Lorenz (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60557-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lorenz -  Ilona Jerger
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Die einfühlsam erzählte Geschichte eines spannungsreichen Lebens: Konrad Lorenz begründete die Tierpsychologie, wurde als Verhaltensforscher berühmt und erhielt 1973 den Nobelpreis. Die Kontinuität seiner biologistischen Auffassungen trug ihm heftige Kritik ein. Ilona Jerger erfindet eine Erzählerin, die mit seinen Büchern aufgewachsen ist und Biologin wurde. Sie vertieft sich in sein Leben und Werk. Je mehr sie erfährt, desto größer wird ihre Faszination - und desto zahlreicher werden die Fragen. Sie erzählt ein Leben, in dem es um die Liebe zu den Tieren geht, von der Graugans Martina bis zu den Bibern. Um die Frage, wie der Krieg in die Welt kam und was ihn begründet. Und um Familie und Karriere und das Überleben, sowohl der Arten als auch der Menschheit. Ein großer Zeitroman, in dem die Errungenschaften und Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen. Spannungsvoll, anrührend und lehrreich - ein fesselnder Roman! »Ilona Jerger bewältigt nicht nur viel Ideengeschichte der beiden großen Denker des 19. Jahrhunderts, ihr Roman ist nebenbei auch kühn und souverän geschrieben - und gut zu lesen.« NDR Kultur über den Bestseller »Und Marx stand still in Darwins Garten«

Ilona Jerger ist am Bodensee aufgewachsen und studierte Germanistik und Politologie in Freiburg. Von 2001 bis 2011 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift natur in München. Seither arbeitet sie als freie Journalistin. Als Sachbuchautorin hat sie bei C.H. Beck und Rowohlt veröffentlicht. Ihr erster Roman »Und Marx stand still in Darwins Garten« erschien 2017 bei Ullstein und wurde ein internationaler Bestseller.

Ilona Jerger ist am Bodensee aufgewachsen und studierte Germanistik und Politologie in Freiburg. Von 2001 bis 2011 war sie Chefredakteurin der Zeitschrift "natur" in München. Seither arbeitet sie als freie Journalistin. Als Sachbuchautorin hat sie bei C.H. Beck und Rowohlt veröffentlicht. Ihr erster Roman »Und Marx stand still in Darwins Garten« erschien 2017 bei Ullstein und wurde ein internationaler Bestseller.

Das Myom


In einem Schuppen am Rand von Milwaukee stinkt es nach verdampftem Metall. Rohre, Eisenscheiben, Schraubenschlüssel und Schweißgerät liegen verstreut am Boden. Bevor Mr. Davidson am späten Nachmittag wie angekündigt eintreffen wird, muss der Arbeiter noch aufräumen. Er flucht, weil die Batterie baumelt. Mit ölverschmierten Fingern zieht er die Lederriemen straffer, für die Jungfernfahrt muss es reichen. In den nächsten Tagen wird er eine stabilere Halterung an die Querstange bauen, die Mr. Harley schon vor einigen Wochen auf Millimeterpapier gezeichnet hat. Aus einem schwarzen Kästchen ragt ein Teil des Zylinders. Man ahnt das Geknatter. Leitungen und Kabel verlaufen dahin und dorthin, der Laie erkennt nicht, wozu. Doch es wird fahren. Hustend. Stotternd. Man kann bremsen. Kuppeln kann man nicht. Was da rollen wird, ist ein aufgeplustertes Fahrrad, das etwas grobmotorisch andeutet, bald mehr zu können, als es schon kann.

Ein paar Jahre später wird sich Konrad nicht nur in Vögel verlieben, sondern in Maschinen, die auch ihm Flügel verleihen. Zumindest wenn er über eine Schanze oder einen Hügel fährt und abhebt. Doch im heißen Frühsommer 1903 ist der Kumpan der Gänse und Dohlen noch im Bauch der Mutter, die ihn bis zu diesem Tag für ein Myom gehalten hat.

