Appius und Virginia (eBook)

Roman. Übersetzt von Renate Haen, mit einem Nachwort von Ann Cotten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
400 Seiten
Manesse Verlag
978-3-641-29063-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Appius und Virginia - G. E. Trevelyan
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ein Menschenaffe, der sich als Mensch wiederfindet - der Roman einer faszinierenden Metamorphose in deutscher Erstübersetzung
Exklusive Manesse-Entdeckung einer britischen Klassikerin der Moderne

Virginia Hutton, eine studierte Soziologin, lässt sich auf ein spektakuläres Experiment ein: Sie zieht einen Orang-Utan-Säugling als Menschenkind auf. Sie wickelt ihn, füttert ihn mit der Flasche, singt ihn in den Schlaf. Virginia ist für ihren Schützling abwechselnd fürsorgliche Mutter, fordernde Lehrerin, kühl berechnende Wissenschaftlerin. Und Appius erweist sich zu ihrem und unserem Erstaunen als beeindruckend gelehriger Schüler, lernt sprechen, lesen, aufrecht stehen und gehen, schließlich seine Mahlzeiten mit Messer und Gabel einzunehmen.

Virginia bringt Appius bei, menschlich zu sein. Doch je klüger er wird, desto mehr nähert er sich jener Entdeckung, die Virginia ihm am liebsten ersparen möchte: wer er wirklich ist.

Alle Welt kennt die Geschichte, in der ein Mensch als Käfer aufwacht und versucht, mit seiner tierischen Gestalt zurechtzukommen. Wenige Jahre nach Kafka schuf G.E. Trevelyan eine umgekehrte, nicht minder beklemmende Versuchsanordnung: Ein Affe findet sich als Mensch wieder. Der Roman stellt tiefgründige Fragen nach der Conditio humana: Wer oder was ist der Mensch? Was unterscheidet ihn von seinen Artverwandten aus dem Tierreich? Und - wie weit darf die Wissenschaft bei der Vermenschlichung nicht-menschlicher Kreaturen gehen?

G. E. [Gertrude Eileen] Trevelyan (1903-1941), geboren in Bath, Somerset, besuchte das Princess Helena College und die Lady Margaret Hall in Oxford. Als Freigeist lebte sie in einer Frauenresidenz in Bermondsey, später in Kensington, und konnte sich dank eines kleinen Erbes aufs Schreiben konzentrieren. Als erste Frau wurde sie mit dem Newdigate-Preis ausgezeichnet. 1932 erschien mit «Appius and Virginia» ihr Debüt, sieben weitere Prosawerke folgten. Im Oktober 1940 erlitt sie während der deutschen Bombardements in ihrem Appartement in Notting Hill lebensgefährliche Verletzungen, denen sie wenige Monate später in einem Pflegeheim in Bath erlag.

Kapitel 3

Gierige rote und gelbe Zungen beleckten den schwarzen Schlund des Kaminschachts. Ein schwarzes Gesicht mit roten Mündern reckte seine Zungen einem Etwas oben im Tunnel entgegen: trotzige Zungen, herausgestreckt bis zur Wurzel. Voller Gewissheit, dass sie es erreichen werden. Scheitern. Werden wieder eingesogen. Schießen etwas weiter heraus. Schnell. Hab ihn. Nein. Wieder hinein. Hinein und heraus, hinein und heraus, aber das Etwas oben im Tunnel hat keine Notiz davon genommen. Jetzt sind alle Zungen auf einmal draußen, alle dehnen sich, strecken sich, vereinigen sich. Eine riesige Zunge, die Spitze außer Sichtweite oben im Tunnel; diesmal bleibt sie dort. Kehrt nicht mehr in die Münder zurück. Rote Zunge mit abgeschnittener Spitze. Rotes Taschentuch, zurückgehalten vom schwarzen Kamingitter.

Appius war allein im Kinderzimmer. Das Feuer, das Virginia soeben entzündet hatte, flackerte unstet in seinem Eisenkäfig, fasste Mut und röhrte dann den Abzug hinauf. Appius, im Bettchen unter dem weiter entfernten Fenster, sah zu, fasziniert und ängstlich zugleich. Als das Feuer zu einer kompakten roten Masse geworden war, verlor er das Interesse und starrte kummervoll durch die Gitterstäbe ins Zimmer.

Blau. Weiß. Weiße Streifen auf dem Blau. Über ihm war in der Weiße der Wand ein Rechteck blassen Blaus, nicht hell wie der Fußboden, sondern blass mit kleinen weißen Büscheln. Es waren vier weiße Linien darauf, die in der Mitte zusammenstießen, und eine andere darunter, direkt über dem Bett.

Appius hob eine Hand und berührte die untere Linie. Seine Finger schlossen sich um die Kante der Fensterbank.

Hand konnte weiße Linie halten. Füße auch? Ein Fuß wanderte unter den Falten seines Flanellnachthemds nach oben. Zwei. Appius stand auf der Fensterbank.

