Reykjavík (eBook)

Thriller
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-30751-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Reykjavík -  Ragnar Jónasson,  Katrín Jakobsdóttir
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Im August 1956 verschwindet die fünfzehnjährige Lára. Sie hat in ihren Sommerferien als Haushaltshilfe auf einer beschaulichen Insel südlich von Reykjavík gearbeitet - bis sie eines Tages wie vom Erdboden verschluckt ist. Das tragische Ereignis wird zu Islands berühmtestem ungelösten Fall. Dreißig Jahre später geht der Journalist Valur kurz vor dem brisanten Gipfel zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Reykjavík einer neuen Spur im Fall Lára nach und riskiert damit sein Leben. Denn wenn Lára vor 30 Jahren Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, dann hätte der Mörder gerade jetzt genug Gründe, erneut zuzuschlagen ...

Ragnar Jónasson, 1976 in Reykjavík geboren, ist Mitglied der britischen Crime Writers' Association und Mitbegründer des »Iceland Noir«, dem Reykjavík International Crime Writing Festival. Seine Bücher, darunter die preisgekrönte »Hulda-Trilogie«, werden in 21 Sprachen in über 30 Ländern veröffentlicht und von Zeitungen wie der »New York Times« und »Washington Post« gefeiert. Er lebt und arbeitet als Schriftsteller und Investmentbanker in der isländischen Hauptstadt und unterrichtet an der Universität außerdem Rechtswissenschaften.

1956


6. August

Der graue Hut flog aufs Meer hinaus.

Kristján war aus der kleinen Kabine ins Freie getreten, um den Blick über die Faxaflói-Bucht zu genießen und die Insel näher kommen zu sehen, eine kleine grüne Erhebung vor dem Hintergrund der Berge. Als die Windbö den kleinen Fischkutter traf, hatte er schnell reagiert, aber nicht schnell genug, sodass er anstatt seines Huts nur Luft zu fassen bekam. Obwohl er es nie offen ausgesprochen hätte, fand er, dass es Schlimmeres gab als diesen Verlust – der Hut, ein Weihnachtsgeschenk von seiner Verlobten, hatte eigentlich nicht so richtig zu ihm gepasst. Jetzt hatte er einen Vorwand, sich einen neuen zu kaufen.

Zwar würde er nun seinen Besuch auf Viðey, der Insel direkt vor der Küste bei Reykjavík, ohne Kopfbedeckung absolvieren müssen. Aber was machte das schon, wenn das Ganze ohnehin wahrscheinlich reine Zeitverschwendung war? Kristján war noch keine dreißig und wurde normalerweise nicht mit irgendwelchen wichtigen Aufgaben betraut, aber an diesem langen Augustwochenende – am Montag war Kaufmannstag, ein Feiertag – war sein Vorgesetzter verreist.

Hier auf dem Boot allerdings, unter dem bedeckten Himmel und ohne Schutz vor dem böigen Wind, hatte man das Gefühl, dass der kurze isländische Sommer schon vorbei war. Da es keine regelmäßige Fährverbindung zur Insel gab, hatte Kristján improvisieren und einen Bekannten, einen alten Fischer, bitten müssen, ihn überzusetzen.

»Wir sind schon fast da«, rief der Bootsführer jetzt mit heiserer Stimme vom Ruderhaus.

Kristján nickte, obwohl es niemand sehen konnte, und schloss noch einen weiteren Knopf an seiner Jacke, um sich vor der Kälte zu schützen. Immerhin brachte der Ausflug einen Tapetenwechsel, dachte er, bemüht, die Sache positiv zu sehen – auch wenn sonst nichts dabei herauskommen würde.

Eine Frau von schätzungsweise Anfang dreißig erwartete ihn am Anleger. Kristján hatte den Fischer gebeten, ihn in anderthalb Stunden wieder abzuholen. Nach der Rückkehr nach Reykjavík wäre dann der ganze Vormittag für diesen Besuch draufgegangen.

Die Frau streckte die Hand aus. »Ich bin Ólöf Blöndal. Willkommen auf Viðey.« Ihre Miene war ernst, und sie lächelte nicht.

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Kristján«, erwiderte er. Etwas an Ólöfs Art war ein bisschen seltsam, dachte er. Sie wirkte, als ob sie etwas zu verbergen hätte, und zugleich hätte er schwören können, dass sie erleichtert war, ihn zu sehen.

