NOVA (eBook)
286 Seiten
Verlag Antje Kunstmann
978-3-95614-574-2 (ISBN)
Fabio Bacà, 1972 in San Benedetto del Tronto geboren, lebt in Alba Adriatica. Er hat einige Jahre als Journalist gearbeitet, bevor er 2019 seinen hochgelobten Debütroman »Benevolenza Cosmica« (Adelphi) veröffentlichte. »Nova« wurde unter anderem für den wichtigsten italienischen Buchpreis, den Premio Strega, nominiert und ist Bacàs erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
Fabio Bacà, 1972 in San Benedetto del Tronto geboren, lebt in Alba Adriatica. Er hat einige Jahre als Journalist gearbeitet, bevor er 2019 seinen hochgelobten Debütroman »Benevolenza Cosmica« (Adelphi) veröffentlichte. »Nova« wurde unter anderem für den wichtigsten italienischen Buchpreis, den Premio Strega, nominiert und ist Bacàs erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
3
BARBARA GRIFF NACH DEM BADEMANTEL, der über dem Handtuchwärmer hing, und stieg aus der Dusche. Fred Feuerstein, der unter dem Waschbecken saß, blickte sie unverwandt an. Während Cochise ausschließlich Tommaso zu seinem Objekt spiritueller Fürsorge erwählt hatte, begleitete und tröstete Fred jeden. Als junger Hund hatte er so hektisch mit den Beinen gerudert, dass er auf dem Parkett ausrutschte. Es sah aus wie bei seinen namensgebenden Zeichentrick-Vorfahren, die ihre Autos per Beinarbeit vorwärtsbewegten. Erst mit den Jahren eignete er sich die vorsichtige Gangart einer Minderheitenspezies an, die den wechselhaften Launen psychotischer Mitbewohner ausgesetzt war.
Barbara stellte sich vor den Spiegel und schlug den Bademantel zurück. Seit einigen Tagen juckte die kleine Narbe am Bauch. Ein Kaiserschnitt, hatte sie vor Jahren gelesen, könne aufgrund des schlechten Gewissens, seinem Kind die immunologischen Vorteile der natürlichen Geburt vorenthalten zu haben, zu psychosomatischen Konflikten führen. Der Gynäkologe hatte bei ihr eine Placenta praevia diagnostiziert, eine klassische Geburt, so der eindringliche Rat, käme überhaupt nicht infrage. Manchmal malte sie sich daher aus, wie sie den Kleinen an diesem schicksalhaften Tag in die Arme nahm, anlegte, ihm, während der Schnitt unter dem Bauchnabel genäht wurde, sinnlose Worte zuflüsterte, schließlich die Arme ausstreckte und das faltige Gesichtchen, um es mit rettenden Bakterien zu überschwemmen, über Muschi und Damm rieb. Einmal hatte sie sich, im Bett, mit Davide darüber unterhalten, einige Monate nach Tommasos Geburt.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, griff sie ihn an. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Ich dachte, der Gynäkologe würde dir das erklären.«
»Wo er eine natürliche Geburt ausgeschlossen hat?«
»Schatz, mach dir keine Sorgen. Tommaso entwickelt auch so genug Antikörper.«
Sie presste den Finger auf die Lippen.
»Glaubst du, ein wenig Reiben nach der Geburt hätte dieselbe Wirkung gehabt?«
»Reiben?«
»An meiner Muschi.«
»Wie meinst du das?«
»Wie ich das meine? Was wäre passiert, wenn ich Tommaso genommen und zwischen meine Beine gehalten hätte?«
Davide kratzte sich an der Stirn.
»Tja, seine Lymphozyten hätten zweifellos davon profitiert«, antwortete er. »Aber du hast nicht an die Zeugen gedacht.«
»Zeugen?«
»Ärzte, Krankenschwestern. Stell dir mal die Schlagzeile im Tirreno am nächsten Morgen vor: ›Inzest und Blasphemie in privater Geburtsklinik‹.«
»Ach komm.«
»Natürlich. ›Studentin vollführt obszönes Ritual mit neugeborenem Sohn‹.
»Meinst du?«
Zwei Wochen später war Barbara mit zwei Kätzchen nach Hause gekommen. »Antikörper für den Kleinen«, hatte sie Ehemann und Hund erklärt.
Sie betrachtete ihre Schamhaare. Zeit für einen radikalen Schnitt? In nicht einmal einem Monat wurde sie vierzig, und sie hatte sich noch nie komplett rasiert. Davide würde das gefallen, aber er würde ihr seine üblichen deontologischen Zweifel entgegenhalten: Er würde angesichts der Schutzfunktion der Schamhaare niemals zulassen, dass seine Frau ihrer Intimgesundheit wegen seiner – höchst banalen – erotischen Fantasien schadete.
Vierzig, dachte Barbara. In weniger als einem Monat.
Gerade wollte sie sich tristen Gedanken hingeben, da bemerkte sie einen vagen Schatten im Spiegel.
War jemand im Garten?
Sie drehte sich abrupt um. Den Bademantel mit einer Hand zuhaltend, trat sie zum Fenster.
Ihr Blick schweifte prüfend über die linke Gartenseite.
Nichts.
Über die rechte.
Neben der Hecke stand jemand, mit dem Rücken zu ihr. Es sah aus, als suche er etwas.
Wie war er hereingekommen?
Barbara zog den Gürtel fest zu, verließ das Badezimmer, durchquerte das Wohnzimmer, öffnete die Tür und stand auf der Veranda. Auf dem schmiedeeisernen Tisch lag der alte Prince-Tennisschläger. Sie griff danach, ging ein paar Schritte, lehnte sich gegen die Hausecke und reckte Kopf und Oberkörper vor.
