Experte in Sachen Mord (eBook)

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
480 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9637-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Experte in Sachen Mord -  Nicola Upson
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Ein Mord, der das flirrende Theatermilieu des Londoner West Ends gewaltig aufwirbelt. Im Auge des Orkans: die gefeierte Autorin Josephine Tey. Gemeinsam mit ihrem alten Freund Detective Archie Penrose muss sie sich der Frage stellen: Inwiefern steht die Tat mit Josephines erfolgreichem Theaterstück in Verbindung?

Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mehrbändigen Krimireihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimiautorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall.

2


Detective Inspector Archie Penrose konnte sich nicht in der Gegend um King’s Cross aufhalten, ohne von Schwermut übermannt zu werden. Für ihn war der Norden Londons der abstoßendste und, obwohl sich die Straßen hier verbreiterten, klaustrophobischste Teil der Stadt. Er fuhr eine wenig reizvolle Durchgangsstraße hinunter, deren triste Häuser vermutlich noch nie renoviert oder auch nur gereinigt worden waren, und passierte anschließend die schäbige Ansammlung von Gebäuden, die die Euston Station bildeten. Dann kam King’s Cross, dessen Fassade – zwei große Bögen, die einen Uhrenturm aus hässlichem gelbem, im Laufe der Jahre schwärzlich verfärbtem Backstein umrahmten – ihn eher an den Eingang eines Zuchthauses erinnerte als an einen Bahnhof, das Eintrittstor zur Hauptstadt. Für einen Mann, der auf dem Weg zu einer Mordermittlung war, war diese Assoziation ganz sicher nicht hilfreich.

Am Zugang zu Bahnsteig acht hatte sich eine beachtliche Menschenmenge versammelt, die ihm die Sicht auf den Zug versperrte, in dem vor weniger als einer Stunde von einem jungen Eisenbahnmitarbeiter die Leiche der jungen Frau gefunden worden war. Laut Sergeant Fallowfield, der den Tatort als Erster erreicht hatte, stand der junge Mann unter Schock. Das erklärte er Penrose, nachdem er sich mit wenig Verständnis für deren Schaulust seinen Weg durch die Zaungäste gebahnt hatte.

»Man sollte meinen, die Leute hätten an einem Freitagabend Besseres zu tun. Verdammte Aasgeier, alle miteinander!«

Diese Bemerkung sah dem Sergeant überhaupt nicht ähnlich, der für gewöhnlich mit großem Optimismus auf die menschliche Natur blickte, obwohl ihn seine jahrelange Erfahrung als Polizeibeamter etwas anderes gelehrt hatte. Was auch immer er dort im Zug gesehen hatte, es ging ihm sichtlich an die Nieren. »Armes Kind, sie kann nicht älter als zwanzig gewesen sein«, sagte Fallowfield, als hätte er Penrose’ Gedanken erraten. »Sie hatte kaum Gelegenheit, ihr Leben richtig zu beginnen, geschweige denn, es zu genießen.«

»Wissen wir schon, wer sie war?«, fragte Penrose.

»Wenn wir davon ausgehen, dass die Reisetasche im Abteil ihr gehörte, hieß sie Elspeth Simmons und stammte aus Berwick-upon-Tweed – zumindest ist sie dort in den Zug gestiegen. Die Rückfahrkarte hatte sie auch schon. Ein widerwärtiger Mord, Sir, so bösartig, wie ich es kaum je erlebt habe. Ich denke, wir haben es mit einer kranken Persönlichkeit zu tun.«

Als er sah, was ihn in dem abgeriegelten Abteil erwartete, konnte ihm Penrose nur zustimmen. Die tote junge Frau saß auf dem mittleren der drei rechten Sitze des Abteils – oder schien vielmehr dort platziert worden zu sein –, und unterhalb ihres Brustbeins ragte eine verschnörkelte Hutnadel aus ihrem Kleid. Ihre Hände waren aneinandergelegt, als würde sie – welch Hohn – dem Schauspiel applaudieren, das jemand für sie auf den gegenüberliegenden Sitzen inszeniert hatte. Dort standen sich zwei Puppen gegenüber – eine männliche und eine weibliche –, als handelte es sich um Schauspieler auf einer Bühne. Sie umarmten sich mit halb einander zugewandten Körpern, und Penrose fiel auf, dass die linke Hand der weiblichen Puppe – die Hand mit dem Ehering – abgerissen war und vor dem Paar lag wie eine unheimliche Requisite aus einem Gruselfilm. In der Nähe der Puppen befand sich eine handgeschriebene Notiz auf teuer aussehendem Papier. »Lilien sind eleganter«, stand darauf, und auf dem Boden lag tatsächlich eine Blume, eine Schwertlilie.