»Hier entlang«, sagte sie zaghaft und ging voran über den grasbewachsenen Hang hinter dem Anleger. Er folgte ihr, schaute auf ihre kurzen roten Haare und ihren dicken Wollpullover.

Zwei auffällige weiße Gebäude mit roten Dächern tauchten zwischen den beiden grünen Hügeln der Insel auf: das alte Gutshaus aus der dänischen Kolonialzeit und daneben die kleine Kirche. Als sie näher kamen, fiel Kristján auf, wie verfallen sie wirkten – die Farbe blätterte von Wänden und Fensterrahmen ab. Dahinter sah er ein paar baufällige Nebengebäude, eines davon wohl ein ehemaliger Kuhstall, Überbleibsel aus der Zeit, als hier noch ein Bauernhof gewesen war. Auf halbem Weg blieb Ólöf stehen, drehte sich um und sagte: »Dort gehen wir allerdings nicht hin. Mein Mann ist zu Hause – wir wohnen ganz in der Nähe.«

Kristján nickte. »Ist es denn nicht …«

Sie unterbrach ihn. »Wir haben die Schlüssel zum Gutshaus, aber dort wohnt niemand. Es ist ein bisschen verwahrlost, aber eigentlich noch relativ gut in Schuss für so ein altes Haus. Wussten Sie, dass es zweihundert Jahre alt ist? Das älteste Steingebäude in Island.«

»Dieses Mädchen – Lára …«

Wieder fiel sie ihm ins Wort. »Sie sprechen am besten mit meinem Mann.«

Kristján stapfte neben ihr her, und eine Weile schwiegen beide. Auf der Insel wehte ein böiger Wind, doch es war hier wärmer als während der Überfahrt. Nachdem sie ein paar Minuten gegangen waren, fragte er: »Entschuldigen Sie, aber Sie sagten, dass Sie hier wohnen, Sie und Ihr Mann?«

»Wir sind im Frühling hergezogen, in ein Haus, das meiner Familie gehört. Den letzten Sommer haben wir auch hier verbracht. Es ist …« Sie hielt inne. »Es ist einfach einmalig.«

Kristján bezweifelte es nicht. Die Insel war gewiss ein idyllisches Fleckchen, die grünen Wiesen eingefasst vom blauen Wasser der Bucht, mit dem Bergmassiv des Esja im Hintergrund. Und doch fehlte es Ólöfs Worten in seinen Ohren an Überzeugung.

Ein wenig verlegen fuhr sie fort: »Es ist nicht mehr weit bis zu unserem Haus. Es liegt ungefähr auf halbem Weg zwischen dem Gutshaus und der alten Schule.«

Während sie weitergingen, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Er war gerne an der frischen Luft, und er hätte diesen Spätsommertag eigentlich lieber ganz anders verbracht. Vor ein paar Jahren hatten er und ein paar alte Freunde das Bergsteigen entdeckt, inspiriert durch die Nachricht von der Erstbesteigung des Mount Everest durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay im Jahr 1953. Zwar wagte Kristján nicht zu hoffen, jemals selbst solche Höhen zu erklimmen, doch er machte gute Fortschritte. Erst vor wenigen Tagen gab es die Meldung, dass der Hraundrangi im nordisländischen Öxnadalur zum ersten Mal bestiegen worden war. Kristján kannte die beiden Isländer, die den Gipfel zusammen mit einem Amerikaner erreicht hatten. Was hätte er darum gegeben, jetzt dort zu sein statt auf den sanften Hügeln von Viðey.

Aber so leicht das Terrain auch zu begehen war, er gab auf der unebenen Wiese dennoch acht, wohin er trat. Er dachte an seine Mutter, die sich oft darüber lustig machte, dass isländische Männer immer so gingen, als müssten sie über Grasbüschel steigen, auch wenn der Boden bretteben war. Sein Hauptaugenmerk lag darauf, die Insel ohne verrenkten oder verstauchten Knöchel zu verlassen – und auch nicht mit einem verdreckten Anzug. Er besaß drei Anzüge: Der hellgraue, den er heute trug, war der neueste; der Nadelstreifenanzug wirkte inzwischen schon leicht verschlissen, und den schwarzen hob er sich hauptsächlich für feierliche Anlässe wie Beerdigungen auf.

