaffneten Konflikt, eine humanitäre Katastrophe, eine andere und größere Sorge als meine eigenen, von der ich mich vereinnahmen lassen konnte. Vielleicht beschäftigen sich daher einige von uns obsessiv mit drohenden Katastrophen, haben einen Hang zu Tragödien, den wir für edelmütig halten und der, glaube ich, in dieser Geschichte im Mittelpunkt stehen wird: das Bedürfnis, bei jedem schwierigen Schritt in unserem Leben etwas noch Schwierigeres zu finden, etwas noch Dringlicheres und Bedrohlicheres, worin wir unser persönliches Leiden aufgehen lassen können. Vermutlich hat das mit Edelmut wirklich überhaupt nichts zu tun.

Es war eine merkwürdige Zeit. Meine Frau und ich hatten etwa drei Jahre lang immer wieder versucht, ein Kind zu bekommen, und uns dabei immer demütigenderen ärztlichen Prozeduren unterworfen. Auch wenn ich der Genauigkeit halber sagen müsste, dass vor allem sie sich diesen Prozeduren unterwarf, denn in meinem Fall war es ab einem bestimmten Punkt hauptsächlich darum gegangen, die Rolle des betroffenen Zuschauers einzunehmen. Trotz unserer blinden Entschlossenheit und einer nicht unbeträchtlichen Summe investierten Geldes ließ der Plan sich nicht verwirklichen. Nicht die Injektion von Gonadotropinen, nicht die künstliche Befruchtung und auch nicht die verzweifelten Reisen ins Ausland, von denen wir niemandem gegenüber ein Wort erwähnten. Die göttliche Botschaft in diesen wiederholten Fehlschlägen war klar: All das soll nicht euer Schicksal sein. Da ich mich weigerte, das anzuerkennen, hatte Lorenza auch für mich entschieden. Eines Nachts hatte sie mir mit schon getrockneten Tränen oder ganz ohne zu weinen (das werde ich nie wissen) mitgeteilt, dass sie nicht mehr die Absicht hätte. Sie hatte diese offene Formulierung gewählt, ich habe nicht mehr die Absicht, ich hatte mich auf die Seite gedreht und ihr meinerseits den Rücken zugekehrt, Wut stieg in mir auf über eine Entscheidung, die mir ungerecht und einseitig erschien.

In diesen Tagen lag mir meine kleine persönliche Katastrophe mehr am Herzen als die planetarische, von der Zunahme an Treibhausgasen, dem Schmelzen der Gletscher bis zum Anstieg des Meeresspiegels. Einzig aus dem Grund, um rauszukommen, bat ich den Corriere della Sera um eine Akkreditierung für die Konferenz in Paris, auch wenn die Bewerbungsfrist abgelaufen war. In der Tat musste ich sie beschwören, als ginge es für mich um ein unverzichtbares Ereignis. Sie würden mir nur den Flug und meine Beiträge bezahlen müssen. Unterkommen würde ich bei einem Freund.

Giulio wohnte zur Miete in einer düsteren Zweizimmerwohnung in der Rue de la Gaîté im 14. Arrondissement. Straße der Heiterkeit?, fragte ich beim Eintreten. Das passt ja nicht so zu dir.

Du hast recht. An deiner Stelle würde ich keine hohen Erwartungen haben.

Vor Jahren hatten wir uns in Turin eine Wohnung geteilt, Giulio als Student von außerhalb, ich als Privilegierter, der zum ersten Mal nicht zuhause wohnt, auch wenn die Eltern nur eine halbe Stunde Busfahrt entfernt waren. Im Gegensatz zu mir war Giulio nach dem Studienabschluss bei der Physik geblieben. Er hatte unzählige Male die Stelle gewechselt, immer in Europa, weil er eine unüberwindliche politische Aversion gegen die Vereinigten Staaten hegte. In der Zwischenzeit hatte er geheiratet und war geschieden worden, er hatte einen Sohn und war schließlich in Frankreich gelandet mit einem Forschungsauftrag an der École Polytechnique, wo er sich mit der Anwendung von Modellen der Chaostheorie auf den Finanzmarkt beschäftigte.

Abends aßen wir zwei Portionen Nudeln wie Zwanzigjährige, ohne den Tisch zu decken, und ich erzählte ihm vom Grund meines Besuchs in Paris, dem offiziellen Grund. Giulio holte ein Buch aus dem Regal. Hast du das gelesen?

Ich verneinte und ließ die Seiten unter dem Daumen durchlaufen. Kollaps, murmelte ich, das scheint mir passend.

Es gibt darin einen interessanten Punkt zur Vernichtung. Behalte es.