Hand auf weißer Linie über ihm. Finger wollten nichts fassen. Warum nicht? Etwas dort, das blassblaue Zeug. Hart und kalt. Mit weißen Büscheln probieren. Auch hart. Können nicht angefasst werden. Komisch.

Er sah hinunter. Seltsam. Von hier auf dem Sims war das blaue Zeug nur halb so groß wie von unten, und auch nicht mehr rechteckig. Dunkle Sachen waren über die eine Hälfte gewachsen, über die untere. Da war ein eckiger grüner Fleck mit einem braunen Streifen an jeder Seite, oben liefen die Streifen aufeinander zu. Außerhalb davon rote Streifen mit grünen Flecken. Manches von dem Grün war oben in das Blaue gekleckert, und einige grüne Flecken saßen an den Enden dünner brauner Streifen. Komisches Durcheinander. Und die vier weißen Linien, die er nicht anfassen konnte, kreuzten das Durcheinander und auch das Blaue.

Den braunen Streifen da unten anfassen. Seltsam. Den roten Streifen. Komisch. Fühlte sich alles gleich an. Weder Ecken noch Kanten. Nicht wie die weißen Streifen vor dem blauen Boden, die man vom Bett aus sah und anfassen konnte. Außerdem kalt, dieses ganze Durcheinander, und rutschig. Finger glitten darauf aus.

Mit einem verärgerten Grunzen kehrte Appius Fenster und Garten den Rücken, ließ sich auf sein Bett zurückgleiten und rannte auf allen vieren, in hinter ihm herflatterndem Flanell, um die Tagesdecke herum.

Ein weißes Ding war sein Ziel. Blauer Streifen rings um die Kante und, mit Abständen, kleine weiße Dinger dran. Konnte man anfassen. Und ziehen. Blauer Streifen kam frei und auch ein paar weiße Dinger. Hübsches Geräusch. Zischendes Geräusch mit kleinen Kieksern dazwischen.

Blaues Ding kommt jetzt ganz. Wickelt sich um die Füße. Denkt, es wird ihn festhalten. Langes Ding, glatt wie die komischen Dinger über dem weißen Sims, aber nicht kalt. Und weich. Töte es. Wirf es über die Bettkante. Zur Hälfte drüber. Da hängt es. Schlaff. Tot.

Ein weiteres blaues Ding rund um das Kopfkissen. Töte es auch. Seine Finger hatten sich gerade um das Band geschlossen, als sich die Tür langsam öffnete. Virginia trat auf Zehenspitzen ein, ihr von mütterlicher Sorge erfüllter Blick fiel als Erstes auf das Bett. Sie hielt inne, die Hand noch auf dem Türknauf, und verlagerte das Gewicht auf die Fersen, Beunruhigung in den Augen. Eine Sekunde, dann schloss sich die Hand fest um den Türknauf. Virginias Züge und Gestalt strafften sich. Sie machte die Tür sanft, doch sehr energisch hinter sich zu und ging zum Bettchen. Stehend blickte sie auf Appius nieder, ohne ein Wort zu sagen.

Das Aufgehen der Tür war mitten in das erste lustvolle Sirren des Satinbands geplatzt. Appius hatte dagestanden, beim Zerren auf frischer Tat ertappt; in seinen Augen, die sich strahlend auf Virginia richteten, glitzerte Unverschämtheit hinter der gewohnheitsmäßigen Skepsis. Als sie durch den Raum auf ihn zukam, riss er seine Fingernägel aus dem Band, krümmte sich unter dem Bettzeug zusammen und lag still. Über dem Rand des Lakens zwinkerte ein Auge zwischen zwei Fingern Virginia zu. Er wartete. Virginia wartete.

Dann: «Appius», sagte sie.

Das Auge zwinkerte.

«Appius.»

Ein Sprung. Tagesdecke, Überdecke und Laken flogen wild durcheinander und landeten auf dem Teppich. Das Kopfkissen, bis zur Querstange des Bettgitters emporgestemmt, hing dort einen Augenblick und fiel dann, vom eigenen Gewicht gezogen, zurück. Zu jenem Zeitpunkt, als es in das leere Bett plumpste, umrundete Appius auf allen vieren das Zimmer, die Vorderbeine fest umschlossen von rüschenbesetzten Batistärmeln, während ein zerfetztes Flanellbanner, das immer noch seine Mitte umfing, trotzig hinter ihm herflatterte.

Als er an dem fröhlich bestückten Bücherregal vorbeikam, schoss eine schrumplige Hand nach oben und umklammerte das zweite Bord. Die Füße folgten. Nächstes Bord. In Flanell und Batist verfangene Füße verfehlten ihren Halt. Appius grapschte wild um sich, fiel mit einem Plumps auf den Teppich und rollte sich zusammen, ein verwirrt schnatternder Ball aus Fell und Flanell. Er strampelte, kratzte, strampelte sich die Füße frei und flitzte schneller und schneller um die Teppichkanten, während er ärgerliche Laute von sich gab. Virginia stand reglos neben dem Bett und beobachtete ihn.