Ein altes Holzhaus tauchte vor ihnen auf. Es hatte offensichtlich seine besten Zeiten hinter sich, und die schwarze Farbe blätterte an mehreren Stellen ab. In diesem Moment schoss eine Küstenseeschwalbe zu ihm herunter, und Kristján wollte nach seinem Hut greifen, um den Vogel abzuwehren – ehe ihm mit Verspätung einfiel, dass der ja nun irgendwo in der Faxaflói-Bucht umhertrieb.

»Keine Sorge«, sagte Ólöf. »Die Brutsaison ist vorbei, sie wird Sie nicht angreifen.« Ihr Tonfall war jetzt ein wenig unbeschwerter, als ob sie in diesem Moment ganz vergessen hätte, dass ihr Begleiter ein Polizist im Dienst war.

Ihr Mann kam nicht heraus, um sie zu begrüßen. Das fiel Kristján auf, und er fragte sich, warum Ólöf geschickt worden war, um ihn vom Boot abzuholen. Hatten die beiden das einfach so unter sich geregelt, oder steckte vielleicht mehr dahinter?

»Kommen Sie rein«, sagte Ólöf ein wenig schroff, als sie das Haus erreichten.

Kristján betrat einen Hausflur, der sich als Teil des Wohnzimmers herausstellte. Es war warm im Haus, fast unangenehm heiß für die Jahreszeit.

»Óttar?«, rief Ólöf. »Óttar, er ist da.«

Kristján hörte ein Geräusch im Obergeschoss, dann hallten schwere Schritte durch das alte Holzhaus. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Ólöf weiter ins Zimmer hinein, rückte einen Stuhl an einem großen Eichentisch zurecht und bedeutete Kristján, Platz zu nehmen.

Er folgte der Aufforderung und wartete. Sie setzte sich ebenfalls.

»Guten Morgen«, sagte der Mann, der die Treppe heruntergekommen war. »Ich bin Óttar. Sie sind Kristján, nehme ich an?«

»Ja, richtig. Vielen Dank, dass Sie sich zu dem Treffen bereit erklärt haben. Ich konnte es am Telefon nur kurz erklären, aber die Sache ist die: Wir machen uns Sorgen um Lára.«

»Sie hat beschlossen zu gehen«, antwortete Óttar tonlos. »Sie hat ihre Stellung hier aufgegeben. Ich weiß nicht, warum. Wir waren zu Beginn des Sommers so zufrieden mit ihr – sie machte einen fleißigen und gewissenhaften Eindruck. Nun ja, die Jugend von heute …« Sein Gesicht verriet während seiner Rede keine Regung. Kristján schaute zu Ólöf, die den Blick gesenkt hatte.

»Wie alt ist sie noch mal?«, fragte Kristján, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Fünfzehn«, sagte Ólöf leise.

»Fünfzehn«, wiederholte Kristján. »Und sie hat beschlossen, nach Reykjavík zurückzugehen, sagen Sie? Zu ihren Eltern?«

»Ja«, antwortete Óttar.

»Wann war das?«

»Am Freitag. Freitagmorgen. Ich habe natürlich Einspruch erhoben. Wir hatten eine Vereinbarung, dass sie den ganzen Sommer als Haushaltshilfe bei uns bleiben würde, aber es war nicht möglich, sie zur Vernunft zu bringen.«

Kristján sah wieder zu Ólöf. Sie saß regungslos da und fixierte ihre Hände.

»Wie ich bereits am Telefon erwähnte, hat sie in Reykjavík niemand gesehen oder von ihr gehört …« Kristján ließ die Worte in der Luft hängen, während er die Reaktionen des Paares beobachtete. Ólöf sah nicht auf, Óttars Miene blieb unbewegt.

»Vielleicht hätte ich es anders ausdrücken sollen: Haben Sie Lára am Freitag abreisen sehen?«

»Wir können den Anleger von hier aus nicht sehen«, antwortete Óttar. »Und es war ja wohl kaum meine Aufgabe, das Mädchen dorthin zu bringen. Wenn jemand gehen will, ist das seine eigene...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2023
Übersetzer Andreas Jäger
Sprache deutsch
Original-Titel REYKJAVÍK
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 1980er Jahre • 2023 • Bestsellerautor • Dunkel • eBooks • Frost • Insel • Island • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Nebel • Neuerscheinung • Premierministerin • Thriller
ISBN-10 3-641-30751-1 / 3641307511
ISBN-13 978-3-641-30751-6 / 9783641307516
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