Nicht nur in Milwaukee sind Ingenieure, technische Zeichner und Firmengründer dabei, Zweiräder mit Zylindern und Ventilen zu konstruieren und deren Vorfahr, das Fahrrad, zu übertrumpfen. Auch Motorräder haben ihre Stammesgeschichte und entwickeln sich zu höheren Wesen. Bald werden ganze Kompanien auf staubigen Straßen durch feindliches Land knattern, werden in Schlammlöchern stecken bleiben oder im russischen Schnee. Zwei Weltkriege lang. Mit so einem Kraftrad wird sich Konrad in die Kurven legen und den Kiefer brechen. Doch zunächst ist ein österreichischer Embryo dabei, zu einem Lorenz zu werden. Und ein Tretrad zu einer Harley-Davidson.

 

Von beiden weiß Professor Adolf Lorenz in diesem Moment nichts. Er schraubt in einer Villa in Chicago Ledergurte an einer Gipsschale fest, deren Sitz um die Hüften von Baby Joan er gerade korrigiert hat. Auch die Medizin eilt ihrer technisierten Zukunft entgegen.

Von einer höheren Warte aus betrachtet ist es dem k. u. k. Hofrat ein Dorn im Auge, diesen »Krüppeln« zu helfen. Denn krumm und hinkend würden Menschen wie Joan, die mit sogenannter Hüftluxation zur Welt gekommen sind, im Erwachsenenalter keinen Sexualpartner finden. Nach seinem beherzten Eingriff jedoch schon – und so werden Behinderte dank seiner revolutionären Methode ihre mangelhaften Gene weitergeben. Lorenz, dem alten Darwinisten, schlägt das auf den Magen.

Jahrelang hat er sein Verfahren eingeübt, korrigiert und verfeinert. Vor allem nachts und laut fluchend. Mit Knochen, die er der Leiche eines Kindes entnommen hatte, das mit ebendiesen schiefen Hüften zur Welt gekommen war. Nie hat er vergessen, wie er Oberschenkel- und Beckenknochen samt Hüftgelenkspfannen durch die Schwingtüren der Pathologie in der Wiener Universitätsklinik bugsiert hatte, um sie nach Hause zu tragen. Die mit Formalin geschwängerte Luft biss ihm noch auf dem Heimweg in den Augen.

Adolf Lorenz wusste, dass dieses angeborene Hüftleiden seine große Chance sein würde. Es musste sich eine unblutige Technik finden lassen – und er wollte der Erste sein, der diese Kranken heilen kann. Ohne das Gelenk zu öffnen, vor allem um die Gefahren einer Sepsis zu umgehen.

Nach dem Tod eines von ihm operierten Mädchens probierte er wie besessen und mit Schweißperlen auf der Stirn Verrenkungen des Hüftkopfes in der Pfanne. Er suchte nach Lösungen, die gespreizten Oberschenkelknochen mit Gipskorsagen festzuhalten. Gut Ding will Weile haben, sagte seine Frau Emma Nacht für Nacht und wartete auf ihn.

Es hat funktioniert. Seit Ende der 1890er-Jahre fährt Lorenz von Kongress zu Kongress, einen Tross geheilter Kinder im Schlepptau, die vor staunenden Ärzten auf und ab gehen und die funktionierenden Kugelgelenke in ihren Hüften präsentieren. Auffallend viele hübsche Mädchen sind darunter. Auch Baby Joan aus Chicago hat dieses engelsgleiche Gesichtchen. Was denkt sich die Natur dabei, Anmut mit Hüftverrenkung zu kombinieren?, fragt der Fleischfabrikant, als er der Eingipsung im Wohnzimmer seiner Villa beiwohnt und dem Töchterchen die Hand hält. Lorenz zuckt mit den Schultern, die Natur denke nicht, alles sei Zufall. Alles Darwin.

Adolf Lorenz fixiert nicht nur Hüften, sondern behandelt auch andere Fehler am menschlichen Gestell. Er lässt immer neue Apparaturen bauen, um alles gerade zu biegen, was krumm ist. Wirbelsäulen, Schiefhälse, O-Beine, Klumpfüße, alles Verdrehte wird eingespannt und mit Lederriemen und Schrauben samt Gewichten gedehnt.