Allmählich wurde er müde, hielt am Kamingitter inne und setzte sich, mit dem Rücken zum Zimmer, streckte die Hände der Glut entgegen und schwatzte leutselig vor sich hin. Dann und wann warf er über die Schulter einen Blick auf Virginia, die grimmig das Bett in Ordnung brachte und ihm anscheinend keine Beachtung schenkte.

Als das Bett gemacht war, trat Virginia in die Mitte des Zimmers, blieb stehen und betrachtete Appius’ Rücken. Sie betrachtete ihn so eingehend, dass Appius, als er maliziös über die Schulter zwinkerte, seinen Blick plötzlich gefangen und gebannt fühlte. Unter wütendem Schnattern drehte er sich halb um.

Virginia rührte sich nicht.

Er wandte sich noch weiter um, drehte sich gestikulierend um sich selbst, bis er ihr direkt ins Gesicht sah. Ein entschuldigender Ton schlich sich in sein Geschnatter.

Virginia beobachtete ihn weiterhin, wortlos. Seine Gesten wurden abwehrend, scheu. Er schnatterte weniger laut. Er schob sich rückwärts Richtung Kamingitter. Sein Kopf wackelte vor Unbehagen hin und her. Er versuchte sich aus Virginias Blick zu befreien, aber sie hielt ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Er wimmerte leise und hob die Hände vors Gesicht.

«Bett», sagte Virginia streng und wies auf das Bettchen.

Beim Klang ihrer Stimme hörte Appius zu wimmern auf. Sein faszinierter Blick ließ ihr Gesicht nicht los, doch erkannte oder ahnte er, noch immer gefesselt, die Bedeutung des ausgestreckten Zeigefingers. Sein Gewimmer setzte erneut ein, höher diesmal; er kauerte sich gegen das Kamingitter. Seine runzligen Mundwinkel wurden schlaff, und in seinen Augenwinkeln bildeten sich große Tränen.

«Bett, Appius.»

Der ausgestreckte Finger bewegte sich nicht. Virginias Tonfall war unverändert. Die Augen starr auf sie gerichtet, immer noch weinend, kroch Appius vom Kaminvorleger, stahl sich an Virginia vorbei, wobei er sich, als er direkt neben ihr war, um die eigene Achse drehte, als wäre sie das Zentrum eines unsichtbaren Kreises, dessen Linie er zu folgen hätte, und kroch ins Gitterbett.

Virginia legte ihre Hand leicht auf die bucklige Überdecke. «Kopf raus», befahl sie.

Der Buckel erzitterte, und ein halber Zoll Kopf erschien. Virginia zog ihn sanft zur Gänze aufs Kissen und wandte sich ab. Appius lag still da, wie sie ihn gebettet hatte; er schlief bereits.

Virginia ging zu ihrem Schreibtisch und öffnete das Babytagebuch. «Heute hat Appius, wie es scheint, Gehorsam gelernt», schrieb sie. Dann lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück und drückte die Fingerspitzen gegen die Augenlider. Sie war müde, ausgelaugt von der Anstrengung des Bezwingens. Doch wenn Appius tatsächlich bezwungen war – was für ein großer Schritt in ihrem Plan. Falls er Gehorsam gelernt hatte, war es nun an der Zeit, ihm das Sprechen beizubringen, und wenn dies gelang, wäre der Rest ein Klacks. Warum sollte es nicht gelingen?

Sollte es. Ihre ganze Willensstärke, ihre ganze Suggestivkraft, ihr gesamter Vorrat an Nerven- und Geistesenergie war an dieses Experiment nicht verschwendet. Denn wenn es gelang, hätte sie in der Tat etwas erreicht. Aus rein animalischem Stoff hätte sie dann ein menschliches Wesen erschaffen, hätte die Evolution gezwungen, innerhalb weniger Jahre Stufen zu durchlaufen, für die ohne Mithilfe Äonen vonnöten gewesen wären, und hätte nicht nur den Wahrheitsgehalt der Evolutionstheorie, sondern auch die grenzenlosen Möglichkeiten von Umfeld und frühzeitiger Schulung unter Beweis gestellt.

Es musste gelingen. Falls dieses Experiment schiefging, das...

Erscheint lt. Verlag 27.3.2024
Reihe/Serie Manesse Bibliothek
Nachwort Ann Cotten
Übersetzer Renate Haen
Sprache deutsch
Original-Titel Appius and Virginia
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • 2024 • Affe • Ann Cotten • eBooks • Erstübersetzung • Erziehung • Franz Kafka • Klassiker der Moderne • Mehr Klassikerinnen • Metamorphose • Neuerscheinung • Soziologie • Verwandlung • Weltliteratur • Wissenschaft
ISBN-10 3-641-29063-5 / 3641290635
ISBN-13 978-3-641-29063-4 / 9783641290634
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,6 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99