Groll (eBook)
238 Seiten
Folio Verlag
978-3-99037-149-7 (ISBN)
Gianrico Carofiglio, geboren 1961 in Bari, arbeitete jahrelang als Richter, Senator und Anti-Mafia- Staatsanwalt und beschäftigte sich schon früh intensiv mit Verhörtechniken und Aussagepsychologie. Ihn faszinieren die Tiefen der menschlichen Seele, die Ursachen einer Straftat, die Kluft zwischen Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, der Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Nebenbei besitzt er den schwarzen Gürtel im Karate und kritisiert die westliche Kultur des Narzissmus. Seine Bücher, inzwischen millionenfach verkauft, sind in 28 Sprachen übersetzt.
Gianrico Carofiglio, geboren 1961 in Bari, arbeitete jahrelang als Richter, Senator und Anti-Mafia- Staatsanwalt und beschäftigte sich schon früh intensiv mit Verhörtechniken und Aussagepsychologie. Ihn faszinieren die Tiefen der menschlichen Seele, die Ursachen einer Straftat, die Kluft zwischen Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit, der Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Nebenbei besitzt er den schwarzen Gürtel im Karate und kritisiert die westliche Kultur des Narzissmus. Seine Bücher, inzwischen millionenfach verkauft, sind in 28 Sprachen übersetzt. Bei Folio sind erschienen: Carlotto/ Carofiglio/De Cataldo: Kokain. Crime Stories (2013), Trügerische Gewissheit (2016) und Drei Uhr morgens (2019/2023).
2.
Wenn ich meine Mandanten (sie so zu nennen fällt mir noch immer schwer) in Diegos Bar treffe, komme ich etwas früher, um noch ein bisschen mit ihm zu plaudern, wenn er nicht zu beschäftigt ist. Das erinnert mich an die Zeit, als ich noch eine richtige Arbeit hatte. Eine halbe Stunde vor jedem Termin – Verhandlung, Ermittlungsverfahren, Anwaltstreffen – traf ich in der Staatsanwaltschaft ein und wechselte ein paar Worte mit meinen Mitarbeitern. Das ist eines der Dinge, die ich vermisse.
„Ciao, Diego.“
„Ciao, Penny, hast dich schon ein Weilchen nicht mehr blicken lassen. Alles gut?“
„Alles gut wäre übertrieben. Bei dir?“
Er zog eine Miene, die ich an ihm nicht kannte und nicht zu deuten vermochte, und sah mich an, als wollte er etwas sagen, fände aber die Worte nicht. Dann fragte er: „Brauchst du das Büro?“
Ich nickte.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“
Am Tresen standen nur zwei Gäste. Diego sagte zu seiner jungen kolumbianischen Angestellten Maria, er würde draußen eine rauchen gehen.
„Was ist los?“, fragte ich, als wir beide mit einer brennenden Zigarette vor der Tür standen. Es war kalt, der Himmel war grau und schwer, bald würde es regnen.
„Gestern waren wir wegen der Scheidung beim Richter.“
„Ah, verstehe. Der Moment ist gekommen.“
Er zog die Nase hoch. Blickte mich verzagt und niedergeschlagen an. Seine Augen waren feucht. Wenn jemand weint oder kurz davor ist, macht mich das befangen. Ich fühle mich verantwortlich, auch wenn ich nichts dafürkann, und ich mag es nicht, mich verantwortlich zu fühlen. Ich versetzte ihm einen linkischen Klaps auf die Schulter.
„Komm schon, das war doch eine gemeinsame Entscheidung.“
„Ich habe dir den Grund nie erzählt.“
„Nein, stimmt.“
„Ich bin schwul.“
Ich schwieg. Rauchte.
„Sag nicht, du wusstest es.“
„Na schön, ich sag’s nicht.“
„Wie bist du draufgekommen? Wann?“, fragte er mich halb verblüfft, halb erleichtert.
Ich war kurz davor zu antworten: Weil du mich nie angebaggert hast. Doch wäre das in mehrfacher Hinsicht daneben gewesen.