Zwischen den Glanzmispeln und dem blauen Mini Countryman stand noch immer jemand, mit dem Rücken zu ihr.
Ein Jugendlicher, der Kleidung nach zu urteilen. Kappe verkehrt herum auf dem Kopf, violettes Muscleshirt, knielange Hose, Sneakers. Über die Hecke gebeugt, zerteilte er das Blattwerk.
Barbara machte noch ein paar Schritte, zeigte sich.
»Hallo«, sagte sie. »Kann ich dir helfen?«
Der Junge richtete sich wie vom Blitz getroffen auf und drehte sich leicht verlegen, mit halb offenem Mund, um. Er war groß und kräftig, aber jünger, als er von hinten gewirkt hatte.
»Hast du etwas verloren?«, fragte Barbara.
Er schluckte ein paar Mal, hob eine Hand und richtete die Kappe. Zu beiden Seiten des Schirms quollen blonde Haarbüschel hervor. FREMANTLE FOOTBALL CLUB stand auf dem Shirt.
Barbara nahm den Tennisschläger über die Schulter.
»Also?«
Der Junge zeigte mit dem Daumen auf die Glanzmispeln.
»Mein Bumerang«, sagte er. »Der ist da reingefallen.«
Barbara blickte auf das rötliche Gewirr aus Zweigen und Blättern und fragte sich erneut, wie der Junge hereingekommen war. War er über das Tor geklettert? Hatte er dem Heckenschlund ein paar Hautzentimeter geopfert? Kam man so einfach in ihren Garten? Vielleicht sollten sie die Taxonomie der Tiere im Hause Ricci um einen kampflustigen, revierbewussten Hund erweitern.
»Soll ich dir suchen helfen?«, fragte sie.
Der Junge nickte.
Barbara trat näher, der Tennisschläger baumelte in ihrer Rechten. Ihr Haus lag in dem ruhigen Viertel einer verschlafenen Provinzstadt, aber man konnte nie wissen. Sie beugte sich über die Hecke und durchsuchte sie mit gebührendem Sicherheitsabstand.
»Wo ist er denn hingefallen?«, fragte sie, während sie weiter zwischen den Glanzmispeln stöberte, den Jungen wiederholt misstrauisch beäugend. Winzige Pickel blühten auf Stirn und Wangen. Insgesamt wirkte er harmlos, der Tennisschläger war als Abschreckungswaffe wohl unverhältnismäßig. Darum spreizte sie nun, um seinen einschüchternden Zweck zumindest ein wenig zu kaschieren, die Zweige damit auseinander. Doch dann fiel ihr ein, dass der Junge sie gesehen haben musste, als sie nackt vorm Spiegel stand.
»Ich bin Tommasos Mutter«, sagte sie, ohne bestimmte Absicht. Oder vielmehr, um auf meldebehördlicher Kluft und Mutterschaft die Pfeiler ihrer sexuellen Nichtverfügbarkeit zu errichten. Doch eine Sekunde später erinnerte sie sich, dass das M in dem bekannten Akronym MILF ausgerechnet für Mother stand, und verabschiedete sich leicht wehmütig von diesem Bollwerk.
Außerdem war klar, dass eigentlich gar nichts in der Hecke war.
Wie lange würde der Junge noch brauchen, um eine würdige Rückzugsstrategie vorzubringen, fragte sie sich und griff den Tennisschläger ein wenig fester. Doch ganz gleich, wie unglaubwürdig oder demonstrativ ungehörig seine Entschuldigung ausfallen würde, im Grunde wusste sie eine fantasievolle Ausrede wie einen Bumerang durchaus zu schätzen.
»Tommaso?«, fragte der Junge.
»Ja, das ist mein Sohn. Kennst du ihn?«
»Nein. Ich kenne hier keinen. Ich bin erst seit einer Woche hier.«
»Ach ja, wo kommst du denn her?«
»Aus Australien.«
»Echt? Und wo wohnst du jetzt?«
Der Junge hob den Kopf, zog den Arm aus der Hecke und zeigte auf ein niedriges Haus auf der anderen Straßenseite.
»Dort«, sagte er. »Im ersten Stock. Darunter ist der Club von meinem Vater, das Labyrinth.«
Barbara beugte sich tiefer über die Hecke und schloss die Augen.
Scheiße, dachte sie, während sie so tat, als würde sie nach dem Fantasie-Bumerang suchen.
Der Lenci-Sohn. Ausgerechnet. Sein Vater hatte sie in den letzten zwölf Monaten vier Tage die Woche um den nächtlichen Schlaf gebracht und versuchte jetzt, sie mit anwaltlichen Drohbriefen einzuschüchtern.
»Und wie heißt du?«, murmelte sie.
»Giovanni.«
Am liebsten hätte sie bis tief in die Nacht in dieser Position verharrt, aber sie atmete tief durch, öffnete die Augen und wollte sich schon aufrichten, als sie den Bumerang sah.
Er war viel kleiner als gedacht, und mit seiner Farbe zwischen den Glanzmispelblättern und –zweigen perfekt getarnt. Sie griff danach, zog ihn heraus und reichte ihn dem Jungen.
»Hier ist er«, sagte sie.
»Oh«, antwortete er, mit einem Anflug von...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2023 |
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Übersetzer | Christine Ammann |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltagsgewalt • Angst • Gewalt • Italien • Lucca • Mittelschicht • Nachbarschaftsstreit • Neue Männlichkeit • Neurochirurg • Toskana |
ISBN-10 | 3-95614-574-7 / 3956145747 |
ISBN-13 | 978-3-95614-574-2 / 9783956145742 |
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