Das Wort Vernichtung ging mir eine Weile lang im Kopf herum, wie das Etikett zu einem persönlichen Schicksal. Ich räumte die Teller ab, während Giulio mir rasch das Neuste über Adriano erzählte, der schon vier Jahre alt war. Durch die Kohlehydrate war ich ein wenig schläfrig geworden, aber der Wein war alle, also gingen wir aus dem Haus, um weiter zu trinken.

Paris war militarisiert, düster. Wenige Tage zuvor waren während eines Auftritts der Eagles of Death Metal Attentäter in den Konzertsaal eingedrungen und hatten minutenlang in die Menge geschossen. Andere Terroristen hatten Bistrots angegriffen und zwei hatten sich vor dem Stade de France in die Luft gesprengt. An diesem Abend war ein befreundetes Paar zum Abendessen bei uns, und es war Lorenzas Mutter, die uns benachrichtigte. Beim ersten Anruf war sie nicht hingegangen, auch beim zweiten nicht, aber diese Beharrlichkeit war verdächtig, und am Ende hatte sie nachgegeben. Ihre Mutter hatte nichts weiter gesagt als Macht den Fernseher an, während sich auf unseren Handys die Nachrichten überschlugen. Wir hatten die Live-Berichterstattung über eine Stunde lang verfolgt, schweigend, dann waren die Freunde gegangen, getrieben von der völlig irrationalen Notwendigkeit, den Sohn zuhause zu überwachen. Lorenza und ich hatten den Fernseher noch lang angelassen, der rote Kriechtitel mit den neuesten Nachrichten am unteren Bildrand, die Meldungen begannen sich zyklisch zu wiederholen. Die Teller standen noch auf dem Tisch, kalt, als etwas anderes zu unserer Bestürzung hinzutrat: ein privater Schrecken. Ein Gefühl von Trauer ohne Verlust, das über der Wohnung hing, genau seit der Nacht, als sie Ich habe nicht mehr die Absicht gesagt hatte und ich mich auf die andere Seite gedreht hatte.

Giulio und ich gingen eine Weile dahin, vorbei an Massagesalons mit verdunkelten Fenstern, Geschäften mit Sex-Spielzeug und asiatischen Garküchen. Dann setzten wir uns irgendwohin, die Stühle zur Straße gekehrt, und bestellten zwei Bier. Er erzählte von den Büchern, die er gelesen hatte: Texte über die digitale Überwachung, über den arabischen Frühling und neue Populismen. Giulio las eine Unmenge Bücher. Er hatte eine wesentlich komplexere Weltsicht als ich, war viel engagierter, und das war er, seitdem ich ihn kannte. An der Universität hatte er zwei Jahre lang das Kollektiv der Aula B1 koordiniert, im Souterrain, wo No Nukes Poster hingen und ein Foto von Oriana Fallaci, den Namen zu URINA entstellt, während ich nur in der Mittagspause in die B1 hinunterging und auch nur, um mit ihm zusammen zu sein, als ob diese Nähe genügte, um ein wenig bewusster, ein wenig ethischer zu werden.

In der Rue de la Gaîté hörte ich ihm Bier trinkend zu. Ich ließ meinen Geist von seiner unfehlbaren Kompetenz läutern, vom Autolärm, von der Brown’schen Bewegung der Menschen. In den kurzen Gesprächspausen richteten wir beide unsere Blicke anderswohin, und in diesen Momenten schien es mir, als sähen wir dieselbe Szene vor uns: ein schwarzes Gespenst, das aus der Menge auftauchte und die Arme zum Himmel erhob, bevor es das Lokal mit Maschinengewehrsalven belegte. So wie ich mich tief im Inneren fühlte – steril, der Zukunft beraubt –, wünschte sich ein Teil von mir, dass das wirklich geschähe. Das war eine idiotische und schädliche Fantasie, voller Selbstmitleid, aber ich gestattete sie mir, auch wenn ich Giulio nichts davon sagte. Ich hatte nie mit ihm über die Kinderfrage gesprochen. Wir hatten stets eine Freundschaft gehabt, in der man über die äußere Welt sprach und so wenig wie möglich über sich selbst, und wahrscheinlich hat sie deshalb so lange gehalten.

Am nächsten Morgen nahm ich den RER B und dann einen Bus, um nach Le Bourget zu gelangen, wo die UN-Klimakonferenz COP21 stattfand. Die Kontrollen am Eingang waren lästig, aber einmal drinnen, konnte man sich frei bewegen. Pavillons, kleine und mittelgroße Säle, Plenarsitzungen und parallele Meetings, nach...

Erscheint lt. Verlag 20.8.2023
Übersetzer Barbara Kleiner
Sprache deutsch
Original-Titel Tasmania
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-518-77744-0 / 3518777440
ISBN-13 978-3-518-77744-2 / 9783518777442
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