„Ich habe mir darüber keine besonderen Gedanken gemacht. Ich habe nur gedacht, du könntest schwul sein. Vielleicht wegen der Art, wie du mich umsorgst, wegen deiner Freundlichkeit, deiner Aufmerksamkeit für gewisse Kleinigkeiten. Bei heterosexuellen Männern findet man das nicht oft. Ich weiß, das ist ein Klischee, aber ich kann es nicht besser auf den Punkt bringen. Keine Ahnung, wann mir das zum ersten Mal durch den Kopf ging, aber jetzt, wo du es sagst, überrascht es mich nicht.“
„Findest du es schräg?“
„Dass du homosexuell bist oder dass du dich von deiner Frau getrennt hast?“
„Beides.“
„Dass du homosexuell bist, finde ich kein bisschen schräg. Dass du dich getrennt hast, schon. Ich weiß, das klingt widersprüchlich.“
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher neben der Bartür aus.
„Du bist der erste Mensch, dem ich es sage. Danke.“
„Danke wofür?“
„Keine Ahnung. Ich will einfach Danke sagen. Dass du da bist, vielleicht. Dass du es bemerkt hast, dass du hier bist und mit mir redest.“
„Wann ist es dir klar geworden? Dass du homosexuell bist, meine ich.“
„Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls reichlich spät. Ich habe sogar ein Kind gezeugt. Rückblickend betrachtet, war es eigentlich schon immer klar. Aber offenbar sträubte ich mich dagegen und hatte nicht den Mumm, es mir einzugestehen.“
„Das ist oft so. Wir lügen uns in die Tasche, weil uns die Wahrheit samt allen Konsequenzen unerträglich erscheint. Dabei ist sie es fast nie.“
„Was denn?“
„Unerträglich. Wie kam es zu eurem Entschluss, euch zu trennen? Ist was vorgefallen oder hast du die Initiative ergriffen, um reinen Tisch zu machen?“
Ein tieftrauriges Lächeln erschien auf Diegos Gesicht.
„Ich wäre nie in der Lage gewesen, die Initiative zu ergreifen. Loredana ist dahintergekommen, dass ich eine Affäre hatte. Wenig später fand sie heraus, dass es ein Mann war. Daraufhin hat sie mich rausgeschmissen.“
„Bestimmt ist sie stinkwütend.“
„Sie tobt vor Wut. Wer weiß, ob sie genauso sauer wäre, wenn ich sie mit einer Frau betrogen hätte.“
„Natürlich wäre sie sauer geworden, aber diese Situation ist schon etwas anderes. Sie stellt die Weiblichkeit einer Frau infrage, ihre Selbstwahrnehmung. Das ist bestimmt hart, sie hat jedes Recht, wütend zu sein.“
„Es tut mir entsetzlich leid, ihr so wehgetan zu haben. Ich liebe sie genauso sehr wie vorher, sogar noch mehr. Aber sie hasst mich, und bestimmt wird sie mich für immer hassen.“
Er zog die Nase hoch.
„Sie sagt, sie wird bei der Sacra Rota gegen mich klagen. Allerdings verstehe ich den Unterschied zu einer normalen Scheidung nicht …“
„Juristische Feinheiten. Mit der Entscheidung der Sacra Rota wird die Ehe vollständig annulliert. Puff, als hätte es sie nie gegeben. Sie wird sich darauf berufen, dass du von Anfang an einen geheimen Vorbehalt hegtest und nicht wirklich die Absicht hattest, das Eheversprechen einzuhalten.“
„Ja, das sagte sie. Weißt du, Penny, ich habe Angst, dass sie unseren Sohn benutzt, um mich dafür bluten zu lassen.“
„Das ist nicht ausgeschlossen. Wie kommen eure Anwälte miteinander klar?“
„Gut, glaube ich. Die sind entspannt.“
„Dann sag deinem Anwalt, er soll seinem Kollegen gemeinsame Treffen mit einem Psychologen vorschlagen, im Interesse des Kindes. Sollten eure beiden Anwälte es tatsächlich gut meinen, werden sie sich vielleicht einig. Das könnte ihr zumindest helfen, ihre Wut in den Griff zu kriegen.“
„Das mache ich.“
Einen Moment lang starrte er gedankenverloren auf die Straße, dann seufzte er. „Weißt du, wovor ich mich am meisten fürchte?“
„Davor, es deinem Sohn zu sagen?“
„Genau.“
„Das kriegst du schon hin. Manchmal ist es viel schwieriger, sich etwas vorzustellen, als es tatsächlich zu tun.“
Ich war – bin – von dieser Behauptung nicht restlos überzeugt. Manche Dinge zu tun ist mindestens genauso schwierig. Doch wäre das zu viel der Ehrlichkeit gewesen; zumindest in diesem Moment.