Penrose war sofort klar, dass dies kein zufälliger oder spontaner Mord war, sondern eine genau durchdachte und vermutlich höchst persönliche Gewalttat. Jeder Gegenstand, den der Täter – oder die Täterin – an der Leiche oder um sie herum platziert hatte, schien eine Botschaft zu vermitteln. Und doch glaubte Penrose keine Sekunde, dass er oder sie damit bezweckte, sich leichter identifizierbar zu machen. Es handelte sich um ein Verbrechen, das eine enorme Kaltblütigkeit erforderte, so viel stand fest.

»Waren die Rollos oben oder unten, als sie gefunden wurde?«, fragte er.

»Beide unten, Sir. Der junge Eisenbahnmitarbeiter hat erzählt, er hätte eins nach Betreten des Abteils geöffnet, um besser sehen zu können.«

Es musste einige Minuten gedauert haben, nach dem Tod der jungen Frau die Puppen, die Nachricht und die Blume zu arrangieren, dachte Penrose, was ein größeres Risiko bedeutet hatte, als es die meisten Menschen ertragen hätten. Aber genau das war der springende Punkt: Bei einer symbolhaften Tat wie dieser hatten sie es nicht mit den Ängsten und Zweifeln einer normalen Person zu tun, sondern mit der Arroganz und dem Gefühl von Unverwundbarkeit, die das Böse stets begleiteten.

»Wurde sie genauso gefunden, wie sie jetzt dasitzt?«

»Ja. Sagt zumindest der junge Mann, Thomas Forrester ist sein Name. Er hat den Schreck seines Lebens davongetragen. Maybrick hat den Wartesaal räumen lassen und ihn mit einer Tasse Tee dorthin gebracht. Armer Kerl. In seinem Alter wäre ich auch nicht gern nichts ahnend über so eine Gräueltat gestolpert. Allein die Puppen hätten jedem einen Schauer über den Rücken gejagt – und dann musste er auch noch die Leiche finden.«

Penrose drehte sich zu den Puppen um. Sie waren etwa dreißig Zentimeter groß und aufwendig mit fransenbesetzten Umhängen und altmodischen Kopfbedeckungen gekleidet. Fasziniert trat er ein wenig näher an sie heran, betrachtete die fein gearbeiteten Gesichter, die an diesem Ort des Todes auf makabre Weise lebendig wirkten. »Das sind nicht einfach nur irgendwelche Puppen, Bill. Ich frage mich, ob sie der jungen Frau gehörten, oder ob der Mörder sie mitgebracht hat. Das sind Souvenirs, die man im Theater kaufen kann, sie gehören zu einem historischen Stück, das gerade im West End läuft: Richard von Bordeaux. Darin geht es um Richard II. Die Puppen wurden nach dem Vorbild der Hauptdarsteller gefertigt. Und auf diesem Blatt Papier«, fuhr er fort und zeigte auf den Zettel auf dem Sitz, »steht ein Zitat aus dem Stück: ›Lilien sind eleganter.‹ Ich glaube, das sagt Königin Anne irgendwann.«

Fallowfield hatte noch nie von dem Stück gehört, aber es überraschte ihn nicht, dass sein Vorgesetzter alles darüber wusste. Neben der Polizeiarbeit war das Theater Penrose’ große Leidenschaft, und er wusste nicht nur außergewöhnlich gut über das Thema Bescheid, sondern hatte auch einige Freunde und Verwandte, die in der Branche arbeiteten. »Ich dachte, die Notiz wäre eine seltsame Art von Liebesbrief«, sagte Fallowfield.