In den Jahren, als die geheilten Lorenz-Kinder in den Lehrsälen großer Universitäten auf und ab gingen, war die DNS noch nicht entdeckt. Heute wissen wir, dass sie zwei Meter lang ist und in jeden winzigen Zellkern passt. Doch verstehen wir nun besser, wie die natürliche Selektion funktioniert? Ein Begriff, der uns leicht über die Lippen kommt. Unentwegt findet eine Auswahl statt, ohne dass da jemand wäre, der wählt. Schon der Blick auf ein Graugansküken offenbart das Dilemma: Wie bricht das Vögelchen im Ei die Schale auf? Darwin meinte, mit einem »diesem Zweck angepassten Schnabel«. Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz? Kann das Ergebnis der Entwicklung durch seinen Zweck hervorgebracht werden? Und das durch Millionen von Zufällen? Da kann einem schon mal schwindelig werden. Vor allem, wenn wir uns die gesamte Wegstrecke vorstellen, bis sich ein Bakterium aus der Ursuppe über Jahrmillionen zur Graugans gemausert hat. Von Kopierfehler zu Kopierfehler zu Anser anser, diesem herrlichen Vogel mit den silbergrauen Schwingen, auf dem Nils Holgersson reist und der zum Wappentier von Konrad Lorenz werden wird.

Die Entwicklung von Anser anser oder Homo sapiens verlief keineswegs geradlinig. Der Stammbaum des Lebens ist eher ein verwirrend riesiger Busch mit Millionen von dürren Ästen und Zweigen, die längst wieder abgebrochen sind.

 

Ich schweife kurz ab und möchte auf ein Projekt hinweisen, das mich selbst immer wieder von der Arbeit abhält. Ich bin süchtig danach, im Netz den Baum des Lebens anzuklicken. Dann zoome ich hinein ins Geäst, suche die Graugans oder
die Dohle oder den Donau-Kammmolch und verliere mich in deren Verwandtschaftsverhältnissen. Es ist eine Art Google Earth der Biologie. Die Adresse lautet: onezoom.org.

 

Doch zurück zur Familie Lorenz.

Es ist das Jahr 1903, und im niederösterreichischen Altenberg geht Emma Lorenz’ Vater, ein kauziger Alter, mit einer Hyäne an der Donau spazieren, während der Hausmeister den Schraubenzieher aus der Hand legt und mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge prüft, ob das prächtige Messingschild mit dem Namen Professor Doktor Adolf Lorenz, das er gerade neben dem Eingangsportal festgeschraubt hat, auch wirklich im Lot ist. Es scheint ihm etwas rechtslastig, was an der Maserung des teuren Steins liegen könnte. Er will erst einmal abwarten, wie die verehrte Frau Hofrat darauf reagiert. Vorhin würdigte sie das Schild keines Blickes, als sie den Kiesweg heraufeilte, die zwei Stufen nahm, und sich dabei den Seidenschal vom Hals riss.

Emma Lorenz hat sich am frühen Morgen die zwanzig Kilometer nach Wien hinunterfahren lassen, um den berühmtesten Frauenarzt von ganz Österreich zu konsultieren, der bereits Kindern des Kaisers auf die Welt geholfen hatte. Nun liegt sie auf dem Bett in ihrem Zimmer, die Hände auf dem Bauch. Von der Landstraße durchgerüttelt und der Nachricht überrumpelt, dass sie in anderen Umständen ist, findet sie keine Ruhe. Ob die Schwangerschaft gut gehen wird? Achtzehn Jahre sind seit der Geburt des ersten Kindes vergangen. Schon sehr lange hatten Adolf und sie die Hoffnung aufgegeben, noch ein zweites zu bekommen. Der Erstgeborene leistet gerade seinen Militärdienst ab.

Die Fenster zum Park stehen offen, und ein leichter Wind streicht Emma übers Gesicht. Ihr Vater wird sagen, dass diese warme Luft den Österreichern Grüße aus Venedig und Triest überbringt. Immerhin seien sie einmal österreichisch gewesen. Um dann anzufügen: »Sünd und schad um unsere Städte.« Diese Sätze gehören zu dem alten Mann wie die Spaziergänge ...

Erscheint lt. Verlag 2.11.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-492-60557-5 / 3492605575
ISBN-13 978-3-492-60557-1 / 9783492605571
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