„Zum Glück bist du vorbeigekommen. Ich wollte schon seit Tagen mit dir reden.“
„Ich bin nie da, wenn man mich braucht. Das musste ich mir schon verdammt oft anhören. Sei’s drum: Wieso hast du mich nicht angerufen?“
„Ich habe immer wieder daran gedacht, aber ich wusste nicht, was ich sagen oder wo ich anfangen sollte.“
„Der Typ, mit dem du die aufgeflogene Affäre hattest … seid ihr noch zusammen?“
„Nein. Als der ganze Ärger losging, hat er sich dünngemacht.“
„Na schön. Wenn dir das nächste Mal nach Reden ist, ruf mich an. Auch spätabends. Nur nicht in aller Herrgottsfrühe, sofern dir an unserer Freundschaft was liegt. Ich gehe wieder rein, gleich kommt eine Frau, die mich sprechen will.“
Diegos hinterer Gastraum ist praktisch mein Büro. Dorthin verirrt sich so gut wie nie jemand, selbst die Stammkunden wissen kaum, dass es ihn gibt. Wenn ich ihn brauche, schließt Diego die Tür, und bei Bedarf kann ich das Hoffenster öffnen und rauchen.
Die Frau kam zwei oder drei Minuten zu spät. Wir hatten uns um vier Uhr verabredet. Die friedlichste Stunde in den Mailänder Bars und in Bars überhaupt. Wenn man das Bedürfnis hat, allein etwas zu trinken, ohne angequatscht oder schief angeguckt zu werden, ist die Nachmittagsstunde zwischen vier und fünf die beste Zeit.
Zur Pünktlichkeit habe ich meine eigene Theorie. Stets auf die Sekunde pünktlich zu sein ist leicht zwanghaft; stets zu früh dran zu sein ist ein Zeichen von Unrast; stets zu spät zu kommen ist manipulative Ichbezogenheit. Ein paar Minuten zu spät zu kommen ist bedeutungslos. Oder lässt zumindest scheinbar auf einen ausgeglichenen Menschen schließen. Mit zwei Minuten Verspätung ist man pünktlich, aber nicht zwanghaft. Verliert man sich allerdings gedanklich, mündlich oder schriftlich in solcherlei Überlegungen, ist man garantiert zwangsgestört.
Sie klopfte, schaute zur Tür herein, und ich forderte sie zum Eintreten auf. Sie sah unscheinbar aus. Manche Leute hätten sie sicherlich hübsch genannt, doch in ihrem Blick lag etwas Verdrossenes, das mich, wäre ich ein Mann oder eine Frau gewesen, die auf Frauen steht, davon abgehalten hätte, sie attraktiv zu...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Übersetzer | Verena von Koskull |
Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | Chirurg • Dämonen der Vergangenheit • Einsamkeit • Ermittlerin • Freimaurer • Krimi • legal thriller • Liebe • Macht • Mailand • Penelope Spada • Primar • Psychologischer Krimi • Schuld • Single • Staatsanwältin • Universitätsprofessor |
ISBN-10 | 3-99037-149-5 / 3990371495 |
ISBN-13 | 978-3-99037-149-7 / 9783990371497 |
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