»Ist sie vermutlich auch«, antwortete Penrose. »Die Frage ist nur: Von wem stammt sie? Und wie wird der Absender reagieren, wenn wir ihm die Nachricht übermitteln, dass Miss Simmons tot ist?«

»Sie meinen, er weiß vielleicht längst davon?«, beendete Fallowfield seinen Gedankengang. »Wäre das nicht ein bisschen zu offensichtlich, Sir? Ich meine, es lässt sich sicher leicht herausfinden, ob es jemanden gab, der ihr den Hof machte. Wenn es wirklich ihr Verehrer war, der sie umgebracht hat, hätte er genauso gut gleich seine Adresse am Tatort zurücklassen können. Das hätte uns ein wenig Zeit erspart.«

»Da könnten Sie recht haben. Allerdings wird es wohl nicht so einfach, wie Sie es darstellen. Zunächst einmal haben wir keine Garantie, dass es sich wirklich um einen Liebesbrief handelt. Den anderen Gegenständen nach zu urteilen, die hier aus einem bestimmten Grund drapiert wurden, gibt es eine weit tiefere Bedeutung als nur eine schiefgelaufene Romanze. Apropos: Finden Sie nicht, dass die Hutnadel als Tatwaffe eine seltsame Wahl ist? Kein besonders maskuliner Mord. Wenn es ein Agatha-Christie-Roman wäre, hätte er fünfzehn leicht zu lesende Kapitel und würde Mord im Highland-Express heißen.«

»Vielleicht sind also alle die Mörder, Sir. Im Übrigen sind es nur neun Kapitel«, korrigierte ihn Fallowfield und ließ damit eine Kenntnis der aktuellen Kriminalliteratur erkennen, die Penrose immer wieder überraschte. Er sah seinen bodenständigen Sergeant vor sich, wie er jeden Abend von Scotland Yard nach Hause eilte, um am Kamin den neuesten Krimi zu verschlingen – oder besser noch, selbst einen zu verfassen! Der Gedanke, dass sich Miss Dorothy L. Sayers als mittelalter, korpulenter Gesetzeshüter mit Schnurrbart herausstellen könnte, war zu lustig. Er nahm sich vor, Josephine davon zu erzählen, wenn er sie morgen Abend traf.

Allerdings würde er sie nun früher sehen müssen als geplant, und es würde kein vergnügliches Treffen werden. Aus irgendeinem Grund stand der Mord an dieser jungen Frau mit Josephines Stück in Verbindung, und auch wenn sich dieser Grund als völlig harmlos herausstellen sollte, konnte er ihr diesen Umstand nicht vorenthalten. Zumal sie das auch gar nicht gewollt hätte. Er hätte ihr die Sache gern ein wenig erleichtert, indem er ihr eine schnelle, saubere Aufklärung in Aussicht stellte, wie die, mit der sie ihren ersten Kriminalroman beendet hatte, doch er konnte ihre Intelligenz nicht auf diese Weise beleidigen. Damit hätte sie ihn auf keinen Fall davonkommen lassen. Er konnte sich noch so sehr nach dem Glück sehnen, das seinem fiktiven Pendant Inspector Alan Grant bei seinem ersten literarischen Auftritt hold gewesen war, aber Josephine und er wussten beide, dass die Realität anders aussah. Im echten Leben hatte der Tod Chaos und Leid im Gepäck und sorgte für Brüche und Gräuel, die sich nicht auf die Seiten eines Romans bannen ließen.

Peinlich berührt bemerkte er, dass Fallowfield nicht bei Agatha Christie verharrt, sondern das Gespräch...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2023
Reihe/Serie Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Josephine Tey und Archie Penrose ermitteln
Übersetzer Verena Kilchling
Sprache deutsch
Original-Titel An Expert in Murder
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Krimi / Thriller / Horror Historische Kriminalromane
Schlagworte 20. Jahrhundert • 30er-Jahre • Archie Penrose • Britischer Krimi • Cozy Crime • Cozy-Krimi • England • Großbritannien • historischer Krimi • Josephine Tey • Kriminalroman • London • london west end • Missgunst • Mord • Neid • Theater • Theatermilieu
ISBN-10 3-0369-9637-0 / 3036996370
ISBN-13 978-3-0369-9637-0 / 9783036996370
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